Behutsame Nahaufnahmen

Voller Sympathie berichtet Siegfried Lenz in „Die Erzählungen“ von Lebenswegen und Lebensarten

Von Thorsten PaprotnyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Paprotny

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bereits ein Jahr nach dem Tod von Siegfried Lenz wurden die gesammelten Erzählungen in dieser zweibändigen Ausgabe publiziert. Kleinere Hörspiele mit eher dialogischem Charakter als dramatischem Zuschnitt sind auch enthalten. Die Prosastücke erschienen von 1948 bis 2011 in Zeitungen und Zeitschriften, in Einzelausgaben und Sammelbänden. Auf gewisse Weise nimmt der Leser hinsichtlich des Seitenumfangs eine monumentale Ausgabe in die Hand. So vermag er das ganze Panorama der Erzählungen aufmerksam zu lesen oder – die Metapher scheint bei diesem ins Meer dezent verliebten Autor zulässig zu sein – in die literarische Weite dieser Geschichten einzutauchen und sich lesend, schauend und staunend treiben zu lassen.

Lenz erzählt von Heimat und definiert nicht, was das sein könnte. Er beschreibt, statt zu erklären, ohne jede Sentimentalität. Er erzählt humorvoll, tritt aber nicht als launiger Humorist auf. Manchmal scheint es, als wollte er am liebsten inmitten der vorgestellten Personen verschwinden oder mitten unter ihnen sein. Der Erzähler lässt seine Charaktere mitunter versonnen und bedächtig spielen – aber Lenz spielt nicht mit ihnen, er führt sie nicht vor, er lässt sie einfach sein und damit auch frei. Die Zeitumstände sind eingezeichnet in die Geschichten, die bitteren Erfahrungen im Krieg und unter dem NS-Regime, die frühen Jahre der Bundesrepublik, die Wehmut, die nie aufdringlich erscheint, sich aber auch nicht abweisen lässt, wenn er sich an Masuren erinnert. Sein Band So zärtlich war Suleyken wurde 1955 viel gelesen und viel gelobt. Lenz fand sein Publikum; die Menschenfreundlichkeit, von der er – wie der Titel treffend sagt – auf eine zärtliche, behutsame Art berichtet, trug ihm Sympathien ein, zuweilen, besonders unter Intellektuellen, auch Unverständnis. Der Autor fühlte sich am Meer zu Hause und auch am Schreibtisch. Er mochte Menschen, war ihnen zugetan, und mochte es nicht, sie nicht mögen zu dürfen. Ihm fehlten Zynismus, Gehässigkeit und Spottlust, zuweilen wurde er deswegen wahrscheinlich als harmlos abgetan, als eine Art mittelmäßiger Volksschriftsteller auch belächelt. Marcel Reich-Ranicki indessen erkannte seine Qualitäten und lobte ihn ausnehmend.

Der Hanseat Lenz war weder distanzlos noch aufdringlich. Er bedrängte niemanden, auch nicht den Leser, weder mit politischen Meinungen noch mit Weltweisheiten. Er schrieb manchmal geradezu schüchtern, scheu und demütig, liebevoll – beispielhaft hierfür ist etwa die 1953 erstmals veröffentlichte Erzählung Lotte soll nicht sterben. In ihr erzählt Lenz von einem neunjährigen Jungen namens Rudi, der in einem „verlorenen Dorf“ lebte, in dem jeder, der dort zu Hause war, auch „verlorengehen konnte“. Der Junge hat eine große Schwäche, eine Leidenschaft, denn er liebt einen alten Grauschimmel. Das Pferd heißt Lotte. Als er erfährt, dass Lotte, seine Lotte, sterben soll, gnadenhalber, erfasst ihn eine „wilde Angst“. Mit wenigen Worten sagt Lenz alles Nötige. Rudi bricht mit Lotte auf, möchte, dass sie weiterlebt, möchte nichts lieber als das. Er hofft so sehr, dass er mit Lotte zum Großvater nach Johannisburg gehen und dass sie dort bleiben könnte. In der Nähe der Stadt übernachten Rudi und Lotte: „Er legte sich unter die Wacholdersträucher und beobachtete das alte Pferd; es stand gegen den Abendhimmel, groß, still und als ob es nachsänne, und plötzlich brach es in den Vorderfüßen ein, es knickte fast lautlos zusammen und lag nun dicht neben ihm, so daß er die Wärme und den Geruch des Tieres aus größter Nähe wahrnahm. Und so schlief er ein.“ Die Nacht bleibt ruhig. Am nächsten Morgen ist das Pferd tot. Rudi will es nicht wahrhaben. Als er nach Hause zurückkehrt, sagt er traurig, Lotte sei tot, aber sein Vater meint, sie warte zu Hause im Stall auf ihn. Lotte sei „nur etwas jünger geworden“. Rudi geht ungläubig in den Stall, sieht einen „schönen, jungen Grauschimmel“, und er war, staunend, „betäubt vor Freude“:

Er lehnte sich an die Wand und flüsterte: Lotte?, und da wandte das Pferd den Kopf. Und es hatte stille, dunkle, ein wenig traurige Augen. Rudi näherte sich ihm langsam und liebkoste es, noch ein wenig ungläubig, und während er es liebkoste, ging sein Vater ins Haus und sagte: Ich bin froh, Mutter, daß ich das Pferd gekauft habe. Es sieht wirklich so aus wie Lotte, und ich glaube, die beiden sind schon gut Freund.

Lenz erzählte auch Hoffnungsgeschichten, berührend, nicht betulich. Sein feiner Humor wird sichtbar, wenn er von einem Schwarzhändler berichtet. Er ist tüchtig und aufmerksam, erzählt von beiläufigen Begegnungen mit einer Dame von „zerschlissener Eleganz“ und sorgt sich um den „Sinn für erhabene Unnützlichkeit“. Auch möchte der Schwarzhändler nicht unsensibel werden, politisch gesagt – weil er kein überzeugter Kapitalist sein mag, bemüht er sich darum, „daß mein Markt keineswegs nur profanen Zielen diente, daß er sich nicht darin erschöpfte, eine Arena des primitiven Materialismus zu sein“. Auch das gehört zur hanseatischen Lebensart: „Hamburger sind Leute, die sich selbst für Hamburger halten.“ Von einer jungen Frau im Vorübergehen berichtet Lenz, sie sei – wie alle Hamburgerinnen – „langbeiniger, als es die Kritiker in London und Paris wahrhaben wollen“. Ihr Vater sei „liebenswürdig gegen jedermann, solange die Überweisungen pünktlich erfolgen“, und sie sei „liebenswürdig gegen jedermann, der an der Haustür bereitwillig umkehrt“. Lenz meint zudem, vielleicht versonnen lächelnd, dass sich alle Beobachter die Hamburger auch „listig“ zurechtträumen könnten. Hamburg ordne den Blick auf die Welt, durch die „schöne Reserve“ und „merkantilen Biedersinn“, durch „blonde Korrektheit“ und eine „flügellose Vernunft“:

Hamburg ist eine wirkliche Stadt mit wirklichen Leuten, die sich überwiegend rollengerecht verhalten; auf die Besetzungsliste ist hier Verlaß. Hier hätte Raskolnikoff nie nach philosophischen Gründen für einen Mord gesucht, Josef K. hätte sich in dieser Stadt geweigert, ein namenloses Tribunal anzuerkennen, und Don Quichotte hätte die Mühlen nicht in phantastischer Verkennung attackiert, sondern sie für seine Rechnung Fischmehl mahlen lassen.

Manche Straße sei von „erklärter Diesseitigkeit“. Metaphysisch und religiös denkt Lenz nie. Oder doch? Er gewährt auch der Hoffnung Raum, die über diese Welt hinausreichen könnte, zumindest als nicht auszuschließende Möglichkeit. Verfasste er 1950 doch die sehr kurze Ballade in Prosa, genannt Eine Sekunde der Welt. Der junge Autor ordnet Augenblicksimpressionen, Lebensmomente, der Blick weitet sich – und auf knapp einer Seite, eben eine Sekunde lang, streift er von Moment zu Moment. So „schliefen die Mönche des Kartäuser-Klosters in N. alle traumlos, nachdem sie ihre Gebete verrichtet hatten, und der Mond fühlte sich im Klostergarten einsam aus vielen Gründen“. In diesem einen kostbaren Augenblick „verrechnete sich ein Buchhalter in Lissabon zum zweiten Male; stöhnte eine Griechin unter dem ersten Kuß“. Inmitten der Endlichkeit bleibt der Gedanke an den folgenden Tag, überall in der Welt. Lenz schreibt: „In dem Augenblick, da all dies geschah, dieses, das nicht einmal ein Tausendstel von dem ist, was in diesem Augenblick wirklich geschah, in diesem Augenblick also: war Gott zufrieden.“

Diese beiden Bände laden ein, den Reichtum und auch die leise Schönheit der Erzählungen von Siegfried Lenz neu oder wieder zu entdecken. Begriffe wie „Lebensweltlichkeit“ und „Lebenswirklichkeit“ werden heute oft zur Sprache gebracht. Wir hören davon in politischen Diskursen in der Gesellschaft, in akademischen Debatten und auch im täglichen Leben. Trotzdem lässt sich, so scheint es, der Mensch nicht so leicht – und glücklicherweise – einfangen, weder von Ideologien noch von den Schemata der Wissenschaft, auch nicht von Milieustudien und von einer Idealtypenbildung. Der Schriftsteller Lenz hat das gewusst, so viele andere auch, und seine Erzählungen zeigen auf eine manchmal fast unschuldig anmutende Weise den Menschen ganz, in seiner Würde und natürlich zugleich in seiner Schwäche. Ob Siegfried Lenz ein Philosoph war? Sein Freund Helmut Schmidt sprach davon in der Gedächtnisansprache. Die bitteren Erfahrungen des 20. Jahrhunderts haben dem nachdenklichen Schriftsteller die Sympathie für seine Mitmenschen nicht austreiben können. Er hat seine Zeit, seine Zeitgenossen sehr ernst genommen und auch wirklich gemocht. Gerade weil er dem klassischen Typ des Lehrers nicht entsprach und für diesen Beruf vollkommen untauglich gewesen wäre – diesen Mangel an Strenge, Herzenskälte und Grimmigkeit gegenüber anderen spüren die Leser seiner Erzählungen und Romane –, mögen vielleicht so viele Leser noch immer seine Bücher lesen, die so reich sind an sanftmütigem Humor, Freundlichkeit, Güte und Mitgefühl.

Titelbild

Siegfried Lenz: Die Erzählungen. 2 Bände im Schuber.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2015.
1600 Seiten, 50,00 EUR.
ISBN-13: 9783455405545

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