Revolution und Alltag

In „Der standhafte Papagei“ erinnert sich Amir Hassan Cheheltan an Teheran 1978/79

Von Behrang SamsamiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Behrang Samsami

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wann begann die Revolution im Iran? Diese Frage steht am Anfang von Amir Hassan Cheheltans Erinnerungsband Der standhafte Papagei. 2018 anlässlich der 40-jährigen Wiederkehr der Umwälzungen im Iran in deutscher Übersetzung erschienen, bieten die Memoiren des 1956 in Teheran geborenen Schriftstellers eine Reihe von Antworten, von denen hier drei genannt seien: Etwa den 7. Januar 1978, als in der Teheraner Tageszeitung Ettela᾽at ein Artikel erscheint, in dem der damals im irakischen Exil lebende Ayatollah Khomeini stark angegriffen wird. Des Weiteren der 8. September 1978, an dem nach gewaltsamen Demonstrationen 64 Menschen nach Schusswechseln mit Soldaten sterben und der als „Schwarzer Freitag“ in die Geschichte des Landes eingeht. Ein drittes Datum ist der 6. November 1978, als Schah Mohammed Reza Pahlewi im Fernsehen auftritt und dem iranischen Volk mitteilt, dass er dessen Revolutionsruf gehört habe.

Der Ich-Erzähler blickt zurück auf ein ereignisreiches Jahr, nach dem Iran ein anderes Land sein wird. Die Erinnerungen reichen von der seit Ende 1978 zunehmend angespannten Situation in dem damals noch von der Schah-Regierung beherrschten Land bis hin zur Besetzung der US-Botschaft und Geiselnahme der dort arbeitenden US-Bürger im November 1979 in einer inzwischen islamischen Republik unter Ayatollah Khomeini. Für Cheheltan stellen Botschaftsbesetzung und Geiselnahme eine Zäsur in dieser Phase der Geschichte Irans dar, denn damit bringen, so Cheheltan, die Geistlichen die innenpolitischen Gegner und Konflikte mit einem Mal zum Verstummen – angesichts der Ablenkung auf einen äußeren Feind.

In seinen Erinnerungen schaut der Ich-Erzähler bitter, kritisch und selbstironisch auch auf sich als damals 22-jährigen Studenten im letzten Studienjahr und „auf dem Höhepunkt meiner jugendlichen Unerfahrenheit“: „Da ich einige Bücher gelesen hatte und mir sicher war, als Einziger im Umkreis deren Inhalt zu begreifen, bildete ich mir ein, über visionäre Kräfte zu verfügen und die Zukunft vorhersehen zu können.“ Wichtig ist auch, dass der Erzähler die Vorgänge in nuce am eigenen Viertel darstellt. Seine Zusammensetzung erscheint als „eines der wenigen ohne soziale Klassenstruktur“ und daher wie ein Querschnitt der Gesellschaft der Hauptstadt. So heißt es: „In unserem Stadtteil lebten Lehrer, Fabrikarbeiter und Einzelhändler Seite an Seite mit einem Arzt, einem Kapitalisten und sogar einem Mullah. Auch ein pensionierter General lebte hier mit einem großen Hund, dem einzigen Haushund in der Nachbarschaft.“

Der Stadtteil und einige seiner Figuren treten in den Erinnerungen immer wieder auf. An ihnen werden stellvertretend die Geschehnisse und Veränderungen aufgezeigt – etwa der Aufstieg des Moschee-Vorstehers Hadsch Agha Tarabi und der Abstieg des erwähnten Generals mit dem Hund. Eröffnet wird der Erinnerungsband mit dem Überfall auf ein Spirituosengeschäft des Herrn Firuz durch eine Gruppe junger Männer aus dem Viertel, unter ihnen auch Firuzʼ Sohn Homajun. Der Gegensatz Vater-Sohn beziehungsweise Vergangenheit-Zukunft, der durch den Tod des Sohnes zugunsten des Vaters ausfällt, kann als frühe Andeutung für die künftige Entwicklung im Iran gewertet werden: Der Aufstand der jungen, meist linken Revolutionären währt nur kurz, da schon bald die alte Herrschaft durch die Machtübernahme eines alten Mannes ersetzt wird. Die Machthaber und die Regierungsform ändern sich, die Strukturen bleiben im Grunde aber die gleichen. Es gibt, wie der Ich-Erzähler darstellt, einen fast fließenden Übergang.

Der standhafte Papagei könnte man auch als „Unpersönliche Erinnerungen“ bezeichnen. Denn stärker als auf die Schilderung der Ereignisse im eigenen Stadtviertel legt der Erzähler Wert auf die Darstellung des schleichenden Wechsels an Macht und Einfluss vom Regime des Schah, der am 16. Januar 1979 das Land verlässt, an Ayatollah Khomeini, der am 1. Februar 1979 mit einer Maschine der Air France aus dem kurzzeitigen französischen Exil nach Teheran zurückkehrt. Minutiös schildert der Ich-Erzähler die Demonstrationen und Kämpfe in der Hauptstadt und in anderen Teilen des Landes – insbesondere in Khusistan und Kurdistan –, zählt die Toten auf, macht aber immer wieder deutlich, wie früh bereits Khomeini und dessen Anhänger ihre neu gewonnene Macht etablieren wollen und dafür die anderen Revolutionäre, insbesondere die diversen linken Gruppierungen, schrittweise zu Gegnern der Umwälzung und des Islams erklären.

Ein großes Thema ist die allmähliche Islamisierung der iranischen Gesellschaft durch die Kleriker: Die Versorgung der Menschen infolge der Knappheit an Lebensmitteln durch die Gründung islamischer Genossenschaften in den Stadtvierteln, der Schleierzwang, das Ende der Koedukation in Schulen, die Geschlechtertrennung an den Stränden, das Verbot alkoholischer Getränke, das Verbot von Popmusik in den staatlichen Medien, die (Wieder-)Einführung der Pressezensur, das Verbot oder die Übernahme vor allem linker Medien durch die Islamisten, die zunehmende Instrumentalisierung geistlicher Rechtsgutachten, wenn es darum geht, politische Entscheidungen zu untermauern, die Aufforderung, geplünderte Waffen in Moscheen abzugeben, die zunehmende, dann massenweise Hinrichtung früherer Verantwortlicher im Staatsapparat, Militär und Geheimdienst des Schah, politischer Gegner sowie wirklicher oder vermeintlicher Krimineller. Die „Sturmtruppen“ der neuen, geistlichen Herrschaft im Iran stehen bereit, gegen die Gegner vorzugehen:

Eine khakifarbene Hose, darüber ein weites weißes Hemd, bis zum Kragen geschlossen, und obendrein ein schwarzer Vollbart, als Teil ihrer Uniform, aber auch Teil ihrer Identität, so traten sie auf – die neuen Muslime –, und wurden als Angehörige der Revolutionsausschüsse immer einflussreicher. Den Moscheen angegliedert, konnten sie ihre Waffen behalten, und mit einem revolutionärem Regime im Rücken zudem von außerordentlichen Möglichkeiten profitieren. Um verschiedene Ideen zu verbreiten, sahen die Jungmuslime einheitliche Kleidung vor, und wer andere Ideen vertrat, wurde ausgeschlossen. Die jungen Männer hatten den Auftrag, Leute, die sich früher bereits zustimmend über linke Gruppierungen geäußert hatten, nicht in ihre Reihen aufzunehmen, und im gesamten Viertel waren nur Demonstrationen für Ajatollah Khomeini oder gegen den Westen und gegen Israel erlaubt. Wenn auch linke Gruppen sich an Demonstrationen beteiligten, wurden deren Initiativen mit dem Hinweis unterbunden, Vorne gebe die Parolen vor, wobei ,Vorneʻ nie eindeutig auszumachen war.

Wie sind die Erinnerungen komponiert? Der Ich-Erzähler gibt wieder, was er selbst gesehen, aber immer wieder auch, was er der Presse entnommen oder über das Fernsehen erfahren hat. So entsteht eine Collage, die Extremes und Alltägliches, Erschreckendes und Skurriles miteinander verbindet. Für deutsche Leser höchstwahrscheinlich neu und soziologisch interessant sind die Schilderungen über die Bewegungen der Arbeits- und Obdachlosen in Teheran, die ihr Leben in die Hand nehmen und sich Arbeit oder eine Wohnstatt am Rande der Metropole schaffen. In diesen Passagen – und denen, in denen der Erzähler über die Orte des „kleinen Glücks“ schreibt, die sich die Menschen gegen die zunehmende Unfreiheit durch die Geistlichen schaffen – wird die Dynamik in der Bevölkerung, wie sie durch die Umwälzungen geschaffen und beschleunigt wird, besonders deutlich. Hervorzuheben sind auch die Passagen, in denen die Zusammenarbeit zwischen den USA und der neuen geistlichen Regierung in Teheran angedeutet oder belegt wird. Sie verdeutlichen die gemeinsamen Interessen im Kampf gegen den Kommunismus und Sowjetimperialismus – zu der Zeit, als Moskau in Afghanistan einmarschiert und der Islamismus vom Westen gefördert wird.

So spannend, weil neu und informativ sich weite Teile von Der Standhafte Papagei lesen und so groß die Bandbreite an Themen auch ist, die Cheheltans Ich-Erzähler behandelt, gibt es doch immer wieder Stellen, die auch die mit der neueren Geschichte Irans vertrauten Leser überraschen und Fragen aufwerfen. Die Aussage etwa, dass die „Amerikaner sich diesmal kaum in den Regierungswechsel im Iran einmischten“, steht konträr zum Ergebnis der Konferenz von Guadeloupe, die im Januar 1979 stattfindet und auf der sich die USA, Großbritannien, Frankreich und die Bundesrepublik entscheiden, den Schah fallenzulassen und Khomeini die Rückkehr in den Iran nicht zu verweigern. Cheheltans Erzähler erwähnt diese Konferenz nur am Rande genauso wie den Aufenthalt von US-General Robert Huyser. Dieser wird ebenfalls im Januar 1979 von US-Präsident Jimmy Carter in den Iran entsandt, stellt dort die verunsicherten Schah-Militärs ruhig, hält sie von einem Putsch gegen Khomeini ab und arrangiert Treffen mit Personen aus der Umgebung des Ayatollah, damit dessen Machtübernahme gelingt.

Kritisch zu sehen ist Cheheltans Umgang mit der Frage der Ethnien im Iran. Sie sind für ihn im Grunde nicht existent, da er dazu tendiert, „Perser“ mit „Iraner“ gleichzusetzen, wie an einer Stelle besonders deutlich wird: „Ein Machtvakuum oder eine schwache Zentralregierung machen den Iranern immer Angst“, äußert der Erzähler. Eine solche Behauptung gilt mutmaßlich eher für ihn und für einen Teil der Perser im Iran. Sie gilt aber weit weniger für die nichtpersischen Ethnien. Diese verlieren mit der brutalen Zentralisierung der Macht in Teheran infolge der Regierungsübernahme der Pahlewis 1925 nicht nur ihre bis dahin bestehende starke politische Eigenständigkeit. Auch nach der Zäsur 1979 werden die aserbaidschanischen Türken, Kurden und anderen ethnischen Gruppen im Land daran gehindert, ihre Sprachen und Kulturen offen zu pflegen, obwohl dieses Recht in der Verfassung der Islamischen Republik garantiert ist.

Hier widerspricht sich der Erzähler auch selbst, wenn er in den Erinnerungen die Aufstände in den arabisch- und kurdischsprachigen Gebieten Irans mit thematisiert. Dass ausländische Mächte – nicht zuletzt die arabisch-sunnitischen Nachbarn und insbesondere Saddam Hussein – ein Interesse an einer Schwächung der Zentralregierung im Iran hatten, ist kein Geheimnis. Doch die Angst vor dem Machtverlust der Zentralregierung im Iran ängstigt bis heute einen Teil der Perser, die bei Forderungen nach mehr politischer und kultureller Selbstbestimmung in den von den anderen Ethnien bewohnten Gebieten Irans gleich den Vorwurf der Separation erheben, der letztlich nur als Totschlagargument dient, den nichtpersischen Ethnien ihre garantierten Rechte zu verwehren.

Cheheltans Der standhafte Papagei ist – mit den oben genannten Abstrichen – ein empfehlenswerter Erinnerungsband zur iranischen Revolution, dessen „unpersönliche“, weil chronistische und aufzählende Erzählweise jedoch nicht den subjektiven Charakter vergessen lassen sollte. Ein genaueres Lektorat seitens des Verlags Matthes & Seitz wäre geboten gewesen, da sich in der deutschen Ausgabe neben Redundanzen und Flüchtigkeitsfehlern auch fehlerhafte Angaben finden lassen, wie etwa dass Mahabad und nicht Täbriz die Hauptstadt der Provinz Aserbaidschan im Nordwesten Irans wäre.

Titelbild

Amir Hassan Cheheltan: Der standhafte Papagei. Erinnerungen an Teheran 1979.
Übersetzt aus dem Persischen von Jutta Himmelreich.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2018.
197 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783957574800

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