Berliner „Blaue Stunden“

Gottfried Benns Frauenbeziehungen der letzten Lebensjahre werden durch seine Briefe an Gerda Pfau neu beleuchtet

Von Bernhard JudexRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernhard Judex

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zahlreich und legendär sind die unterschiedlichen Liebesbeziehungen und Affären des Arztes und Schriftstellers Gottfried Benn. Zu „seinen Frauen“ zählten unter anderem die bekannten Elinor Büller, Else Lasker-Schüler, Mopsa Sternheim oder Tilly Wedekind. Auch die einschlägige biografische Forschung beschäftigte sich eingehend mit dem faszinierend intensiven wie auch unheimlich, ja mitunter zerstörerisch wirkenden Eros des „Genies und Barbars“ (Gunnar Decker). Sein Wahlspruch in Heirats- und Liebessachen lautete bekanntlich „gute Regie ist besser als Treue“. Benn war insgesamt dreimal verheiratet, was ihn allerdings nicht daran hinderte, nicht nur in der Zeit als Junggeselle, sondern auch während seiner fixen Beziehungen oft mehrere erotische Abenteuer gleichzeitig einzugehen. Die bislang wohl kritischste Auseinandersetzung mit Benns Liebesleben liefert nach wie vor Klaus Theweleit in Band 1 des Zyklus’ Buch der Könige; dieser trägt bezeichnenderweise den Titel Orpheus [und] Eurydike und beleuchtet das in Beziehungen vieler männlicher Künstler signifikante Frauenopfer zugunsten der eigenen schöpferischen Kreativität.

Neu zur Thematik erschienen ist nun Uwe Lehmann-Brauns‘ knapp über 100 Seiten umfassende Studie Benns letzte Lieben im Berliner Verbrecher Verlag. Ihren Ausgangspunkt bilden jene hier erstmals veröffentlichten Briefe, Postkarten und Mitteilungen Gottfried Benns an die für das Tagblatt arbeitende Journalistin Gerda Pfau, die er im Herbst 1954 anlässlich einer Veranstaltung in Berlin kennengelernt hatte und der er von da an nähergekommen ist. Der Inhalt der insgesamt rund 35 Korrespondenzstücke, die Lehmann-Brauns von Pfau mit der Bitte um Veröffentlichung erhalten und transkribiert hat, ist zunächst wenig spektakulär. Meist geht es um Grüße und kleine Aufmerksamkeiten, um Erkundigungen nach dem gesundheitlichen Zustand oder um Vereinbarungen zu persönlichen Treffen. Zwischen Benn und der um 30 Jahre jüngeren Pfau bestand die Abmachung, ihre amouröse Bekanntschaft geheimzuhalten, auch und nicht zuletzt gegenüber Benns dritter Ehefrau Ilse, obwohl man gelegentlich sogar gemeinsam Unternehmungen macht. Da die junge Journalistin Benn bloß über das Telefon kontaktiert, ist keine Gegenkorrespondenz erhalten.

Dennoch beansprucht die Publikation einen wichtigen Stellenwert in der Benn-Forschung, macht doch Lehmann-Brauns damit nicht nur auf die bislang unbekannte und bis zu Benns Tod am 7. Juli 1956 dauernde Bekanntschaft aufmerksam.  Aus den kurzen Briefen an Gerda Pfau sowie aus den Tagebucheintragungen des Dichters lässt sich jenes für ihn signifikante Muster ablesen, wie es Fritz J. Raddatz in seiner Biografie treffend auf den Punkt gebracht hat: „Frauen sollen da sein, dürfen jedoch nicht nahe sein“. Dies wird auch in einem Brief vom Juli 1955 an Ursula Ziebarth deutlich, demgemäß Benn „seine Ruhe und seinen inneren und äußeren Frieden“ sowie seine schöpferische Kraft vor alle Beziehungsfragen stellt und diese ganz im Sinne der berühmten Formel vom „Doppelleben“ der Dichtung unterordnet. Dennoch zählen die sogenannten „blauen Stunden“, die ihm Abwechslung von seinem Alltag zwischen Arztpraxis, schriftstellerischer Betätigung und Ehe bieten, bis zuletzt zu Benns Leben und scheinen geradezu unverzichtbar für ihn.

Das durchaus Spannende an Lehmann-Brauns‘ kurzweilig zu lesender Untersuchung ist neben der den Transkriptionen der Originaldokumente folgenden und um einzelne Faksimile sowie Fotos angereicherten Darstellung von Benns Beziehung zu Gerda Pfau, dass er auf das Muster Benn’scher Beziehungstaktik und -technik eingeht und durch Aussagen zweier weiterer Brief- und Liebespartnerinnen ergänzt. Benn hatte neben der alle Bekanntschaften überdauernden Ehe mit der Zahnärztin Ilse Kaul zur selben Zeit wie mit Gerda Pfau noch mit Astrid Claes und eben jener erwähnten Ursula Ziebarth Kontakt. Beide verehrten als Germanistikstudentinnen und angehende Autorinnen den älteren Lyriker, der sie förderte; Claes legte 1953 eine Dissertation über Benn vor, Ziebarth erhielt durch ihn eine Lektoratsstelle im Winkler Verlag. Er selbst versuchte die Liebschaften geheimzuhalten, die Frauen sollten so wenig wie möglich voneinander wissen – was allerdings nicht immer gelang, sodass er zu einer anderen Waffe griff: gegenseitiger Herabsetzung.

Es spricht für die Diskretion und das Selbstbewusstsein von Benns Witwe Ilse sowie seiner Tochter Nele – sie wuchs nach dem Tod ihrer Mutter Edith Osterloh, der ersten Ehefrau Benns, bei dessen Bekanntschaft Ellen Overgaard in Dänemark auf –, dass sie ihrem Mann beziehungsweise Vater nach dessen Tod, nach dem immer wieder unbekannte Tatsachen aus der Biografie zu Tage traten, ihre lebenslange Wertschätzung und das Bemühen um Verständnis nicht versagt haben. Auch sie kommen durch Selbstaussagen und nicht zuletzt durch die Einschätzung Lehmann-Brauns‘, der die Beiden ebenso wie Gerda Pfau in seiner kulturpolitischen Funktion in den 1980er Jahren selbst kennengelernt hat, zu Wort. Aufschlussreich ist am Schluss der Hinweis auf die wie so oft schwierige Nachlass-Situation. Nele Benn vermachte die an sie gerichteten Briefe ihres Vaters der Akademie der Künste in Berlin, der restliche Nachlass Benns, über den die Witwe verfügte, wird hingegen in Marbach verwahrt. Was es aber bedeuten mag, dass sich Gerda Pfau dazu entschloss, Benns Briefe „Berlin zu überlassen“, wie Lehmann-Brauns schreibt, jedoch „ein Versuch, sie der Akademie der Künste zu veräußern“, gescheitert sei, bleibt allerdings vage. Benn-Begeisterten, aber auch jenen kritischen Leserinnen und Lesern, die seine Affären kritisch durchleuchten wollen, sei Benns letzte Lieben trotz eines leider nicht ganz fehlerfreien Lektorats – so etwa stören einige widersprüchliche Datierungen – empfohlen.

Titelbild

Uwe Lehmann-Brauns: Benns letzte Lieben. Mit Originalbriefen von Gottfried Benn.
Verbrecher Verlag, Berlin 2019.
111 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783957323811

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch