Alle Macht den Drogen
In „Ich bin die, vor der mich meine Mutter gewarnt hat“ zeichnet Demian Lienhard ein beeindruckend deprimierendes Bild von der Schweiz der 80er Jahre
Von Franziska Rauh
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseZunächst einmal muss man sagen: Es gibt übertrieben viele Tote in Demian Lienhards Debütroman. Der Stiefvater und die Schwester von Alba Doppler, der jungen Protagonistin und Erzählerin, die Schwester ihres Freundes Jack, drei ihrer Klassenkamerad*innen, ihre besten Freunde Eddie, Vincent und Roy – alle sind sie tot am Ende von knapp 400 Seiten einer Erzählung, die man wohl als ein Alptraum-Coming of Age bezeichnen kann. Über einen Zeitraum von ungefähr zehn Jahren erzählt Alba ihr frühes Erwachsenenleben in der Schweiz der 1980er bis Anfang der 1990er Jahre. Zu Beginn steht Alba kurz vor der Matura in einer trostlosen Kleinstadt, die sich vor allem durch ihre hohe Selbstmordrate auszeichnet. Ganz Kind ihrer Stadt versucht auch Alba sich das Leben zu nehmen – und scheitert, weil einfach nicht genug Blut aus ihr herauslaufen will. Von der Hochbrücke zu springen, eigentlich Mittel der Wahl in Albas Heimatstadt, kommt für sie nicht infrage, wegen ihrer Höhenangst.
Schnoddrig, so warm- wie offenherzig, teilweise kindlich-naiv ist der Ton dieser Erzählerin Alba, die von all den Katastrophen ihres jungen Lebens so beiläufig erzählt, als wären das eben die normalen Hürden, denen man sich zwischen siebzehn und dreißig zu stellen hat. Wäre sie nicht wie sie ist und wäre sie nicht (mit Vorbehalten, auf die noch einzugehen ist) eine wirklich mitreißende Erzählerin, dann wäre dieser Roman kaum auszuhalten, denn Alba lässt nichts aus auf ihrer Heldenreise: Suizidversuch, Autounfall, schmerzhafte Trennung, Abtreibung, exzessiver Drogenkonsum, Bestattung zahlreicher nahestehender Personen. Immer wenn man sich als Leser*in gerade von der letzten Katastrophe erholt hat, holt der Roman noch einmal aus und verpasst den nächsten Schlag in die Magengrube. Das heißt, eigentlich passiert das, bevor man sich erholt hat.
Besonders in der zweiten Hälfte des Romans stolpert man den Ereignissen und Wendungen etwas atemlos hinterher. Auf wenigen Seiten verliert Alba ihre große Liebe Jack und ihre beste Freundin Eulalia und erfährt von ihrer unzeitigen Schwangerschaft, nur um nach dem nächsten Umblättern zu verkünden, dass das alles doch nicht passiert ist, oder zumindest nicht so, wie sie es erzählt hat. Zu diesem Zeitpunkt der Lektüre hat man noch 140 Seiten vor sich und fragt sich, was zur Hölle eigentlich jetzt noch kommen soll. Heroin, lautet die Antwort. Aus einer unzuverlässigen wird eine zunehmend unzurechnungsfähige Erzählerin und aus einem Roman über jugendliche Todessehnsucht – so weit so typisch, man denke an Literatur-Klassiker wie Unterm Rad, den Kultfilm Club der toten Dichter oder Jay Ashers Bestseller bzw. die aktuell beliebte Netflix-Skandalserie Tote Mädchen lügen nicht – wird ein Porträt der Zürcher Drogenszene in einer Zeit, als die Stadt mit schwindelerregenden HIV- und Hepatitis-Raten kämpfte.
Zu dieser Zeit wird der 32-jährige Autor Lienhard gerade erst geboren. Auch wenn er wie seine Protagonistin aus einer Schweizer Kleinstadt mit Hochbrücke stammt, sind es wohl kaum seine eigenen Erfahrungen, die der Roman verarbeitet. Einen persönlichen Bezug zu der Geschichte, die er erzählt, scheint es aber dennoch zu geben: Der Roman ist einer Alba Doppler gewidmet, der Lienhard im Anhang explizit dankt. In einem der letzten Kapitel begegnet die fiktive Alba im Schwimmbad einem kleinen Jungen, der sie daran erinnert, dass das Leben lebenswert sein kann, und dem sie ein Eis kauft – der Junge heißt Demian.
Mit „Ich bin die, vor der mich meine Mutter gewarnt hat“ legt Lienhard sein Debüt vor, im Literaturbetrieb ist er als zweimaliger Finalist der Nachwuchsschmiede open mike (2016 und 2018) aber kein unbeschriebenes Blatt. Mit Alba Doppler hat er zweifellos eine originelle, unverwechselbare Erzählstimme geschaffen, die in Erinnerung bleibt. Das, was den Roman stellenweise so schwer erträglich macht, ist auch das, was ihn stark macht: Lienhard erzählt die Szenen aus, er lässt nichts angedeutet. Er beschreibt etwa ausführlich, wie Alba mit aufgeschnittenen Pulsadern im Schnee liegt, wie sie langsam Panik bekommt, dass sie doch nicht sterben könnte, und sich daran erinnert, was sie im Religionsunterricht über das Schächten von Tieren gelernt hat. Er beschreibt die halbtoten Heroin-Junkies am Zürcher Platzspitz, die in eitrig-vernarbten Armen nach der letzten brauchbaren Vene suchen. Er lässt einen Arzt eine Abtreibung mit einer Ketchupflasche vergleichen. Diese Direktheit stößt manchmal ab und bringt die Figuren so nahe, dass es mitunter schwer auszuhalten ist. Sie ist aber auch wesentlich mitverantwortlich dafür, dass der Roman einen Sog entwickelt. Wer die Fähigkeit, einem das Herz zu zerreißen, als Stärke eines Autors ansieht, ist mit Lienhard sicher nicht an den Falschen geraten.
Auf der anderen Seite ziehen sich aber sprachliche Manieriertheiten und betont ungewohnte Sprachbilder durch den Text, die dieser Kraft der Erzählstimme bisweilen abträglich sind. Zum Beispiel neigt Lienhard dazu, Worte eigenwillig nachzustellen, etwa: „So wie ich ja auch keinen Schlaf finden kann und deswegen die ganze Zeit denke an ihn“ oder „Über seiner Nase balanciert eine Kinderschänderbrille, in der sich grünlich die Welt spiegelt und kaputt“. Darüber hinaus spielt er immer wieder in pseudo-witziger Weise mit dem Stilmittel des Zeugma, etwa „Vor der Tür des Saals steht Vincent und hinter ihm steht sie offen“ oder „Wir gehen diese Straße lang, die das auch ist, und auch breit“. An anderen Stellen sind Sätze allzu offensichtlich darauf angelegt, zu irritieren, so z.B. ganz zu Beginn: „Ich habe Jack an dem Tag kennengelernt, als hinter unserem Haus ein Achtundzwanzigjähriger vom Himmel gefallen ist.“ Und an jeden Satz ein „ja“ anzuhängen ist sicher nicht die eleganteste Art, einer Figur eine charakteristische Stimme zu verleihen (Albas Freund Gerold: „Was will ich, ja. Mal schaun, wie’s bei dir so läuft, ja. Das wollt ich, ja.“). Natürlich tragen diese Eigenheiten dazu bei, Albas Erzählstimme wiedererkennbar, im besten Fall einzigartig zu machen. Man kann sie für besonders originell halten – oder aber für nervig. In jedem Fall wäre hier weniger mehr gewesen: Die gelungenen Bilder und die wirklich witzigen Bemerkungen hätten es dann leichter gehabt, zu wirken, und man bräuchte wohl weniger Zeit, um in den Text hineinzufinden.
Alles in allem gilt trotzdem: Alba reißt mit. Man sieht ihr dabei zu, wie sie sich zugrunde richtet, und fängt doch erst überraschend spät an, sie dafür zu hassen oder die Hoffnung für sie aufzugeben. Vor Zürich und Albas schwergradiger Heroin-Abhängigkeit, zu Beginn des Romans, gibt es eine Phase, in der es aussieht, als würde er sich zu der anrührenden Geschichte einer Rettung durch Liebe wenden: Im Krankenhaus lernt Alba Jack kennen und durch ihn seine Familie. Sie ist das strahlende Gegenbild zu Albas liebesunfähiger, verhärmter Mutter, die ihre Tochter schlägt und ihr immer wieder klar zu verstehen gibt, dass sie das Allerletzte ist. Von Jacks Eltern dagegen bekommt Alba wohlwollende Aufmerksamkeit, gutes Essen, Italienurlaube und Sommerkleider. Ihnen und Jack traut man zu: Sie könnten Alba retten. Umso tragischer erscheint die Trennung von Jack und Alba. Aber aus diesem schmalen Streifen Glück in Albas dunkler Geschichte zieht der Roman eine Spannung, die ihn fast bis zum Schluss trägt: Es könnte vielleicht doch noch alles gut werden. Erst viel später, als Alba Jack in Zürich wiedertrifft, wo er inzwischen als gewaltbereiter Dealer sein Geld verdient, weiß man: Auch Jack hätte Alba nicht gerettet. Diese verkündet da in zuversichtlichen Momenten immer noch, dass jetzt „alles wieder gut wird“ – aber zu dem Zeitpunkt glaubt man ihr als Leser*in längst kein Wort mehr. Bis zu der Szene, in der sie, frisch auf Entzug, im Schwimmbad dem kleinen Demian begegnet und zum Schluss vielleicht doch Recht zu behalten scheint.
Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz
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