Das Zeitalter der Pluralität?

Neue Einsichten zur Ambiguität und Ordnung des Sozialen im Mittelalter

Von Jan Alexander van NahlRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Alexander van Nahl

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ambiguität ist in den letzten Jahren in der Mediävistik als Thema angekommen und schmückt als Schlagwort eine wachsende Anzahl an Veröffentlichungen. Dazu mag Verschiedenes beigetragen haben, sei es die (gefühlt) verstärkte Konfrontation der westlichen Welt mit anderen Denk- und Glaubensrichtungen, sei es ein Unbehagen gegenüber der Reduzierung des Mittelalters auf das Eindeutige und Einseitige (als das Andere zur Moderne), sei es schließlich der Bedarf einer neuen Generation an Mittelalterspezialisten, vermeintlich ausgereizte Quellen unter geänderten Vorzeichen neu anzugehen. Dass der Terminus ‚Ambiguität‘ bekanntermaßen alles andere als eindeutig ist, und wohl nicht ohne leise Ironie immer wieder von der Ambiguität der Ambiguität gesprochen worden ist, stellt dabei zugleich eine willkommene Herausforderung dar.

Der vorliegende Sammelband, der auf eine Tagung im November 2014 zurückgeht, legt davon Zeugnis ab. Das titelgebende Verhältnis von Ambiguität und sozialer Ordnung wird in der Frage nach Ambiguitätstoleranz perspektiviert, ein Konzept ursprünglich der Psychologie, das auch die historische Forschung in den letzten Jahren vermehrt umtreibt. Die Herausgeber selbst gehen die Fragestellung nüchtern an, wenn sie einleitend bemerken, die Forschung habe zwar Ambiguität und Ambiguitätstoleranz als „bedeutsame Analysekategorien für das Verständnis von Struktur und Funktion historischer Gesellschaften registriert“, deren Stellenwert speziell im Blick auf mittelalterliche Gesellschaften sei aber „gegenwärtig noch weitestgehend unklar“. Neun Beiträge versuchen, diese Unklarheit wenn nicht auszuräumen, so doch genauer zu erfassen.

Franziska Klein fokussiert religiöse Ambiguität, wie die Konvertierung von Juden zum Christentum im 13. Jahrhundert in England sie bedingt habe. Ihre Frage, in welchem Maße Disambiguierung (ein etwas sperriger Terminus) notwendig, Ambiguität aber auch tolerierbar gewesen sei, beantwortet sie vorläufig über die Beobachtung, dass neben dem Versuch der Machthaber, Grenzen zu (ver-)schärfen, eine Grauzone existent gewesen sei, die es erlaubte, religiöse Uneindeutigkeit zu tolerieren, solange diese keine Konflikte nach sich zog. Folgerichtig leitet auch Benjamin Scheller seinen Beitrag mit den Worten ein: „Das Mittelalter war ein Zeitalter religiöser Pluralität“. Für den von ihm schlaglichtartig beleuchteten Zeitraum vom späten 13. bis frühen 16. Jahrhundert registriert er dann aber, am Beispiel der Vertreibung religiöser Minderheiten, eine ab dem späten Mittelalter zunehmende religiöse Entpluralisierung Europas als politischen Akt. Ambiguität sei nun einerseits weniger tolerierbar gewesen als in vorausgehenden Jahrhunderten, andererseits als Tatsache des religiösen Alltags umso stärker wahrgenommen worden.

Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive führt Rabea Kohnen den Gedanken anhand der „Leitdifferenz rechtgläubig/andersgläubig“ fort, mit Blick auf die mittelhochdeutsche Brautwerbungserzählung ‚Salman und Morolf‘, überliefert im 15. Jahrhundert, sicherlich aber älter. Der einleitenden Feststellung, in der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters sei selten echtes Interesse an einem religiösen Anderen greifbar, hält sie in der konkreten Lektüre das bemerkenswert uneindeutige Bild speziell dieser Erzählung entgegen, in der es – „literarisch höchst attraktiv“ – von religiösen Verzerrungen, Spiegelungen und Doppeldeutigkeiten nur so wimmle. Andersgläubigkeit ist auch das Thema des kulturwissenschaftlich-archäologisch orientierten Beitrags von Ute Verstegen, in dem sie multireligiöse Praxis anhand der Parallelnutzung von Pilgerstätten im Nahen Osten punktuell beleuchtet. Soweit aus den Quellen (zwischen den Zeilen, wie die Verfasserin kritisch einräumt) ablesbar, ist eine solche religionsübergreifende Nutzung bestimmter Räume in vielen Fällen offenbar vor Ort unproblematisch gewesen.

Nach diesen Fallstudien erscheint der Beitrag von Paul Predatsch zunächst programmatischer, wenn er anhand einer notwendig selektiven Diskussion von Ethnizitätskonzepten in der jüngeren Forschungsgeschichte deren Ambiguität und damit methodische Problematik herausstellt. Nach kurzer Betrachtung einiger Beispiele aus dem Frühmittelalter schließt er mit dem Appell, ethnische „Labels“ sparsam einzusetzen und der Gefahr des „ethnischen Kurzschlusses“ mit lokal begrenztem Quellenstudium entgegenzuwirken – keine neue Forderung, aber ein weiterhin aktuelles Beispiel für die Uneindeutigkeit etablierter Fachterminologien. Das zeigt auch Michelle Waldispühl in ihrem folgenden Beitrag zu Personennamen im Reichenauer Verbrüderungsbuch, unter denen sie sich mit einer Anzahl nordgermanischer Namen auseinandersetzt, die nicht zuletzt unter dem Gesichtspunkt der Mobilität mittelalterlicher Skandinavier interessant sind. Die Verfasserin problematisiert nun aber die Auszeichnung ‚nordgermanisch‘ und moniert die fehlende Diskussion der Frage, wie methodisch zu unterscheiden ist zwischen nordgermanischen und deutschen Namen, wenn deren Aufzeichnung in einem Umfeld erfolgte, das durch sprachliche Kontakte und daher Adaptionen und Vermischungen gekennzeichnet gewesen sei.

Rechtliche Aspekte eines „uneindeutigen Geschlechts“ diskutiert Christof Rolker. Das körperliche Geschlecht erschiene im Mittelalter zwar zunächst weniger als binäre Opposition, als dies dann in der Moderne der Fall sei, die Zugehörigkeit zu einem Geschlecht sei aber im späten Mittelalter zu einer rechtlich relevanten Kategorie geworden. Anhand mehrerer Beispiele zur gerichtlichen Verhandlung von Hermaphroditen zeigt Rolker einen bemerkenswert pragmatischen Umgang mit körperlich uneindeutigen Geschlechtsmerkmalen auf, der wiederum im Gegensatz stünde zu deren Stigmatisierung bis Dämonisierung ab dem späten 15. Jahrhundert. Nüchtern konstatiert er aber auch, dass dies für das Mittelalter nicht notwendig Ambiguitätstoleranz belegen, eher „die Annahme extremer Intoleranz“ widerlegen würde. Der sozialen Ordnungsdifferenz ‚arm–reich’ spürt danach Christian Hoffarth nach: Dieses biblisch vorbereitete Deutungsmuster wurde ab dem 12. Jahrhundert einer zunehmend ausdifferenzierten Gesellschaft kaum noch gerecht, gerade der Armutsbegriff sei zunehmend uneindeutig gewesen. Die Bettelorden des späten Mittelalters wären dieser Ambiguität der sozialen Welt durch einen verstärkt propagierten Dualismus von ‚arm‘ und ‚reich‘ begegnet, hätten sich insofern bewusst ambiguitätsintolerant gezeigt, mit dem Ziel der „sinnstiftenden Entdifferenzierung der Welt“. An der Schnittstelle von rechtstheoretischen und kunsthistorischen Betrachtungen bewegt sich schließlich der Beitrag von Ann-Kathrin Hubrich, die anhand der christlichen Bildprogramme im Lüneburger Niedergericht eine Strategie der ikonographischen Vereindeutigung von Recht und Unrecht im frühen 17. Jahrhundert aufzeigt. Zentrale biblische Episoden um zum Beispiel die Gerechten Daniel und Salomo hätten dem Gerichtsort seine Legitimation eingeschrieben und zugleich das Oppositionspaar ‚Recht–Unrecht‘ als Leitdifferenz verbindlich gemacht, hätten also Ambiguität wiederum gezielt entgegengewirkt.

Soweit eine kurze Zusammenschau der versammelten Beiträge. Formal ist an ihnen wenig zu bemängeln, allenfalls hätte sich manches Mal der Seitenumbruch etwas gefälliger umsetzen lassen; und dass nur Teile der fremdsprachlichen Quellenzitate übersetzt oder zumindest paraphrasiert werden, baut vielleicht noch zu sehr auf das einstige Ideal des polyglotten Gelehrten. Positiv zu erwähnen ist neben dem anhängenden Register (nach wie vor eine Seltenheit bei Sammelbänden) die erfreuliche Fächerung der Beitragenden, vom Doktoranden hin zum Professor – das so entstehende Gesamtbild ist umso vielfältiger.

Fraglos ließen sich die Beiträge an vielen Stellen diskutieren, ergänzen und hinterfragen. Im Gesamtblick zeigen sie aber doch überzeugend auf, in welchem Maße die verbreitete Ansicht eines eindeutigen und einseitigen Mittelalters fehlgeht. Man sollte im Gegenzug sicherlich nicht so weit gehen, dieses Mittelalter nun pauschal zum Zeitalter der kulturellen Pluralität zu stilisieren. Klar ist aber erstens, dass künftige Forschung dem Umstand gerecht werden muss, dass der Übergang zur sogenannten Frühen Neuzeit, wo auch immer man ihn verortet, nicht notwendig den Schritt hin zu einer aufgeklärten und damit toleranten Gesellschaft bedeutete. Im Gegenteil entdecken die versammelten Beiträge in den betrachteten Quellen wachsende Tendenzen hin zu einer angestrebten Vereindeutigung, damit aber auch Intoleranz ab dem 15. Jahrhundert. Zweitens steht angesichts dieser zunehmenden Einsicht nun umso mehr die Aufgabe vor Augen, auch der medialen Öffentlichkeit dieses vielleicht unerwartete Mittelalterbild zu unterbreiten, das als Vehikel für ideologische Propaganda gegen ‚das Andere‘ so gar nicht mehr taugt.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Benjamin Scheller / Christian Hoffarth (Hg.): Ambiguität und die Ordnungen des Sozialen im Mittelalter.
De Gruyter, Berlin 2018.
236 Seiten, 99,95 EUR.
ISBN-13: 9783110605877

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