Vom Schnarchen der Delfine

Eine Reise durch Alexander von Humboldts „Tierleben“

Von Tobias WeilandtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tobias Weilandt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In diesem Jahr wird der 250. Geburtstag des Forschungsreisenden Alexander von Humboldt gefeiert. Der wissenschaftliche Tausendsassa wird seit einigen Jahren neu entdeckt. Der regelrechte Hype um Humboldt, der nunmehr seit etwa seinem 150. Todestage im Jahr 2009 anhält, wird regelmäßig durch neue Publikationen befeuert, die sein Denken und seine Schriften einem breiten Publikum zugänglich machen sollen. Zu Recht, gilt er doch als „Erfinder der Natur“ (Andrea Wulf), der als erster die Auswirkungen von Veränderungen natürlicher Gegebenheiten für das Klima erkannte und somit häufig als als Vordenker der modernen Ökologie postuliert wird.

Mit Tierleben legt die Literaturwissenschaftlerin Sarah Bärtschi eine Sammlung ausgewählter Textpassagen aus dem Gesamtwerk von Alexander von Humboldt vor, in denen es um exotische Tiere und deren Besonderheiten oder Habitate geht. So spekuliert Humboldt unter anderem über die Ursachen des Leuchtens der Medusen im Atlantik, man erfährt von einem alten Papagei im kolumbianischen Maipures, der laut Legende der letzte Sprecher der alten Sprache der Atures sei – einer Ethnie, die kurz vor Humboldts Ankunft von Kannibalen gänzlich verspeist wurde. Man amüsiert sich über das angebliche „Schnarchen der Süßwasser-Delphine“ im Orinoko, beobachtet Humboldt bei der Vermessung und Sezierung des Orinoko-Manatis (Seekuh) und leidet mit und ist zugleich froh fern des Orinokos zu sein, wenn der Berliner Forschungsreisende angesichts der schieren Undurchdringlichkeit von Massen an Moskitos und anderen blutsaugenden und stechenden Insekten berichtet:

„Mag man immer die größten Schmerzen ohne Murren ertragen können; mag man auch das lebhafteste Interesse an den Gegenständen haben, die man untersuchen will, dennoch wird man unaufhörlich durch die Mosquitos, Zancudos, Jejen und Tempraneros davon abgezogen, die sich in Schaaren auf Gesicht und Hände niederlassen, die Kleider mit ihren nadelförmigen Rüsseln durchbohren, die in Nase und Mund fliegen, und so ein unaufhörliches Husten und Nießen erzeugen, sobald man in freier Luft sprechen will.“

Insgesamt 15 Texte versammelt Bärtschi in ihrer Anthologie Tierleben und bedient sich dabei verschiedener Quellen wie etwa Humboldts Reise in die Aequinoctial-Gegenden des neuen Continents in den Jahren 1799, 1800, 1801, 1802, 1803 und 1804, seinen Tagebüchern, seiner Lieblingsschrift Ansichten über die Natur und Zeitschriftenartikel sowie kleineren wissenschaftlichen Abhandlungen. Eine solche Textsammlung lag bisher noch nicht vor, wie in den editorischen Notizen zu diesem Band zu lesen ist. Die Herausgeberin Sarah Bärtschi merkt an, dass die Schriften und Zeichnungen, die als Sujet Tiere beinhalten, von Humboldt selbst etwas nachlässig behandelt wurden. So gab er beispielsweise seinem damaligen Herausgeber erst in hohem Alter den Hinweis, dass der ein oder andere Schatz über das Tierreich des „Aequinoctialgebietes“ noch in seinen Reisetagebüchern schlummert und alsbald gehoben werden sollte. Dazu kam es zu Lebzeiten von Humboldt nur sporadisch. Bekannt wurden einzelne Schriften zumeist erst durch die postume Verbreitung in Zeitungen und populären Magazinen. Warum Humboldt das tierliche Leben offenbar als nur zweitrangig ansah, kann Bärtschi leider nicht in Gänze klären. Schade, denn letztlich ist diese Frage doch der Grund, warum erst im Jahr 2019 ein solches Textkonglomerat vorgelegt wurde.

Die einzelnen Passagen aus dem Œevre Humboldts sind in vier Kapitel eingeteilt, die jeweils einen Lebensraum benennen. So wurde der bekannte Text über die Zitteraale in der Nähe von Caracas in das Kapitel „Im Wasser“ eingeordnet. Die Berichte über verschiedene Affenarten in Südamerika finden sich im Abschnitt „In den Wäldern“ gefolgt von den Teilbereichen „In den Höhlen“ und „In den Lüften“. Letzterer Teil berichtet, mit einem Augenzwinkern, von sogenannten „Kraterfischen“, die bei Ausbrüchen verschiedener Vulkane in den Anden (u.a. Imbabura und Cotopaxi in Ecuador) über weite Entfernungen vom Himmel regnen. Abgerundet wird Tierleben mit einer Übersicht über die Lebensdaten und Werke Humboldts, einem kurzen Vorwort und einem längeren Nachwort der Herausgeberin sowie den üblichen Appendices wie einem Quellenverzeichnis und editorischen Notizen.

Das Vorwort soll die Lust an der folgenden Lektüre forcieren, vermag aber kaum eine erste Orientierung oder Lektürehilfe für die kommenden wissenschaftlichen Texte von Humboldt anzubieten. So werden die Leser unvermittelt ins kalte Wasser geworfen, was aber vernachlässigbar ist, handelt es sich bei den vorliegenden Texten doch um fast durchweg zugängliche Auszüge aus dem Humboldtschen Werk, verglichen mit vereinzelten Überlegungen in seinem Hauptwerk Kosmos.

Im Nachwort gibt Bärtschi einen Überblick über die versammelten Texte. Durch pointierte Zusammenfassungen und Hinweise auf besonders relevante und literarisch herausragende Textstellen, lenkt die den Blick der Leser/innen. Dies ist gerade für Humboldt-„Anfänger/innen“ besonders hilfreich, denn so bekommen diese einen ersten Eindruck vom wissenschaftlichen als auch narrativen Wert der vorliegenden Ausführungen Humboldts.

Ebenfalls im Nachwort deutet die Herausgeberin des Bandes einige politische, wissenschaftliche und zeithistorische Kontextualisierungen an. So erfährt man, dass Alexander von Humboldt so manche Vorurteile und Fehleinschätzungen seiner Kollegen ausräumen musste. War es im napoleonischen Preußen gang und gäbe, anhand von Laien-Reiseberichten seine Schlussfolgerungen über die exotische Flora und Fauna Südamerikas zu ziehen, befand sich Humboldt vor Ort und stellte einiges im damaligen biologischen Klassifikationssystem nach Linné richtig. Gleichzeitig erkannte er aber auch den großen, umfassenden Zusammenhang zwischen Flora, Fauna und Klimazonen und emanzipierte sich von vorherrschenden Unterteilungen, wie Bärtschi zu berichten weiß.

So sei es auch verständlich, dass die zoologischen Schriften Humboldts keiner Systematik folgten, sondern eher „zufällig“ daherkämen. Vor allem in seinem Bericht über die südamerikanische Forschungsreise tauchten die Tierbeschreibungen seiner Amerikareise in der Reihenfolge der Beobachtungen der Tiere auf. Oder um es in Bärtschis Worten zu sagen: „Wäre die Reise auf anderen Pfaden verlaufen, so hätte er andere Tiere erforscht.“ Ganz ohne Systematik konnte aber auch Humboldt nicht sein Monumentalwerk Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung verfassen. Bedeutet Kosmos bekanntermaßen so viel wie Ordnung oder Weltordnung, bestand seine Systematik nicht in rein theoretischen Gebilden, deren Grundlage wiederum die damalige Trennung der Wissenschaften war, sondern war Resultat seiner eigenen empirischen Untersuchungen. Er sah das große Ganze und begriff die Natur als eine „globale Kraft“ (Andrea Wulff) mit einander entsprechenden Klimazonen auf verschiedenen Kontinenten. Eine Auffassung, die auch unser heutiges Verständnis von ökologischen Systemen zugrunde liegt.

Nach Bärtschi waren Tiere für Humboldt allein hinsichtlich bestimmter Phänomene wie beispielsweise der Elektrizität der Zitteraale, des anatomischen Aufbaus von Seekühen und dem Vorkommen von Moskitos zu bestimmten Tages- und Jahreszeiten interessant. So notiert sie: „Und hätte Humboldt sich nicht für tierische Elektrizität oder die geologische Beschaffenheit der Höhle des Nachtvogels interessiert, wäre er den in diesem Band versammelten Tierarten nicht so nahe gekommen. Humboldts Zoologie ist eine Wissenschaft in Wechselwirkung mit anderen Disziplinen, sowohl naturwissenschaftlichen als auch kulturanthropologischen.“ Tiere waren für Humboldt demnach nur von Bedeutung, wenn sie eine bestimmte Fähigkeit oder Funktion auszeichnete, die wiederum interdisziplinäre Zugänge und einen Brückenschlag zu „höheren Fragen“ erlaubten. So erläutert Bärtschi, dass Humboldt sich schon früh auf die Suche nach dem „Phänomen der Lebenskraft“ machte und diese in den bioelektromagnetischen Feldern der Zitteraale vermutete. Allein deshalb nahm er die Mühen auf sich, Zitteraale zu fangen und ein Exemplar sogar verschiffen zu lassen. Seine Ergebnisse veröffentlichte er 1807 unter dem Titel Jagd und Kampf der electrischen Aale mit Pferden. Mit der Suche nach der „Lebenskraft“ sollte die entscheidende Frage nach dem Unterschied zwischen belebter und unbelebter Natur entschieden werden.

Im weiteren Verlauf des Nachworts klärt Bärtschi über tierische Mahnmale auf, schildert den wissenschaftlichen Zwist zwischen Humboldt und Buffon und spekuliert über den Kulturrelativismus des Berliner Forschers. Ohne Kommentar seitens der Herausgeberin bleibt leider eine Textstelle, in der Alexander von Humboldt als Grabräuber und Störer der Totenruhe in Venezuela auftritt: „Wir verließen die Höhle bei einbrechender Nacht, nachdem wir mehrere Schädel und das vollständige Skelett eines bejahrten Mannes, zum größten Aergerniß unsrer indianischen Führer, gesammelt hatten.“ Zumindest ein kurzes kritisches Wort wäre hier sicherlich angebracht gewesen, gerade vor dem Hintergrund der geplanten und heftig umstrittenen Ausstellungen im Berliner Humboldt-Forum und den bis heute in europäischen Sammlungen befindlichen Gegenständen von den Reisen des rastlosen Naturforschers.

Viele Themen und Fragen bleiben in Tierleben unbehandelt beziehungsweise bricht Bärtschi ihre Ausführungen zuweilen dann ab, wenn es richtig spannend wird. So bleiben die Leser gelegentlich etwas ratlos zurück: Was zeichnet die ausgewählten Texte aus, dass sie ihren Weg in die Sammlung schafften? Warum wurde der Text Der Aturen-Papagei aufgenommen? Handelt es sich bei diesem doch um ein Haustier, nicht aber um eine eigene Art. Außerdem erfährt man im Text nicht viel über ihn. Im Fokus stehen vielmehr die Umgebung des Maipura-Katarakts und der Genozid an den Aturen. Was sind die literarischen Besonderheiten der Tiertexte Humboldts? Und welche Aussagekraft haben die Beobachtungen und Ausführungen über Krokodile, Affen, Jaguare und Moskitos heute noch?

Leider verliert die Herausgeberin auch kaum ein Wort über die beeindruckenden fotorealistischen Abbildungen der einzelnen Tiere, die die Texte begleiten. Das ist umso bedauerlicher, als sie maßgeblich an der Herausgabe der Anthologie Alexander von Humboldt. Das graphische Gesamtwerk mitarbeitete. Die Expertise läge also eindeutig vor, um näher auf die Zeichnungen eingehen zu können.

Sind die Texte Humboldts in dieser Ausgabe allemal lesenswert, bleibt nach der Lektüre des Nachwortes ein wenig der Eindruck, dass mit Tierleben eine Sammlung veröffentlicht wurde, deren Grundidee und Zielsetzung etwas unausgegoren ist.

Titelbild

Alexander von Humboldt: Tierleben.
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Sarah Bärtschi.
Friedenauer Presse, Berlin 2019.
187 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783932109904

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