Hello Kitty, benimm dich!

„Im Reich der Figuren“: Lukas R. A. Wilde eröffnet faszinierende Blicke in die ‚Mangaisierung‘ Japans

Von Stefan HöppnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Höppner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Japanische Manga-Ästhetik ist weltweit so erfolgreich wie nie. Zuerst im Comic entwickelt, hat sie längst ihren Weg in andere Medien wie den (Anime-)Film und Computerspiele gefunden, und selbst die Fanpraxis des Cosplay – die Verkörperung von Manga-Figuren im Rollenspiel – findet hierzulande immer mehr Anhänger. Der Düsseldorfer Japan-Tag, früher eher eine kleine Veranstaltung für Liebhaber, zieht heute jährlich fast eine Million Besucher an den Rhein. Für einen großen Teil davon ist es die japanische Popkultur, die sie fasziniert. Weniger bekannt ist, dass sich der Einfluss des Manga seit den 1990er Jahren auch mehr und mehr im japanischen Alltag ausbreitet. Lukas R.A. Wilde, Tübinger Medienwissenschaftler und Comicforscher, zeigt das in seiner Dissertation Im Reich der Figuren. Meta-narrative Kommunikationsfiguren und die ‚Mangaisierungdes japanischen Alltags am Beispiel einer populären Form gezeichneter Figuren im öffentlichen Raum.

Die Rede ist von kyara, mangaartigen Figuren, die in Japan überall im öffentlichen Raum zu finden sind. Zu ihren Besonderheiten gehört, dass sie sich zwar der Manga-Ästhetik mit ihrer klaren, einfachen Linienführung und ihrer speziellen Mimik und Gestik bedienen, dass hinter ihnen aber kein Comic, Film oder sonstiges narratives Medium steht. Zu ihnen gehören Figuren auf Hinweisschildern (hyōshiki), die erwünschtes oder abzulehnendes Verhalten aufzeigen, aber auch Maskottchen, die bestimmte Regionen, Städte oder Institutionen wie Zoll oder Polizei verkörpern sollen. Oder Charaktere wie die allgegenwärtige Hello Kitty, die lediglich der Vermarktung der mit ihrem Bild versehenen Produkte dienen.

Wildes zentrale Frage ist, wie kyara überhaupt funktionieren und was sie mit narrativen Medien wie Manga und Anime – außer dem Stil der Darstellung – überhaupt gemein haben, genauer: wie sie deren Ästhetik nutzen, um als Projektionsflächen zu dienen und eventuell ganz andere Ziele zu erreichen, als es die narrativen Medien tun. In den ersten fünf Kapiteln liegt der Schwerpunkt daher auf dem Wie der kyara. Zunächst arbeitet Wilde den kommunikativen Gehalt der Darstellungen heraus und erörtert, wie sie von den Rezipient_innen wahrgenommen werden. Anschließend geht es um Fragen der Narrativität, das heißt, inwieweit es sich um fiktionale Darstellungen handelt, ob und wie sie etwas erzählen, obwohl es sich oft nur um ein einzelnes Bild, keine Folge von Darstellungen handelt. Wilde arbeitet heraus, dass diese Bilder über eine ‚Basisnarrativität‘ verfügen, in der die Bilder das Dargestellte als eine mögliche Welt plausibel machen können. Erst dann können die Rezipient_innen diese Welt verstehen, sich mit ihr identifizieren und gegebenenfalls die gewünschten Reaktionen zeigen. Erst das letzte Drittel der Arbeit legt den Fokus auf den kulturellen Kontext und eine spezifische japanische Umgangsweise mit den fiktionalen Figuren.

Wilde argumentiert auf hohem theoretischen Niveau. Im Reich der Figuren ist kein Sachbuch, das man mal eben nebenbei liest. Man muss sich schon auf die komplexen Inhalte, die japanischen Termini und den wissenschaftstypischen Stil einlassen. Hat man dies allerdings einmal getan, dann besticht Wildes Arbeit dadurch, dass sie Ansätze aus so disparaten Feldern wie der Kommunikationssoziologie, der Semiotik, der Comicforschung und der Japanologie souverän zusammenführt und aus ihnen eine plausible, elegante Argumentation zusammenfügt. Zu den Pluspunkten zählt, dass Wilde das Japanische beherrscht. So kann er mühelos den dortigen Forschungsstand referieren und – in vielen Fällen sicher zum ersten Mal – überhaupt in den deutschen Sprachraum vermitteln. Kein Wunder, dass er für Im Reich der Figuren 2018 den Roland-Faelske-Preis für die beste Dissertation zur Comic- und Animationsforschung erhalten hat.

Am interessantesten ist die Arbeit jedoch in ihren letzten drei Kapiteln, die sich genauer der japanischen Figurenkultur widmen. Wilde stellt heraus, dass es zwar auch im Westen kyara-artige Figuren gibt, beispielsweise Max Maulwurf von der Deutschen Bahn, den genervte Passagiere nur allzu gut von seinen zahlreichen Baustellenankündigungen kennen. Aber sie sind zum einen längst nicht so allgegenwärtig wie in Japan, wo die Figur Kumamon, ein großer Bär mit roten Wangen, sogar vom Tenno höchstpersönlich empfangen wird. Zum anderen ist die japanische Figurenkultur noch stärker transmedial ausgelegt als anderswo. Auch Harry Potter, Star Wars, Disney-Charaktere oder die Comichelden der Marvel- und DC-Universen funktionieren mittels durchgehender Figuren über die Grenzen von Einzelmedien hinweg – ein Phänomen, das Henry Jenkins unter seinen weiter gefassten Begriff der Medienkonvergenz subsumiert. Dabei ist es oft nur die Figur, die sehr verschiedene Phänomene zusammenhält: Der Donald Duck der frühen Zeichentrickfilme hat teilweise andere Eigenschaften als der von Carl Barks entwickelte Comicheld oder der Charakter der Kingdom Hearts-Computerspiele. In Japan, so Wilde, werde ein solcher ‚Media Mix‘ aber schon seit den 1960er Jahren bewusst gepflegt, lange bevor sich im Westen solch ausgefeilte Verwertungsketten bildeten.

Auch der partizipatorische Aspekt ist in Japan weit stärker ausgeprägt. Das zeigt nicht nur die Praxis des Cosplay, sondern auch der Umgang mit dem, was man im Westen Fan Fiction nennen würde. Im Westen gelten etwa selbst geschriebene Stories nicht als Teil des originalen Game of Thrones-, Twilight- oder Star Trek-Universums, sondern bestenfalls als zu tolerierende Amateur-Produkte – legitim, solange sie nicht die offiziellen Narrative und die Vermarktung des Franchise stören. In Japan gelten sie hingegen als legitime Beiträge, die die jeweilige Welt bereichern. Widersprüche, die sich dadurch in den erzählten Storyworlds ergeben, gelten als weniger problematisch. Kyara haben außerdem keinen komplexen, sich kontinuierlich entwickelnden Charakter, sondern dieser wird in den wechselnden Situationen immer wieder neu erzeugt und ist innerhalb von Grenzen variabel. Wichtiger als eine solche Kontinuität ist die Wiedererkennbarkeit der Figur in immer neuen medialen Konstellationen.

Am Interessantesten wird es jedoch, wenn Wilde von der disziplinierenden Wirkung der kyara spricht. Gerade hier liegt ein entscheidender Unterschied zum Westen: Max Maulwurf soll uns besänftigen, wenn wir mal wieder den Anschluss in Köln verpassen oder spontan über Dessau umgeleitet werden. Es liegt ja nur an einem niedlichen Nager (und nicht etwa an dringenden Reparaturen oder schlichten Fehlplanungen). Max Maulwurf verlangt aber nicht, dass wir uns selbst ändern. Japanische kyara hingegen sollen die Rezipient_innen selbst zu einem bestimmten Verhalten bewegen. In einer Gesellschaft, in der indirekte Kommunikation einen sehr hohen Stellenwert besitzt, besitzen sie Modellcharakter für das erwünschte Verhalten. Hinter ihrer Niedlichkeit verbirgt sich damit (auch) ein autoritärer Kern.

Wildes Arbeit ist brillant, keine Frage; wer sich auf seine anspruchsvolle Argumentation einlässt, wird mit einer hochinteressanten Studie belohnt. Was man sich aber gewünscht hätte, ist eine noch stärker vergleichende Perspektive. Der Autor betrachtet immer wieder einzelne Aspekte der westlichen und der japanischen Kultur im Vergleich, es gibt aber keine systematische Zusammenschau, die westlichen Leser_innen noch einmal die entscheidenden Momente im unterschiedlichen Gebrauch der Figuren vergegenwärtigt. Dies war nicht Wildes eigentliche Themenstellung, aber es hätte die Arbeit zusätzlich bereichert, ebenso wie ein Glossar der japanischen Schlüsselbegriffe; immerhin gibt es ein Register. Aber auch so gilt: Im Reich der Figuren ist ein höchst empfehlenswertes Buch.

Titelbild

Lukas R.A. Wilde: Im Reich der Figuren. Meta-narrative Kommunikationsfiguren und die ›Mangaisierung‹ des japanischen Alltags.
Herbert von Halem Verlag, Köln 2018.
449 Seiten, 36,00 EUR.
ISBN-13: 9783869622828

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