Vom Verlust der Sprache

Rafael Chirbes Roman "Die schöne Schrift"

Von Daniel LinkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Linke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Sie waren mein Leben", schreibt die Erzählerin ihrem Sohn Manuel nach ermüdenden Lebensjahren. Gemeint sind die menschlichen Schatten auf dem einzigen Fotoabzug ihrer Hochzeitsfeier, die zum Sinnbild des Vergänglichen werden. "Menschen die ich liebte. Und das Fehlen jedes einzelnen hat mich mit Leid erfüllt und mir Lust am Leben genommen." Es ist bezeichnend, daß ausgerechnet mit der einzigen ausgelassenen Episode der Geschichte sich die Traurigkeit wie ein dunkler Schatten über die Viten zu legen beginnt. Das Lachen verstummt, die Menschen verschwinden. Was bleibt sind wehmütige Erinnerungen an ein abgelebtes Leben, das viele Träume schuldig blieb.

Rafael Chirbes' neuester Roman in deutscher Übersetzung schildert eine spanische Familiengeschichte, deren Konflikte aus den politischen Kämpfen der Franco-Diktatur herrühren. Die Gesellschaft bildet dabei die Folie, die Familie ist der Fokus. Chirbes führt damit fort, was er mit seinem Buch "Der lange Marsch" begonnen hat: gegen das schnelle Vergessen eines mühsamen Geschichtsverlaufs in Spanien anzuschreiben; er will an die Bruchstellen dieses Landes und seiner Gesellschaft erinnern. Im "Langen Marsch" hat er mit dem Darstellen eines gesellschaftlichen Querschnitts begonnen und die tiefen Risse aufgespürt; Franco oder Sozialist; Wohlstand oder Armut; Siegen oder Scheitern.

Risse durchtrennen auch in seinem neuen Buch die Familie, spätestens sichtbar, als die zukünftige Frau von Onkel Antonio auftaucht, die Frau mit der "schönen Schrift", deren Buchstaben gebläht sind wie die Segel eines Schiffes. Sie will den Wohlstand, sie will zu den Siegern des Regimes gehören. Für sie zählt nicht der Familienhalt, sondern ihr Handeln ist von reinem Selbstzweck bestimmt. Aber alles wird zum trügerischen Schein - wie ihre Schrift.

Auch in der Ehe der Erzählerin vollzieht sich ein Bruch. Die Geburt des Sohnes weckt nur kurzfristig im politisch desillusionierten Vater Hoffnung, doch sie schlägt schnell in das alte Mißtrauen dem Leben gegenüber um. Nach dem Selbstmord seines Vaters reift in ihm die ungerechte und bittere Erkenntnis, daß mit der Geburt das Unglück in sein Haus gekommen sei. Kurz vor seinem gewollten Ableben ist er schon längst gegangen: das Leben lastete wie ein schwerer Panzer auf seinem Rücken, heißt es kafkaesk. Nur noch sein Schatten bewegte sich bei seiner Familie.

Das Bedrohliche in diesem Buch ist der Verlust der gemeinsamen Sprache, die Beteiligten können sich nicht mehr untereinander verständigen, der Verlust ist durch nichts auszugleichen. Schuld an diesen kommunikativen Fehlprozessen ist, auch wenn er kaum explizit benannt wird, der Krieg. Er hat vor allem die Männer geprägt, sie gebrochen und zu leblosen Hüllen degradiert. Im "Langen Marsch" hat Chirbes diese Lebensform als schlimmere Form des Todes ausgemacht: "Leben, aber nicht mehr man selbst sein".

Der permanente Verlust von Menschen, von Träumen, Illusionen und Hoffnungen durchzieht die Familiengeschichte, durchzieht das Leben der Erzählerin. Was bleibt ist die Traurigkeit. Glück ist immer etwas Vergangenes und gerät nur zum verzweifelten Trostversuch in der Gegenwart: "Was waren das für schöne Zeiten, als wir alle zusammen waren und lachten und es uns nicht am Nötigsten fehlte."

Doch nichts bleibt vom Leben übrig, "kein Detail, kein Erinnerungsstück, das [...] an irgendwen oder irgendwas auf dieser Welt hätte binden können". Am Ende erwartet die Erzählerin ihren Tod als Erlösung, das Schicksal des Lebens muß ein Ende finden. "Weil ich durchgehalten habe, bin ich im Kampf müde geworden und habe erfahren müssen, daß die ganze Anstrengung umsonst war". Wie resigniert muß sie sein, um solch bitteres Urteil fällen zu müssen.

Als Leser muß man die Schwermut und permanente Vergänglichkeit aushalten können. Gelingt dieses, dann erhält man durch Chirbes einen eindringlichen erzählerischen Einblick in die spanische Befindlichkeit jener Jahre. Wer etwas über Spaniens Gesellschaft, über ihre tiefverwurzelte Melancholie erfahren möchte, sollte "Der lange Marsch" und "Die schöne Schrift" lesen. Wer sie sucht, findet sie in seinen Büchern.

Titelbild

Rafael Chirbes: Der lange Marsch.
Verlag Antje Kunstmann, München 1998.
350 Seiten, 21,50 EUR.
ISBN-10: 3888971918

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Rafael Chirbes: Die schöne Schrift. Aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz.
Verlag Antje Kunstmann, München 1999.
ca. 160, 15,20 EUR.
ISBN-10: 3888972116

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch