Andere Wahrheiten aus anderen Räumen

Christoph Geiser bemisst in „Verfehlte Orte“ die Grenzen des Homo-Heterotopos

Von Sabine HauptRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sabine Haupt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Christoph Geisers neuer Erzählband Verfehlte Orte ist ein Buch mit starken Leitmotiven und nachhallenden Schlüsselsätzen. Einer dieser Sätze lautet: „Es geschieht immer alles erst im Nachhinein. Der Bildschirm der Gegenwart ist schwarz“. Spätestens bei der zweiten Wiederholung ahnt man, dass es sich um eine zentrale Botschaft handelt: Die wahren Zusammenhänge erschließen sich erst am Ende. Doch das gilt nicht nur für das fiktionale Leben der Figuren, es gilt auch für die Dramaturgie des Buches. Schritt für Schritt wird man an den Kern des Geschehens herangeführt, gelangt Satz für Satz tiefer in die Verstrickungen eines namenlosen Erzählers, der uns auf seinem Weg hinter die Schwärze der Bilder wahrlich nichts erspart: weder kühne Gedankensprünge noch komplex verschlungene Motivketten oder barock wucherndes Satzgestrüpp, weder lawinenartige, sich gegenseitig überrollende Anspielungen und Zitate aus den Steinbrüchen der abendländischen Kunst- und Kulturgeschichte noch – und das ist gewiss der heikelste Aspekt des Buches – die fassbaren Motive unfassbarer Sexualverbrechen.

Doch der Erzähler weiß an jeder noch so schwierigen oder fatalen Stelle seiner anspruchsvollen Texte ganz genau, was er seiner Leserschaft zumutet und warum. So betont er in Step by Step, der letzten, auch längsten Erzählung des Bandes, er lege „hier und heute Wert auf die explizite Feststellung, dass Donatien Alphonse François Marquis de Sade ein Schriftsteller war, Gilles de Rais, maréchal de France, Kampfgefährte der Jeanne d’Arc, aber ein Serienmörder“. Und der Erzähler tut – ganz am Ende seines Buches – gut daran, an diese eigentlich banale Differenz zu erinnern, seine LeserInnen zu gemahnen, literarische Fiktion, auch wenn sie moralische Tabus bricht, sorgfältig von realen Verbrechen zu unterscheiden, selbst dann, wenn diese, wie das im Fall des historischen Kindermörders Gilles de Rais ja durchaus geschah (man denke an seine literarischen Stilisierungen bei Joris-Karl Huysmans, Aleister Crowley, Georges Bataille oder Michel Tournier), ästhetisch oder ideologisch überhöht und damit einer eindeutigen moralischen Verurteilung entzogen werden.

Christoph Geiser appelliert an die Toleranz seiner gebildeten Leserschaft, die sich, eingedenk jahrzehntelang eingeübter Spielregeln der Moderne, längst daran gewöhnt hat, ästhetische und moralische Grenzüberschreitungen, Tabuverletzungen und Provokationen nicht nur als Ausdruck einer ganz prinzipiellen Freiheit und Autonomie der Kunst zu interpretieren, sondern darin sogar so etwas wie die genuine Aufgabe von Literatur zu sehen. Literatur macht das, was sonst nirgends möglich ist. Das ist ihre utopische Mission. Doch warum ist es überhaupt nötig, „hier und heute“ ganz „explizit“ daran zu erinnern? Warum muss einer, dem es, wie der Erzähler gleich eingangs mehrfach, wenn auch halb ironisch, hervorhebt, „um nichts als die Wahrheit geht“, auf diesem Unterschied von Kunst und Wirklichkeit bestehen? Was sind die Gründe für den nachträglich eingereichten Legitimitätsausweis? Doch alles schön der Reihe nach: „Step by Step“. Auch der Erzähler lässt sich Zeit bei der Inszenierung seiner Grenzüberschreitungen.

Geiser ist einer der literarisch avanciertesten, kompromisslosesten, couragiertesten Schweizer Gegenwartsautoren: sprachlich virtuos, mit allen poetologischen Wassern gewaschen, obendrein umfassend bis umwerfend gebildet, ohne sich allenthalben in verschraubten Poeta doctus-Exkursen zu ergehen; und das heißt: spielerisch ironisch, melancholisch – kurz: im besten Sinne postmodern, vielleicht sogar auf eine etwas altmodische Art hochmodern. Seit nunmehr 50 Jahren schreibt und publiziert er Lyrik, Romane, Erzählungen und Essays. 20 Bücher hat er in dieser Zeit veröffentlicht, für die er mit diversen Literaturpreisen ausgezeichnet wurde. Man könnte ihn für einen etablierten, ja gesettelten Schriftsteller halten, wäre da nicht der Hader mit der eigenen Biografie, die immer wieder neu ansetzende, geradezu manische Beschäftigung mit der längst vergangenen, doch überaus prägenden Stigmatisierung als Schwuler und kommunistischer Pazifist.

Auch der Titel des vorliegenden Erzählbandes spielt wieder auf diesen Topos der Ausgrenzung, Nichtzugehörigkeit, ja fundamentalen Verlorenheit an: Verfehlte Orte umfasst fünf stofflich und thematisch zusammenhängende Prosatexte, die den Erzähler an Orte und Schauplätze führen, die sich bei näherer Betrachtung als Un-Orte erweisen, und zwar nicht im Sinne der alten, philosophisch-phantastischen Utopia des Thomas Morus, sondern eher in (teilweise sogar expliziter) Anlehnung an Michel Foucaults kulturwissenschaftliches Konzept der Heterotopie, der „anderen Räume“, deren topologische Struktur Regeln und Gesetzen folgt, die außerhalb konventioneller Ordnungssysteme stehen.

In Die Vergrämung der Zauneidechsen, einer grandiosen politischen Groteske, die eine melancholisch selbstironische Engführung von jugendlicher DDR-Begeisterung und melancholischer Altersschwermut inszeniert, ist der „verfehlte Ort“ ein Areal des Berliner „Müggelwalds“, in dem, kurz nach dem Untergang der DDR, ein gigantisches, in 111 Teile zerlegtes Lenin-Denkmal vergraben wurde. Der Kopf der Statue soll exhumiert und als Exponat in eine Ausstellung über Berliner Denkmäler integriert werden. Wie sich bei den Ausgrabungen jedoch herausstellt, teilen sich die Lenin-Reste ihr unterirdisches Habitat mit einer naturgeschützten Eidechsenart, was einerseits zur Unterbrechung der Exhumierung, andererseits zu autobiografischen Reminiszenzen führt: Geiser war Anfang der 70er Jahre zu Besuch in der Küche einer Hochhauswohnung am Leninplatz. Er war Gast des in die DDR ausgewanderten Schweizer Journalisten Jean Villain. In kunstvoll verschachtelten, gnadenlos und ganz bewusst Kategorien wie „Verständlichkeit“ oder „Lesefreundlichkeit“ ignorierenden, konsequent die syntaktischen Loopings Thomas Bernhardscher Konjunktiv- oder Kleistscher Konsekutiv-Labyrinthe abschreitenden Digressionen werden diese Ereignisse nun ironisch-sarkastisch aufeinander bezogen, und zwar solange, bis der private, eher undurchsichtige „Familienroman“ im Zwielicht der Weltgeschichte zu flimmern beginnt, Schemen und Konturen der eigenen Vita literarisch erhellt, schließlich „Phantome? Gespenster? Vampire… die auf der Leinwand des Gedächtnisses kein Bild hinterließen“ sichtbar macht, alle Handlungsfäden verwirrt und neu verknotet, dergestalt dass, ganz am Ende der Erzählung, Karl Marx als „geehrter Waldmensch“, als Artgenosse ausgestorbener, museumstauglicher Reptilien eine literarische Exhumierung erfährt, über die die „großbürgerliche Sippschaft“ nur wieder den Kopf schütteln würde. Kleine kokette Zwischenfragen des Erzählers wie: „da streckt die Hermeneutik ihre Waffen, gell?“ belegen, dass er die hermeneutischen Strapazen seiner LeserInnen nicht nur billigend in Kauf, sondern fast leutselig als rituelle Opferhandlungen entgegennimmt.

Der verfehlte Ort der zweiten, zuvor bereits in der Literaturzeitschrift Sinn & Form abgedruckten Erzählung Der Neandertaler von Darmstadt ist das Hessische Landesmuseum beziehungsweise der in der Darmstädter Orangerie stattfindende Staatsempfang der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, deren Mitglied Christoph Geiser seit über 30 Jahren ist. Der Erzähler irrt umher, verpasst den Empfang der „Fruchtbringenden Gesellschaft“, wie die Darmstädter Akademie in Anspielung an die erste deutsche Sprachakademie ironisch genannt wird. Schließlich befindet sich der Erzähler „draußen. Vor der automatischen Tür. Auf einer leeren Straße ohne Wegweiser und Ziel“. Es ist die Tür des nachts geschlossenen Hessischen Landesmuseums, welches (wie alle Museen „geradezu der Inbegriff des Heterotopos“) einen ganz speziellen Blick auf die Welt ermöglicht: „Dingversammlungen sind’s, ja, und mit Sex-Appeal wahrlich! Aber in den Räumen eines stillgelegten Begehrens; vorhanden, aber nicht zuhanden.“ Damit aber gelangen wir – jenseits von Foucault und Heidegger – zum Zentrum der Geiserschen Poetik: Kunst und Kultur als mobile Projektionsflächen der eigenen Fantasie, genauer: der eigenen sexuellen Begierden und Obsessionen.

Nun ist der Mythos von der Verlebendigung des Bildes, die emphatische Aktualisierung kultureller Traditionen, auch die ganz persönliche, imaginäre Aneignung von Kunst-Welten durch eine geistige oder emotionale Identifizierung mit ihren Gestalten und Gegenständen ein alter, seit der Renaissance vielfach durchgespielter und variierter Topos. Geiser fügt diesem mit seiner Erzählung allerdings eine neue, ebenso unerhörte wie anrührende Version hinzu: Vor der verschlossenen Museumstür erinnert sich der Erzähler an die Begegnung mit einem dahinter verborgenen, ganz besonderen Exponat, dem „Neandertaler von Darmstadt“, einer aus Wachs geformten Nachbildung des Kopfes eines jungen Urmenschen, dessen Unterkiefer 1907 in der legendären, bei Darmstadt gelegenen „Grube Messel“ gefunden wurde. Und was sodann auf den nächsten Seiten dieser Erzählung geschildert wird, gehört meines Erachtens mit zum Großartigsten, zugleich zum Komischsten, was der Topos der Bildmagie (auch hier kennt und benennt Geiser die einschlägigen Theoretiker Hans Belting und Jan Assmann) seit der Literatur der Romantik zu bieten hat. Der Erzähler beschreibt die Schönheit des hübschen Kerls in der Vitrine (dessen fotogenes Porträt übrigens auch vier Jahre nach dem Ende der Darmstädter Ausstellung noch im Internet zu bewundern ist) als „stämmig; muskulös; mannbar“; Haut und Haar deuten auf einen mediterranen Einschlag. Er schwärmt von leicht wie „zum Zungenkuss“ geöffneten Lippen, erwähnt die „kupferne Mähne“ und die offenbar speziell für Küsse geformte „fliehende Stirn“. Bei aller Komik und Exzentrik dieser Beschreibung entspricht die Fantasie des einsamen Museumsbesuchers doch haargenau dem aktuellen paläoanthropologischen Wissensstand. Heute weiß man, dass es zu sexuellen, ja „fruchtbringenden“ Kontakten zwischen Neandertalern und Homo sapiens kam. Dass jedoch ein zeitgenössischer Vertreter der Gattung Homo sapiens sapiens beim Anblick eines in Wachs geformten und in einer Museumsvitrine ausgestellten Homo sapiens neandertalensis noch immer „im Bauch die Schmetterlinge aus der Grube Messel“ spürt, ist ein Wissen, das nur die Literatur entdecken und vermitteln kann.

In den nächsten beiden Erzählungen Carlchen – oder: Das Balkonzimmer und Die falschen Toten von San Michele setzt Geiser sein schon aus anderen Büchern bekanntes Verfahren der projektiven Bildbeschreibung fort, bei dem diverse Meisterwerke der Kunstgeschichte als Medium einer detaillierten Selbstbespiegelung verwendet werden. Was in seinen Romanen Das geheime Fieber (1987) und Die Baumeister (1998) virtuos zu einer ganz speziellen Erzählmethode entwickelt wurde, dient hier nun der Annäherung an den deutschen Maler Adolph Menzel, oder richtiger: erscheint im Spiegel der Gemälde eines bedeutenden, doch kleinwüchsigen, ehelosen und hypothetisch homosexuellen Künstlers des 19. Jahrhunderts. In der Fantasie des Betrachters mutieren Menzels Interieurs zu symbolischen Arrangements eines in allen Dingen waltenden sexuellen Begehrens: „Ein verzückter Stuhl, der ekstatisch an dem luftig gebauschten Tüllvorhand, welcher ihn mit seinem Zipfelchen sozusagen streichelt“ steht einem aus dem Bild entlaufenen Amor gegenüber, welcher „mit dem nackten Ärschlein vom übermalten Holzbänkchen gerutscht, von dem man gerade noch die Kante sieht, auf dem rechten, schmutzigen Füßchen balancierend, grätschenschenkelig, aus dem Goldrahmen gestiegen – leichtfüßig, splitternackt! –, und ab die Post. Und übrig blieb, im Nachtraum der Kunst, im schweren, güldnen Rahmen… Gerümpel. Zu nichts mehr nütze. Nichtig… Ein unlesbares Manuskript… Belanglos das kunstvoll drapierte weiße Laken, ohne die drüber abgespreizten Knabenschenkel, nichts als zerknülltes Bettzeug…“.

Die kunst- und kulturgeschichtliche Medialisierung des erzählerischen Begehrens kommt freilich nicht aus ohne potenzsteigernde Seitenblicke auf Caspar David Friedrich, Gustave Moreau, Arnold Böcklin, Edward Hopper, Jackson Pollock, Emilio Vedova, Gerhard Richter, Giorgione, Antonello da Messina, Arthur Rimbaud, Rainer Maria Rilke, Thomas Mann, Sergej Pawlowitsch Djagilew, Hans Sedlmayr, Ezra Pound, Igor Strawinsky, Peter Weiss, Friedrich Dürrenmatt, Ingeborg Bachmann, Rainer Werner Fassbinder. Erwähnung finden zudem ägyptische Mumien und venezianische Familiengräber sowie Geisers Maler-Heroen Piranesi und Caravaggio, die beide bereits das Zentrum früherer Bilderzählungen formten.

Bei diesem assoziativen, zwischen Ernst und Ironie changierenden kunstgeschichtlichen Flanieren und Mäandern, mit seinen zum Bersten von Intertextualität erfüllten Sätzen, gebraucht der Erzähler einen überraschenden narratologischen Modus, dessen experimenteller Gehalt sich erst mit der Zeit erschließt. Das Erzähler-Ich ist nämlich, analog zu Geisers Roman Wenn der Mann im Mord erwacht. Ein Regelverstoß von 2008 gar kein ,Ich‘, sondern ein abstraktes, grammatikalisches ,Wir‘. Doch erst hier, in den bildungsgesättigten Passagen dieser beiden Kurzgeschichten wird klar, dass es sich beim Erzählen in der ersten Person Plural weder um den pluralis majestatis eines hypertrophen Größenselbsts noch um den pluralis modestus einer im Allgemeinmenschlichen verschwimmenden Erzählerstimme handelt, sondern um den vielleicht etwas artifiziellen Versuch, das Problem mit dem Ich und seinen fragilen, im Diskurs der Moderne verschwindenden Verantwortlichkeiten wenn nicht zu lösen, so doch wenigstens schon mal provokativ vom Tisch zu fegen. Auch die den Erzählduktus aller fünf Erzählungen charakterisierenden, rhythmischen, bisweilen fast zwanghaften Einschübe à la „wie man liest“, „lesen wir“, „so müssen wir lesen“, „so schreibt der Tagesspiegel“ usw. stehen für dieses Ringen mit vorgefertigten Diskursen – kleine, vielleicht etwas ungelenke Fluchtversuche aus dem Gefängnis des eigenen Solipsismus. Der verfehlte Ort ist immer auch eine verfehlte Sprache, deren utopische Belastbarkeit der monomanische Intensivsprecher allerdings stets bis an ihre Grenzen auslotet, bisweilen überdehnt. Es ist die Leidenschaftlichkeit und Kompromisslosigkeit dieser Suche, die Geisers Texten ihre besondere Schönheit verleiht.

Erst ganz am Ende der vierten Erzählung, nach ausführlichen anatomischen und kunstgeschichtlichen Studien diverser, mal „süffisant“, mal „lasziv“, mal „arglos“ blickender Knabenkörper, kommt es – „zwei Jahrhunderte Homosexuellendiskurs“ sind genug! – zu einer ebenso erlösenden wie grandios komischen Entladung der angestauten Erzählenergie. Übermannt von einem immer dringlicheren Bedürfnis und der Unmöglichkeit, auf der berühmten venezianischen Toteninsel San Michele eine öffentliche Toilette zu orten, sucht und findet der Erzähler einen Ausweg im schlichten, doch wegweisenden Lächeln einer „alten Dame, gar nicht so alt übrigens, und eigentlich auch keine Dame. Einfach eine Frau, die den Kopf hob, als wir uns näherten und unsere ganz unverfängliche Frage stellten…“. So einfach kann es sein: Einfach jemanden nach dem Weg fragen, einfach pinkeln, alle Anspannung, Ängste und Zwänge hinausspülen und vergessen. Bis zur nächsten Geschichte.

Wer Christoph Geisers Werke kennt und auch dieses Buch bis ans Ende der vierten Erzählung gelesen hat, kommt womöglich bei der Lektüre der fünften, eingangs erwähnten Erzählung Step by Step in gewisse, nun ganz anders gelagerte hermeneutische Schwierigkeiten. Denn der Erzähler überträgt die erwähnte, an Kunstobjekten oder musealen Exponaten geschulte Methode des projektiven Voyeurismus hier auf ein schauriges ,Fait divers‘, das von Dezember 2015 bis März 2018 die Schweizer Öffentlichkeit erregte, und laut Wikipedia als „eines der grausamsten Verbrechen der Schweizer Kriminalgeschichte“ zu werten ist. Der sogenannte „Vierfachmord von Rupperswil“, bei dem der Täter eine ganze Familie auslöschte, um den 13-jährigen Sohn zu vergewaltigen, erscheint im Kontext von Geisers Erzählband als letztes, radikalstes, aber auch reißerischstes Tableau einer ganzen Serie von Selbstbespiegelungen, in denen der Erzähler seine pädophilen Neigungen fokussiert.

Das ,Fait divers‘ als Anregung und Vorlage von Literatur – das ist ein alter, schon im 19. Jahrhundert bewährter Kunstgriff. Unzählige Kriminalfälle wurden von Autoren recherchiert und literarisiert. Dabei ging es stets auch, vielleicht sogar vor allem, um die Motive des Täters. Das Faszinosum des Verbrechens war immer auch das Faszinosum des Verbrechers, einer Gestalt, die sich als Figur der sogenannten Dekadenzliteratur des Fin de Siècle zuweilen gar der ausdrücklichen Komplizenschaft des jeweiligen Autors erfreute. Der sich den rigiden Moralvorstellungen der bürgerlichen Gesellschaft rebellisch bis neurotisch Widersetzende, von dieser dafür Ausgegrenzte und Verstoßene spielte von Charles Baudelaire über Arthur Rimbaud und Fjodor M. Dostojewski bis zu Oscar Wilde und Alfred Döblin eine ganz zentrale Rolle bei der Entwicklung einer enttabuisierten Kunst und Literatur der Moderne. Christoph Geiser weiß das, und seine LeserInnen wissen es auch. Doch wenn der Erzähler in dieser letzten Geschichte vor den geschlossenen Toren des Gerichtsgebäudes steht, nicht zur Verhandlung zugelassen wird, weil sein Name nicht auf der Liste der akkreditierten Journalisten erscheint, er sich die Einzelheiten des Verbrechens, über das er nur aus Artikeln der Boulevardpresse informiert ist, also selbst zusammen reimen muss, verweist der neuerlich „verfehlte Ort“ motivisch zurück auf die geschlossenen Museumstore, hinter denen der Kopf des Neandertalers ausgestellt war. Es ist die Dramaturgie des Erzählbandes, die diesen Zusammenhang suggeriert. Auch hier geschieht, rein erzähltechnisch gesehen, etwas „im Nachhinein“.

Wie er gleich zu Beginn klarstellt, geht es dem Erzähler bei seinen persönlichen Recherchen um eine „Ergänzung der Berichterstattung“, um die in den Medien vernachlässigte bis verleugnete „andere Wahrheit“. Doch worin könnte diese bestehen? – Wie sich bald herausstellt, keineswegs in der Korrektur polizeilich falsch ermittelter oder juristisch falsch gewichteter Fakten, sondern vor allem in der beunruhigen Suche nach Parallelen zwischen dem Begehren des Künstlers und dem des Mörders. Die Zwangshandlungen des Rupperswiler Kinderschänders werden mit der Präzision des Malers verglichen, die Parallele jedoch sogleich wieder verworfen: „Jeder Sadist ist ein Anankast; […] Menzel der Maler, […] war Anankast, aber weder Sadist noch Masochist, sondern Realist und akribisch.“

Doch wie kommt der Erzähler überhaupt auf solche Parallelen? Schuld daran ist, so scheint es, die „Heuchelei“ der Boulevardpresse, die mit „präzis fiesen Bremsmanövern“, sprich: Selbstzensur bei der Beschreibung des Tathergangs, die Fantasie des Lesers dazu zwingt, „zwangsläufig das explizit aus Pietät Ausgesparte“ zu ergänzen: Das eigene Kopfkino als „snuff movie“, in das „ungefiltert von der moralischen Empörung der Medien und des Volkszorns“ die „Details der Tat, unzensiert“ einfließen. Und wenn der Erzähler in ebenso beeindruckender wie verstörender Offenheit gesteht: „Feuer gefangen haben wir, quasi – Blut geleckt; Appetenz entwickelt – als uns klar wurde, dass es hier nicht zentral um Geld ging, sondern um den dreizehnjährigen Knaben“, oder wenn er von den in der Presse verbreiteten Fotos des Mörders schwärmt: „Dunkel. Schön. Sehr erotisch. […] Hell spannt sich die nackte Haut über dem wohlgeformten Bizeps“, sich fragt „Was haftete an seiner Kleidung? Wie besudelt war sein Schwanz? Hat er dem Knaben den Schließmuskel zerrissen?“ oder feststellt „Wir brauchen nicht einmal mehr zu masturbieren – dran denken genügt“, dann stellt sich beim Lesen nach und nach immer heftiger die Frage: Wo sind hier die Grenzen? Darf Literatur das Thema „Pädophilie“ aus der Perspektive des Täters erzählen, dabei Lüste und Motive transparent, womöglich nachvollziehbar machen? Ja radikaler noch: Darf Literatur, genauer: darf ein Erzähler, der sich an keiner Stelle um die Abgrenzung zum realen Autor schert, so etwas erzählen, ohne sich im Schutzraum der Rollenprosa, das heißt hinter der Maske seiner Figuren zu verstecken? Ist sein Vorgehen nicht genauso zweideutig und moralisch verwerflich wie die sensationslüsternen Schlagzeilen der „Revolverpresse“? Darf er, wie diese, die Realnamen der Opfer nennen, sich Schritt für Schritt nicht nur in die grausamen Fantasien, sondern auch in die ödipalen Nöte und Ängste des Täters einfühlen?

Eine Gratwanderung, gewiss. Doch ich finde: ja! Die Literatur und ihre AutorInnen dürfen so etwas. Doch nur, wenn sie es so gut, so ehrlich und genau wie Christoph Geiser tun. So, dass klar wird, worum es hier wirklich geht, um welche überaus verstörende „andere“ Wahrheit, um die unbequeme Tatsache nämlich, dass eine zivilisierte Gesellschaft Pädophilie und kriminellen Sadismus nicht besiegt und beseitigt, indem sie die Täter dämonisiert. Kunst und Literatur haben das Recht, vielleicht sogar die Pflicht, der Angst vor dem Verbotenen, der tabuisierten Lust, dem Selbstekel und der sexuellen Gier ins Auge zu blicken, sich den ebenso naheliegenden wie bedrohlichen Fragen nach der eigenen Grausamkeit oder umgekehrt: dem submissiven Wunsch, „überwältigt zu werden“, zu stellen. Und sie haben das Recht, dabei auf Triggerwarnungen zu verzichten.

Dennoch macht es einen Unterschied, ob ein Erzähler seine pädophilen Fantasien auf ein Gemälde des 19. Jahrhunderts oder auf ein aktuelles Verbrechen projiziert. Das mag mit der geringeren zeitlichen und medialen Distanz zusammenhängen, vielleicht auch nur mit meinem etwas naiven Verständnis von Realität. Einzelne, bisweilen etwas an den Haaren herbei gezogene Parallelen zur Textwelt Franz Kafkas (der Täter ist, wie mehrfach erwähnt wird, Sohn eines „Landvermessers“, weswegen sich der Erzähler auf einem Wanderweg unterhalb von Schloss Lenzburg zielstrebig verirrt) ändern daran nichts, genauso wenig wie einschlägige Goethe-, Rilke-, Wedekind- und Thomas-Mann-Zitate oder Anspielungen auf Topoi der antiken Knabenliebe. Das Skandalon steht mitten im Raum, und es bleibt dort stehen, durch nichts abgefangen oder abgefedert, die Bildungswatte aus Anspielungen und Zitaten vermag hier nichts mehr zu verpacken. Das gilt bis zum allerletzten Satz, in dem der Erzähler sich dezidiert gegen den „Volkszorn“ stellt, indem er die Hoffnung äußert, die „Bestie von Rupperswil“ möge vielleicht, am Ende der „lebenslänglichen, aber nicht lebenslangen“ Haftstrafe „irgendwann doch noch auf die Welt“ kommen. Ein Plädoyer, das eindeutig den literarischen Rahmen sprengt und diesen Text in all seiner Problematik dem hoffentlich unbewaffneten hermeneutischen Engagement seiner LeserInnen ausliefert.

Titelbild

Christoph Geiser: Verfehlte Orte. Erzählungen.
Secession Verlag für Literatur, Zürich 2019.
176 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783906910512

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch