Liebe und andere Risiken

Das „Lob des Risikos“ der 2017 verstorbenen französischen Philosophin und Psychoanalytikerin Anne Dufourmantelle ist endlich auf Deutsch erschienen

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Mädchen badet nackt im Fluss; als es ans Ufer zurückkehrt, sind seine Kleider verschwunden. Ein traumatisches Erlebnis, als Erwachsene empfindet sie es später als eine Art „vorweggenommene Vergewaltigung“; jede Form vertrauensvoller Hingabe wird der jungen Frau unmöglich sein. Doch was ist, so wird sie später von ihrer Analytikerin gefragt, wenn sie damals vielleicht einfach nur ein Stück abgetrieben und an der falschen Stelle aus dem Wasser gestiegen ist? Was, wenn damals niemand ihre Kleidung versteckt hat, sondern sie sich als Kind nur versehentlich einen Vorwand dafür geliefert hat, sich nie mehr im Leben dem „Risiko der Nacktheit“ aussetzen zu müssen?

Das ist nur eine von vielen faszinierenden Fallgeschichten in Anne Dufourmantelles Lob des Risikos. Durch Kursivsetzung vom Haupttext getrennt, stellen die Patientengeschichten in dem Plädoyer für das Ungewisse der französischen Psychoanalytikerin und Philosophin eine Art empirische Unterfütterung dar. Eine ungleich existenziellere Beglaubigung erfuhr das im Original bereits 2011 erschienene Werk in den Augen vieler Kritiker und Leser, als im Sommer letzten Jahres die damals 53-Jährige an einem Badestrand an der Côte dʼAzur beim Versuch, zwei Kinder vor dem Ertrinken zu retten, selbst ums Leben kam.

Sicher ist, dass auf solche Weise „sein Leben zu riskieren“ in Dufourmantelles Lob des Risikos das genaue Gegenteil all jener Aktivitäten darstellt, mit denen in der Gegenwart immer mehr Menschen nach dem Lebenssinn spendenden Kick suchen. Für die Autorin ist der Boom etwa von Extremsportarten ein Symptom eines falschen, letztlich neurotischen Umgangs der Gesellschaft mit dem Unvorhergesehenen. Ein zweites Krankheitszeichen ist unsere illusionäre Suche nach dem „Null-Risiko“: ein allgegenwärtiger Sicherheits- und Kontrollwahn, der sich im Überwachungsfanatismus der Sicherheitsbehörden ebenso äußere wie in immer neuen hysterischen Ängsten – ohne zu merken, dass wir heute längst in der sichersten aller Epochen leben.

„Was wird aus einer Zivilisation“, fragt Dufourmantelle, „die hinter der Bereitschaft zum Risiko nur noch Heroismus, hellen Wahnsinn oder ein abstruses Verhalten zu sehen vermag?“ So sei das heutige Individuum entweder triebgesteuert oder von der Vernunft dominiert, diagnostiziert die Analytikerin; die Gegenwart sei statt von lebendigen Menschen von „lebendig Einbalsamierten“ bevölkert. Dem gegenüber stellt ihr Buch eine eindrucksvolle Ermutigung dar, die Bedeutung des Risikos für die menschliche Existenz neu zu bewerten und das Risiko „als Lebende vom Leben her und nicht vom Tod her zu denken“.

Es sind vor allem zwei Aspekte, die Dufourmantelles Reflexionen prägen: Der eine ist die „in der Höhle des Analytikers“ betriebene Desillusionierung des Individuums. Behutsam wird das Subjekt in der Therapie nachträglich zum Erwachsenwerden ermuntert, zur Verabschiedung sorgfältig gehüteter Illusionen und Neurosen. Der andere Aspekt ist, damit eng verbunden, die Umwertung und Umdeutung von Begriffen. Zum Beispiel sei die „Abhängigkeit“ weit mehr als einfach nur eine zu heilende Sucht, so Dufourmantelle.

Bewusst und gezielt das „Risiko der Abhängigkeit“ einzugehen, bedeutet für die Autorin nicht nur einen „freundlichen Wink an jenen Nachgeburtskörper“, der wir alle einmal, maximal abhängig, waren, sondern auch eine Art gezielte Impfung vor all dem Schrecklichen im Leben („Die Liebe ist eine Kunst der Abhängigkeit“). Dagegen sei die „Hoffnung“ auf eine bessere Zukunft nur eine „sonderbare Droge“, mit der wir uns vor der Veränderung unserer Lebensumstände gerade herummogeln. Und im Gegensatz zu den unzähligen Selbstverwirklichungsratgebern plädiert die Autorin dafür, sich nicht zu ernst zu nehmen und lieber selbst abhanden zu kommen, als immer neuen Träumen nachzujagen.

Mit solchen Reflexionen, unterteilt in über 50 Kapitel, die in einer luziden, ebenso dichten wie metapherngesättigten Prosa geschrieben sind, hat Anne Dufourmantelles Buch eine Nähe zur Lebenskunst, wie sie im deutschsprachigen Raum etwa von Wilhelm Schmid besetzt ist. Dagegen vermisst man in Lob des Risikos eine Auseinandersetzung mit der jahrhundertelangen philosophischen Diskussion zu Themen wie Zufall, Kontingenz oder Glück – auch wenn die Autorin neben Psychoanalytikern oder literarischen Figuren (Eurydike, Herman Melvilles Bartleby) auch Philosophen zu Wort kommen lässt, darunter Jacques Derrida, mit dem zusammen die Autorin 1997 ein gerade heute erinnernswertes Buch über die Gastfreundschaft veröffentlichte.

Titelbild

Anne Dufourmantelle: Lob des Risikos. Ein Plädoyer für das Ungewisse.
Mit einem Vorwort von Joseph Hanimann.
Übersetzt aus dem Französischen von Nicola Denis.
Aufbau Verlag, Berlin 2018.
315 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783351037321

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