Steine, Bücher, Sammeltassen

Karl-Markus Gauß lädt zu einer Hausbesichtigung besonderer Art ein

Von Willi HuntemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Willi Huntemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass Geburtstage und Jubiläen Schriftsteller dazu bewegen können, ihnen in ihrem Schreiben Rechnung zu tragen, ist gemeinhin nichts Ungewöhnliches. Doch hier haben wir es gleich mit einem doppelten Jahrestag zu tun: Der Salzburger Reiseschriftsteller und Essayist Karl-Markus Gauß wurde im Mai dieses Jahres 65 Jahre alt und hat die letzten 25 davon in einem Salzburger Haus aus dem 19. Jahrhundert verbracht. Beides hat er zum Anlass genommen, im Rahmen einer Wohnungsbesichtigung Episoden aus seinem Leben zu rekapitulieren, die für ihn mit Alltagsdingen aus der Wohnung verknüpft sind. Das literarische Modell dazu liegt seit über 200 Jahren bereit: Es ist die Reise um mein Zimmer des vor der Französischen Revolution geflohenen savoyischen Aristokraten Xavier de Maistre, der während eines Hausarrests in der lockeren Erzählmanier Lawrence Sternes sein Zimmer erkundet – ein schmales Büchlein, das 1795 erstmals erschien.

Doch Gauß geht es nicht darum, das Genre der Zimmerreise zu neuem Leben zu erwecken. Das haben schon viele andere Literaten vor ihm getan, die das Erzählmodell de Maistres bereits früh nachgeahmt haben, wie man einer Studie von Bernd Stiegler entnehmen kann (Reisender Stillstand, Frankfurt/M. 2010), die Gauß selbst erwähnt. Auch hält der Autor sein privates Reich für nicht so interessant, dass es per se schon einen Erzählstoff abgeben würde. Wer die bisherigen Bücher des Salzburger Schriftstellers kennt, von seinen Reisereportagen abgesehen, der weiß, dass bei einigen von ihnen wie den Journalen aus den Jahren von 2002 bis 2015 oder Das europäische Alphabet (1997) die äußere Form als eine Art Rahmenkonstruktion dient, um seinen essayistischen Texten kompositorisch eine Einheit zu verleihen. Nach der diarischen und alphabetischen Ordnung ist es nun also der Alltagsraum der Wohnung, der dem assoziativ-mäandernden Schreiben von Gauß als Rahmenvorgabe dient.

Man muss nicht eigens betonen, dass kein ödes Exerzitium daraus geworden ist, bei dem Gegenstand um Gegenstand abgearbeitet würde. Der Autor weiß in den 38 Kapiteln das jeweilige Objekt immer ein wenig anders erzählerisch einzubetten und ihm eine Geschichte zu entlocken. Da gibt es Familienerbstücke wie den Überseekoffer, mit dem der Schwiegervater sich in den 40er-Jahren von Südtirol nach Salzburg aufmachte. Gleich aber ruft uns Gauß die Migrationsfrage vor Augen, die damals zwischen Nazideutschland und Italien virulent war. Oder ihm wird beim Sinnieren über das handgeschriebene Kochbuch seiner Großmutter bewusst, dass die donauschwäbische Küche und der ihr zugrundeliegende Kulturraum eine ethnische Diversität besaß, die von früher Multikulturalität in einem ländlichen Milieu zu sprechen erlaubt. An einen alten Brieföffner mit Werbeinschrift knüpft sich die Geschichte eines Mährener Industriellen aus dem 19. Jahrhundert, der den Baustoff Eternit erfand. Gauß entfaltet daraus ein kleines Stück Industriegeschichte, indem er die Geschichte der tschechoslowakischen Schuhfabrik der Brüder Bat’a gleich miterzählt. Der Autor ist zu sensibel für ethnisch-kulturelle Kontexte und Konflikte, als dass er das Thema seiner viel gelobten Reisereportagen, das Schicksal kleiner Ethnien und Nationalitäten an den Rändern Europas, hier aussparen würde. Damit entgeht Gauß der Gefahr eines biedermeierlichen Inventarisierens und einer Selbstbespiegelung in Form von gemütlichen Schnurren, die ihm zu den Dingen seiner Wohnung einfallen.

Wo viele Dinge sind, ist das Sammeln nicht weit. Gauß beleuchtet das Sammeln gleich von mehreren Seiten. Er gibt sich als Sammler nicht nur von Bildern, Büchern und Souvenir-Tassen zu erkennen, sondern auch von Duschhauben, einem sonst kaum beachteten „Kleidungsstück der Einsamkeit“. Das Bekenntnis zu dieser Marotte gerät dem Autor zu einem kleinen delikaten Kabinettstück der Dingpoesie, fast in der Manier von Francis Ponge. Zum anderen wird das Gegenteil des Sammelns, das Wegwerfen, kulturkritisch in den Blick genommen. Am Beispiel eines Bekannten, der sich von fast allen seiner Besitztümer getrennt hat, glossiert Gauß den aktuellen Lifestyle-Trend eines minimalistischen Lebens: Wer so lebe, „entleert die realen Räume, weil es für ihn ein technischer und moralischer Fortschritt ist, die virtuellen mit seinem geistigen Gerümpel vollzustopfen“. Das Entsorgen von Büchern – ein Thema, das im digitalen Zeitalter jedem Literaturfreund vertraut sein dürfte – behandelt der Autor in einem gesonderten Kapitel. Es ist ein erzählerisches Lehrstück zu einem in letzter Zeit viel traktierten Feuilletonthema. Der bereits ins Werk gesetzte Plan von Gauß und seiner Frau, seine rund zehntausend Bände umfassende Bibliothek nach und nach erheblich zu verschlanken, geriet ins Stocken, als Besucher, anders als zuvor, nur noch Gleichgültigkeit oder stilles Bedauern gegenüber dem scheinbar obsoleten Anhäufen von bedrucktem Papier an den Tag legten. Das Entsorgen wich einem trotzigen „Jetzt erst recht!“ und einem Bekenntnis zum Kulturgut Buch: „Die Leute schätzen keine Büchersammlungen mehr? Nun, wir schätzen solche Leute nicht“, „hier retten wir die Zukunft vor denen, die ihr verfallen sind“.

Ähnlich kulturkritische Auslassungen, die auch für sich stehen könnten, mischt Gauß wiederholt unter die Stationen seiner Zimmerreise, sei es eine Betrachtung über den Unterschied von E-Mails und Briefen („Das E-Mail ist keine zeitgemäß veränderte Form des Briefes, sondern dessen digitale Verneinung, die ihn seines Wesens entkernt“), eine skizzenhafte „Phänomenologie des Wartens“ oder einen „Exkurs über den Rausch“. Daneben sorgen kleine Porträts von Freunden, angeregt von Erinnerungsstücken, sowie Lektüre-Reminiszenzen für Auflockerung bei der Wohnungsbesichtigung. Doch bleibt es auch hier nicht beim Nostalgisch-Musealen. Die Charakteristik des heute nahezu vergessenen polnischen Décadence-Kultautors der Jahrhundertwende Stanisław Przybyszewski weitet sich aus zur typologischen Skizze der Sozialfigur und des Begriffs des „Rebellen“ bis in unsere Gegenwart hinein.

In einem Abschnitt über das Schreiben von Kolumnen sagt der Autor von sich selbst, er habe „nicht die Gabe, über nichts oder fast nichts zu schreiben“. Wohl aber hat er zweifellos die Gabe, über alles Mögliche in einem Plauderton zu schreiben, der uns ohne großes stoffliches und thematisches Interesse zuhören lässt. Im vorliegenden Buch über eine Zimmerreise, die eine mit leichter Feder erzählte Archäologie der Alltagsdinge durch Zeiten und Räume hindurch bietet, ist überdies ein Anreiz zur Nachahmung versteckt. Anders als bei wirklichen Reisebeschreibungen kann jeder seine eigene Zimmerreise unternehmen und sich in stillen Momenten des Innehaltens die Erinnerungen, die an mancherlei Dingen in Schreibtischschubladen oder an diesem oder jenem vergessenen Buch im Bücherregal hängen, ins Bewusstsein rufen.

Titelbild

Karl-Markus Gauß: Abenteuerliche Reise durch mein Zimmer.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2019.
221 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783552059238

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