Ein Mathematiker sucht Erklärungen im Spiritismus

Alexander Pechmanns eleganter Roman aus dem London der 1920er Jahre

Von Martin GaiserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Gaiser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Finley wollte das sogenannte „Ticket nach Blitey“ lösen, weil er es in diesem schrecklichen Krieg nicht länger aushielt. Diese Redewendung verwendeten Soldaten, um über den Umweg einer Verletzung aus dem Albtraum gewordenen Leben entkommen zu können. Finley hob eine Hand, die prompt vom Feind ins Visier genommen und getroffen wurde. Derart verletzt, wird er von der „Breakspeare Ambulance Unit“, einer nur von Frauen betriebenen Ambulanz, eilig Richtung Krankenhaus abtransportiert (das erinnert ein wenig an die „Weibliche Kriminalpolizei“ aus Robert Bracks Roman Und das Meer gab seine Toten wieder (2008). Doch vorher konnte er seinem Kameraden Peter Vane eine Daguerrotypie, das Bildnis eines kleinen Mädchens, geben, welches dieser aufbewahren sollte.

Der Krieg geht zu Ende und Peter Vane richtet sich in London ein, wo er Mathematik, speziell die Riemannʼsche Geometrie, mit großem Eifer studiert. Vier Jahre sind vergangen, doch Peter wird die Schrecken des Krieges, die Traumata von Gewalt und sinnlosem Töten nicht los. Und so beginnt Alexander Pechmanns virtuoser Roman Die Nebelkrähe mit einem der vielen Albträume des jungen Mannes. Er erwacht, weil er den Namen Lily gehört hat, so real, so deutlich, dass er beinahe geneigt ist, von seinem auf Fakten, Zahlen, Logik und Beweisen dominierten Denken abzurücken. Als er seinen Freund Frank vorsichtig auf dieses Thema anspricht, rät dieser ihm, es doch einmal mit Spiritismus zu versuchen. Doch Peter kann sich nicht so schnell damit anfreunden, ist skeptisch: „Natürlich können wir alles als Quatsch oder Betrug bezeichnen, was wir nicht verstehen. Oder wir versuchen, die Wahrheit herauszufinden.“ Frank schafft es, seinem Freund die Skepsis zu nehmen und rät ihm, sich an die London Spiritualist Alliance in Bloomsbury zu wenden. Trotz aller Vorbehalte sucht Peter diese Einrichtung auf; seine Neugier und sein Wunsch zu begreifen sind so groß, dass er seine Überzeugungen beiseiteschiebt, zumal er immer wieder Finleys Stimme zu vernehmen scheint, beinahe eine Art Zwiegespräch mit dem ehemaligen Kameraden führt.

Was hat es mit dem Bild des Mädchens auf sich? Ist sie die Lily aus seinem Traum und in welchem Verhältnis steht sie zu Finley? Antworten auf diese Fragen könnten Peter, so hofft er, helfen, diese unvollständige und ihn so heftig bedrängende Geschichte zu verstehen und möglicherweise sogar abzuschließen. Und so macht er die Bekanntschaft der ehrgeizigen und geheimnisvollen Hester Dowden, die ihn einlädt, bei nächster Gelegenheit an einem Kurs in automatischem Schreiben teilzunehmen.

In besagter London Spiritualist Alliance finden dann und wann Vorträge der Society for Psychical Research statt; Alexander Pechmann beschreibt Peter Vanes ersten Eindruck dieses Ortes so:

In dem dämmrigen, schmucklosen Vorzimmer lagen auf einem Wandbrett Flugblätter und Broschüren zu Veranstaltungen, deren Themen mir weitgehend abwegig, wenn nicht sogar lächerlich erschienen: Geisterfotografie, Manifestationen des Überirdischen, Astralreisen, Séancen, Botschaften aus Sommerland, Krafttiere im Schamanismus. Lucifer, die Zeitschrift der Theosophen. Auch die Suffragetten hatten ihre unvermeidlichen Handzettel aufgelegt. Ich fühlte mich absolut fehl am Platz. Frank hatte sich wohl einen Scherz erlaubt.

Es ist die Mischung aus historischen und leicht abgewandelten Fakten und der erzählerischen Fantasie, die Die Nebelkrähe zu einem ungemein unterhaltsamen und intelligenten Lesegenuss macht. Pechmann, der ein Experte für englische Literatur ist und neben Hermann Melville und Mary Shelley auch Mark Twain und Lafcadio Hearn ins Deutsche übersetzt hat, hat sich für dieses Buch ausführlich mit Oscar Wilde beschäftigt, dessen Ausspruch „Die Berichte, die ich aus dem Jenseits erhalten habe, sind nicht besonders verlockend.“ dem Buch als Motto vorangestellt ist. Darin verbinden sich die zwei Hauptthemen des Romans, das Okkulte und Oscar Wilde. In beide Welten wird Peter Vane immer stärker hineingezogen, lernt er doch bei den Spiritisten Dolly kennen, Oscar Wildes Nichte. Und tatsächlich erkennt er in ihr jene Frau wieder, die damals das Ambulanzauto fuhr, mit dem Finley von den Schlachtfeldern abtransportiert wurde. Mit großer Sachkenntnis – sehr erhellend sind die dem Buch angehängten Quellen – beschreibt der Autor die Sitzungen mit Hester Dowden, erläutert den Vorgang des automatischen Schreibens mittels der sogenannten unterstützten Kommunikation. Die Verbindung aus Mädchenbildnis und spiritistischer Sitzung fördert tatsächlich von Peter Vanes Hand geschriebene Worte und Sätze zutage, die sowohl inhaltlich als auch graphologisch Oscar Wilde zugeschrieben werden könnten. Peter lässt seine mathematischen Studien ruhen, er fühlt sich indes immer stärker zu der schillernden Dolly hingezogen, mit der er in einem roten Bentley durch London fährt, da sie immer neue Adressen und Kontaktpersonen auftut; ihre Berühmtheit und ihr gesellschaftlicher Status öffnen dem ungleichen Paar viele Türen. Doch die Suche nach der oder einer Wahrheit führt in immer neue Labyrinthe. Die Nebelkrähe ist ein raffiniertes literarisches Spiel mit Illusionen, Trugbildern und dem Wunsch nach Gewissheit. Trotz seiner profunden Kenntnis hat Alexander Pechmann kein schweres gelehrtes, sondern vielmehr ein wunderbar lesbares Buch geschrieben, das mit viel Atmosphäre das London der 1920er Jahre zeigt, das spannend und äußerst originell ist.

Titelbild

Alexander Pechmann: Die Nebelkrähe. Roman.
Steidl Verlag, Göttingen 2019.
175 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783958295834

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