Wenn der eigene Vater „der gute Mensch im SS-Staat“ war

In „Was mein Vater nicht erzählte“ rekonstruiert Hermann Kurzke das Leben seines Vaters in der Nazizeit und hinterfragt zugleich das Schweigen zwischen den Generationen

Von Rafael Arto-HaumacherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rafael Arto-Haumacher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mancher, der nicht zur jüngeren Generation gehört, kennt sie noch: Verwandte, die die Nazizeit miterlebt haben; Zeitzeugen, die zu Lebzeiten unendlich viel über das Alltagsleben während der Schreckensherrschaft Hitlers hätten erzählen können. Nur: Sie schwiegen. Allenfalls ein als Entlastung gemeinter Hinweis, man habe von den Gräueln erst „hinterher“ erfahren, war ihnen zu entlocken. Man spürte förmlich die Aura der Tabuisierung und des Unangenehmen, also fragte man nicht weiter nach – um sich erst nach dem Tod der Verwandten der verpassten Chance schmerzlich bewusst zu werden.

So ging es Hermann Kurzke, renommierter Germanist und bekannter Thomas-Mann-Forscher, mit seinem Vater Herbert Kurzke, der während der Nazizeit als Physiker tätig war. Erst nach dessen Tod im Jahr 1982 stößt Kurzke auf zahlreiche vom Vater verwahrte Akten. Die dort enthaltenen Informationen, zum Beispiel der Hinweis auf die Verleihung des Kriegsverdienstkreuzes im Jahr 1941, lassen Unbehagen und Neugierde gleichermaßen wachsen. Kurzke beginnt mit intensiven Recherchen in privaten und öffentlichen Archiven. Er rekonstruiert das Leben seines Vaters, das ihm über weite Strecken unbekannt geblieben war. Dabei interessiert den Sohn die Verstrickung seines Vaters in die Machenschaften des Naziregimes ebenso wie des Vaters späteres Schweigen, aber auch die eigene Sprachlosigkeit über Jahre hinweg, ein Phänomen, das schon Margarete und Alexander Mitscherlich in ihrer grundlegenden Abhandlung Über die Unfähigkeit zu trauern (1967) als Zeichen kollektiver Verdrängung charakterisierten.

Herbert Kurzkes Biografie war reich an Stationen und beruflichen Wendungen. 1910 geboren, promovierte er in Physik, scheiterte in einem Habilitationsverfahren, arbeitete fortan am Forschungsinstitut für Physik in Berlin und hatte gute Kontakte zur Luftwaffe, zur Kriegsmarine und zur Heeresforschungsanstalt. Er war federführend an mehr als 70 Patenten „für lenkbare Geschosse, für spezielle Raketenzünder und für Geräte zur Kommunikation von Kleinst-Ubooten“ beteiligt und erhielt das Kriegsverdienstkreuz mit einer wie üblich von Adolf Hitler unterschriebenen Urkunde. Nach der Entnazifizierung und der offiziellen Einstufung als „Mitläufer“ arbeitete er unter anderem in den Farbwerken Hoechst in leitender Position.

Hermann Kurzke verwebt die gut recherchierten und spannend erzählten biografischen Stationen mit fiktiven Dialogen, in denen er die zu Lebzeiten versäumten Gespräche gewissermaßen nachholt. Eingestreut sind zudem Reflexionen – auch aus Sicht des Vaters – über Themen wie Anständigkeit oder Religion, weiterhin dokumentarische Passagen sowie Erläuterungen zu vielen Patenten, an denen sein Vater mitwirkte. In der gekonnten Verschränkung von Dokumentarisch-Biografischem und Fiktiv-Literarischem entsteht nicht nur die enorm fesselnde Schilderung einer Biografie, die Kurzke unter das bewusst diskrepante Motto „der gute Mensch im SS-Staat“ oder „der anständige Mann im Nationalsozialismus“ stellt, sondern ebenso die Charakterstudie eines „Mitläufers“, der die politischen und moralischen Verwerfungen des Naziregimes als gesetzte Rahmenbedingungen für die blinde Fokussierung auf Job und Familie hinnimmt. Gezeichnet wird der Lebensweg eines opportunistischen Bürgers im SS-Staat, der zwar nie Mitglied in der NSDAP und nur kurz Mitglied in der SA war, dessen wehrnahe Forschung nie in die Serienproduktion Eingang fand und der sich nie offen zum Antisemitismus bekannte, aber dennoch durch viele kleine systemstützende Handlungen und Verhaltensweisen zum Fortgang des Hitler-Regimes beitrug: „Viele hundert winzige Kompromisse von 80 Millionen Volksgenossen summierten sich zu beträchtlichen Effekten.“

Zentrale Stellen des Buchs sind die fiktiven Dialoge mit dem Vater – dem Kurzke durchaus eine „katholische Distanz zum Nationalsozialismus“ attestiert –, in denen es um Schuld, Schweigen, Ignorieren und Verantwortung geht. Im Kapitel Verdrängen und Verschweigen gipfelt der Disput in der anklagenden Haltung des Sohnes und der defensiven, apologetischen Haltung des Vaters. Zu dessen Mitgliedschaften in politisch zwar weniger relevanten, aber doch von den Nazis ins Leben gerufenen Organisationen, etwa im NS Kraftfahr-Korps, lässt Kurzke seinen Vater sagen: „Es waren alles keine besonders wichtigen Sachen … Ganz so übel ist meine Nazi-Bilanz nicht. Ich finde mein Leben im Großen und Ganzen vergleichsweise in Ordnung.“ Der Sohn kontert: „Daß du alles verkleinern würdest, habe ich mir gedacht. Du warst ja immer anständig.“

Der ironische Ton verweist auf ein Leitmotiv des Buchs, das Kurzke aus verschiedenen Perspektiven konturiert: Kann jemand Anstand für sich reklamieren, nur weil er nicht direkt zu den aktiven Unterstützern des Nazi-Regimes gehörte? Die Frage nach der Verantwortung wischt der Vater denn auch im Dialog mit einer typischen Antwort vom Tisch, die dem von ihm  gezeichneten Charakterbild entspricht: „Ja, aber sie ist begrenzt auf das, wofür ich eben verantwortlich war.“ Dabei ist sich Kurzke durchaus bewusst, dass er als Sohn durch sein Schweigen ebenso Teil an der Verdrängung hatte; insofern muss man sein Buch nicht nur als Aufarbeitung oder Abrechnung, sondern auch als Sühne, als Katharsis lesen: „Erinnert man das Einzelne nicht mehr, dann zerfleddert auch das Ganze … Damit sind 99 Prozent der Verdrängungsarbeit geleistet. Ich selbst nahm an der Traumatisierung teil und ließ mich hineinziehen, indem ich nie nach Einzelheiten gefragt habe.“

Was mein Vater nicht erzählte lebt nicht nur von der gekonnten Verflechtung von Dokumentarischem und Fiktivem, sondern ebenso von der inneren Spannung der Rollen, die Hermann Kurzke einnimmt: Er ist Detektiv, Ankläger, Richter, Dokumentar, sicher auch Nestbeschmutzer – und vor allem natürlich: Sohn. Sein Buch ist zuallererst eine schonungslose Abrechnung mit der Verdrängungshaltung des Vaters und zugleich eine schmerzhafte Liebeserklärung, in der das Spannungsverhältnis von Anklage, Vaterbild, Schweigen und der eigenen Blindheit anklingt: „seine wunderbaren Eigenschaften, für die wir ihn liebten, wurden Systembestandteile des Bösen. Er hat geschwiegen; er wird Gründe zum Schweigen gehabt haben, gute und schlechte.“

Kurzke ist ein Buch gelungen, das nicht nur packend erzählt, sondern aufgrund seines persönlichen Ausmaßes ebenso berührend ist. Darüber hinaus lässt es sich als exemplarische Studie der Abermillionen Mitläufer in der Nazizeit lesen und vermittelt dadurch einen Erkenntniswert, der sicherlich auf einer Stufe mit den Ergebnissen so mancher rein wissenschaftlich-historiografischer Untersuchungen steht.

Titelbild

Hermann Kurzke: Was mein Vater nicht erzählte. Geschichte eines ‚Mitläufers‘.
Verlag C.H.Beck, München 2019.
224 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783406731396

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