Strategien der Faketionalisierung

In „Fake oder Fiktion“ demonstriert Thomas Strässle, wie eng Lüge und Wahrheit miteinander verwandt sind

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Unter dem Titel Die Wahrheit schafft sich ab haben Romy Jaster und David Lanius 2019 einen kompakten Überblick über Strategien und Funktionsweisen von Fake News vorgelegt. Sie legen unter gesellschaftspolitischen Blickwinkeln dar, wie die „Wahrheit“ in einer Unmenge von Lügen, Bullshit und Falschmeldungen verloren geht. Wohlwissend weisen sie darauf hin, dass es keine simplen Rezepte für und gegen Fake News gibt. Diesem Befund stimmt auch Thomas Strässle zu, wenn er dem Phänomen Fake mit literaturwissenschaftlichen Mitteln näher auf den Grund geht. Politisch betrachtet werden Fake und Fakten gerne einer dualistischen Logik unterworfen: wahr – falsch, real – erfunden. Gelegentlich entspricht diese Logik einem konkreten Sachverhalt, doch in vielen Fällen sind Fake News nicht einfach mit dem Verdacht auf  böswilliges Lügen korrekt einzugrenzen. Steckt nicht mehr dahinter?

„Das Phänomen Fake“, schreibt Strässle, „lässt sich nicht nur in seinem Gegensatz zum Faktischen betrachten, sondern auch in Hinsicht auf Fiktion“. In der literarischen Fiktion steckt ein Fake-Element, das mit faktualen Anteilen im Spannungsverhältnis steht. Nach der rhetorischen Lehre kennt dieses Element zwei grundlegende Spielarten: die Täuschung und die Ent-Täuschung. Infolgedessen unternimmt Strässle den Versuch, mittels der Literaturwissenschaft Einblick in die Bedingungen und Strategien dessen zu geben, was heute landläufig und oft allzu oberflächlich unter dem Begriff Fake subsummiert wird.

Die Literatur ist eine ausgewiesene Spezialistin für Faketionalität und Faketionalisierung. Strässle demonstriert es geschickt an einigen trefflichen Literaturbeispielen: Hermann Burgers Schilten, Wolfgang Hildesheimers Lieblose Legenden, Clemens J. Setz’ Indigo, Martin Schneitewinds An den Mauern des Paradieses oder Hans Traxlers Die Wahrheit über Hänsel und Gretel. Jeder dieser Texte verfolgt ein eigenes Sample an verfremdenden, faketionalisierenden Strategien, die Strässle anhand eines Katalogs von narratologischen Kriterien wie Intention, Wissen/Nichtwissen, Plausibilität, Publizität, Suggestion und Identifikation herausarbeitet. Die Beispieltexte geben freilich nicht nur Aufschluss über ihre faketionale Vielfältigkeit und Komplexität, sie demonstrieren auch, wie raffiniert Fake-Nachrichten die „schleifenden Schnitte“ vom Realen ins Irreale und umgekehrt vollziehen können.

Mit Hinweis auf den Philosophen Hans Vaihinger und sein Werk Die Philosophie des Als Ob (1911) kommt Strässle gegen Schluss auf die zentrale Frage nach der Funktion von Fiktion zu sprechen. Er zitiert dafür Vaihinger: „Das Denken macht Umwege: dieser Satz enthält das eigentliche Geheimnis aller Fiktionen.“ Das heißt, ergänzt Strässle, dass Fiktionen Umwege sind auf dem Weg zu Erkenntnis und Wahrheit, womit sich eine gefährliche Nähe von Fakt und Fake einstellen kann. Doch genau diese „Umwege“ sind aufschlussreich, denn sie bedeuten, dass Fakes immer auch Räume öffnen, die zu ergründen sind: die Intention äußert sich in den Absichten der Fake-Produzenten, das Wissen / Nichtwissen in deren Ansichten, die Plausibilisierung und Suggestion in den Strategien ihrer Fake News und schließlich die Publizität in den Echoräumen, die sie für ihre Wirksamkeit benötigen. Auf ebenso stringente wie anschauliche Weise beschreitet Strässle so selbst einen Umweg über den (fiktiven) Fake in ästhetischer und philosophischer Hinsicht, um darin den verräterischen Charakter des politischen Fakes zu erkennen. Er appelliert damit an unsere Wachsamkeit: „Wenn der Fake zwei Seiten hat, so erfordert er auch den doppelten Blick“, schließt sein Essay. Eine Palette von konkreten Gegenstrategien liefern ergänzend Romy Jaster und David Lanius in ihrem Buch über Fake News.

Titelbild

Thomas Strässle: Fake und Fiktion. Über die Erfindung von Wahrheit.
Carl Hanser Verlag, München 2019.
128 Seiten, 13,99 EUR.
ISBN-13: 9783446262294

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