Ehrenrettung eines Frühaufklärers

Ralph Häfner und Michael Multhammer geben neue Forschungsimpulse zu Nicolaus Hieronymus Gundling

Von Hartmut HombrecherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hartmut Hombrecher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man mag es als eine Ungerechtigkeit der Geschichte auffassen, dass ein in seiner Zeit berühmter Denker wie Nicolaus Hieronymus Gundling heute nahezu vergessen ist. Das Projekt, diesen Gelehrten der Frühaufklärung wieder stärker ins Bewusstsein der Forschung zu bringen, sein Werk grundlegend zu ordnen sowie erste ideengeschichtliche Zugänge zu bieten, unternimmt ein Sammelband, den Ralph Häfner und Michael Multhammer 2018 herausgegeben haben. Die Forschungsergebnisse der Aufsätze sind in einem Teilprojekt des DFG-Sonderforschungsbereichs 1015 Muße entstanden. Sie fokussieren allerdings nicht nur dieses übergeordnete Gebiet, sondern tragen mit dem meist präzisen Blick auf das fruchtbare Werk Gundlings wesentlich zu verschiedenen Bereichen der Frühaufklärungsforschung bei. Neben der Muße widmen sich die Beiträge am Beispiel Gundlings etwa der Historia literaria, den zeitgenössischen Debatten zum Naturrecht oder der Publikations- und insbesondere Zeitschriftenkultur der Frühaufklärung.

Der schwierig zu klassifizierenden „Sorte Text“ der Gundlingiana nähert sich etwa der Beitrag von Dirk Werle. Werle untersucht diese zu Lebzeiten von Gundling verfasste Zeitschrift mit Blick auf die normalerweise postum herausgegebenen Ana-Bände des 16. und 17. Jahrhunderts und skizziert sie als späte und ironisierende Aufnahme dieses Traditionszusammenhangs. Als deutliches Vorbild sowohl für die ‚politisch-galante‘ Gelehrtenkonzeption als auch für die Anlage der Zeitschrift sei trotz nicht geringfügiger Unterschiede Christian Thomasius mit seinen Monatsgesprächen zu nennen. Um die Gundlingiana treffender charakterisieren zu können, bietet Werle en passant einen engen, aber sehr brauchbaren Arbeitsbegriff der enzyklopädischen Literatur und skizziert Gundlings Zeitschrift aufgrund ihrer tendenziellen Ungeordnetheit und Problematisierung von Wissen als anti-enzyklopädisch. Da sich die Darstellung der Konzeption wesentlich auf Gundlings Selbstaussagen stützt, aber in der gebotenen Kürze kaum eigene Strukturanalysen liefern kann, zeigt der Artikel hier, ebenso wie in Hinblick auf Untersuchungen zu Gundlings Leserschaft, weitere Desiderate auf. Der Beitrag legt mit seiner Charakterisierung des ungewöhnlichen Publikationsprojektes für solche künftigen Forschungen einen wesentlichen Grundstein.

Ausführlich der Muße widmet sich Michael Multhammer: In seinem Beitrag zu den Otia stellt er heraus, dass Gundling dieses Publikationsprojekt so angelegt habe, dass es als Produkt des Müßiggangs außerhalb der akademischen Kritik situiert ist – im Gegensatz zu der ‚normalen‘ wissenschaftlichen Tätigkeit. Multhammer zeigt eindrücklich die Verknüpfung, die für Gundling zwischen Muße und Wissenserwerb bestehe: Die Mußestundenzeitschrift könne im Gegensatz zur akademischen Historia literaria neues Wissen generieren, indem sie explorativer verfahre und durch eine Mischung aus Heiterem und Ernstem neue Verbindungen ziehe. Der Grundausrichtung der Otia bleibe Gundling auch in seinen Repliken auf die Kritik an seinem Projekt treu, indem er sich auf keinen akademischen Disput einlasse, der aus den Otia vielmehr ‚Negotia‘ erwachsen lassen würde. Gundling verteidige sich auch damit gegen die Kritik, dass er ein Kommunikationsmodell für die Publikation entwerfe, das explizit einem freundschaftlichen Gespräch mit dem Leser nahekommt, bei dem der Anstand gewahrt werden müsse, und die Otia als Geschenke versteht, „die man zwar beiseitelegen darf, nicht aber tadeln.“

Gerade in diesen sehr instruktiven Ausführungen Multhammers wird zugleich ersichtlich, dass manche Synergieeffekte der Beiträge stärker hätten herausgestellt werden können. Da auch die Einleitung der Herausgeber eher knapp gehalten ist, kann der Nutzer des Bands nur selbst Verbindungen ziehen, etwa zwischen dem „virtuellen Dialog mit dem Leser“, den Dirk Werle für die Gundlingiana konstatiert, den Ausführungen zu Gundlings Kritik bei Klaus Birnstiel und der Analyse der freundschaftlichen Gesprächssituation, die Multhammer für die Otia analysiert. Wer sich jedoch nur auf Einleitung und einen spezifischen Aufsatz verlässt, wird solche ‚Connexionen‘ möglicherweise übersehen.

Der Beitrag von Sascha Salatowsky untersucht das Verhältnis Gundlings zum Sozinianismus. Dafür analysiert er Gundlings Anti-Platonismus, seine Positionen zum Verhältnis von Vernunft und Glauben, seinen natürlichen Gottesbegriff und sein Eintreten für die Religionsfreiheit. Der Aufsatz zeigt, dass sich Gundling in einem Spannungsfeld bewegt, indem er den Sozinianismus grundsätzlich ablehnt, jedoch auch Ideen übernimmt, die bereits von Sozinianern formuliert wurden. Dass Gundlings Gedanken nicht direkt auf Sozini oder seine Nachfolger zurückzuführen sind, sondern wesentlich auf Schriften von Bayle, Locke und Leibniz basieren, gesteht Salatowsky ein. Letztlich wird deshalb aber nur wenig über sozinianisches Denken bei Gundling plausibel gemacht. Die breiten Ausführungen zu Johannes Crell etwa leisten nur wenig dazu, die Genese von Gundlings Positionen zu verdeutlichen, auch weil Crell nicht explizit von Gundling erwähnt wird und wohl nur, wie es im Aufsatz heißt, „untergründig“ über die Rezeption von Locke und Bayle Einfluss habe. Salatowskys Beitrag vermag dennoch in zwei Punkten Wichtiges zu zeigen: Er ergänzt die an anderer Stelle getätigten Ausführungen Martin Mulsows (vgl. Mulsow 2002) durch einen tieferen Einstieg in verschiedene Ansichten Gundlings und stärkt außerdem die Bedeutung, die man dem Sozinianismus als Vorläufer der Frühaufklärung zukommen lassen muss.

Gundling hatte nicht nur Platon, sondern auch Hippokrates Atheismus unterstellt, indem er ihn 1706 in seinen Otia als Spinozisten avant la lettre beschreibt, zugleich aber betont, dass dieser Umstand nichts daran ändere, dass er als Vorbild für die Medizin zu gelten habe. Martin Mulsow fasst diese Ausführungen als gezielte Provokation auf. In seinem luziden Beitrag skizziert er Gundlings Argumentation sowie die aus ihr folgende Kontroverse und kontextualisiert den Beitrag aus den Otia mit den Gegebenheiten in der Hallenser Medizin seiner Entstehungszeit. Gundling habe insbesondere darauf hinwirken wollen, dass Theologie und Medizin getrennt werden, indem er sich klar zu einem Schöpfergott bekenne und Hippokrates trotzdem als Vater der Medizin gelten lasse. Den Schöpfergott wiederum benötige er für seine sowohl Hobbes als auch Pufendorf folgende Vorstellung des Naturrechts. Die eigentliche Bedeutung von Gundlings Analyse sei heute allerdings in ihrem ‚litterärhistorischen‘ Ansatz zu finden: In einem Text der Historia literaria verbinde er die Interessen aller Disziplinen und dieser lasse sich im Sinne einer thick description als Einblick in die Kultur der Frühaufklärung lesen.

Eine Einbettung der Historia literaria um 1700 in ihre Vorgeschichte und mit Blick auf ihre Weiterentwicklung unternimmt Olaf Simons. Nach umfangreichen Ausführungen zum Stand der Historia literaria im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert fokussiert er dabei die postum erschienene Vollständige Historie der Gelahrheit. Diese aus studentischen Mitschriften von Christian Friedrich Hempel kompilierte Schrift skizziert Simons als Gegenentwurf zu den praktisch angelegten Nachschlagewerken ihrer Disziplin. Bei Gundling verkomme die Historia literaria durch die ungewöhnliche und für die Kompendienliteratur unpraktische chronologische Darstellung nicht zu einem Verfassen von Buchführern, sondern frage nach der Verfassung der Wissenschaften und ihrer Legitimation. Diese Verfassung, ganz staatstheoretisch aufgefasst, sei weder Aristokratie noch Demokratie, sondern im Vertrauen der Gelehrten in die zukünftige Bestätigung ihrer Thesen zu suchen. Einige Bestätigungen früherer Wissenschaftler unternehme Gundling in Form von Ehrenrettungen, indem er auch dann einflussreiche Positionen in die chronologische Präsentation einwebt, wenn sie sonst aus verschiedenen Gründen abgelehnt werden. Im Kern von Gundlings Ausführungen zur Wissensgeschichte stünden damit immer auch die Personen als Träger des Wissens; hierin kann Simons auch Parallelen zur modernen Literaturgeschichte zeigen, die durch ihre Strukturierung nach Epochen und Personen dichter bei der Vollständigen Historie der Gelahrheit stehe, als man zunächst vermuten würde.

Gundling hatte sich für den deutschsprachigen Raum bereits recht früh zu Fragen des Urheberrechts geäußert. Dass der bekannteste Beitrag zur Debatte indes von Johann Gottlieb Fichte stammt, wertet Christine Haug als Hinweis auf den Umstand, dass die Forschung gerade die Positionen des 17. Jahrhunderts zu dieser Frage vernachlässigt habe. Für Beispiele, die zeitlich deutlich vor Fichte angesiedelt sind, führt sie auch Gundling ins Feld. Dieser hatte sich 1726 mit seiner Schrift Rechtliches Und Vernunfft-mäßiges Bedencken eines ICTI, Der unpartheyisch ist, Von dem Schändlichen Nachdruck andern gehöriger Bücher in den Diskurs eingebracht, die von Haug oft treffend zusammengefasst wird. Der Beitrag geht dabei jedoch nur selten über die Aspekte hinaus, die Heiner Lück bereits 2008 in seinem grundlegenden Aufsatz über Gundlings Schrift zur Nachdruck-Debatte herausgearbeitet hat (vgl. Lück 2008). Dafür wird das Bedencken nach einem digitalisierten Exemplar der Bayerischen Staatsbibliothek im Anhang zu Haugs Beitrag transkribiert. Dass diese Transkription – schon im Titel – nicht zeichengetreu ist, mag verwundern. Gelegentlich wird modernisiert, allerdings nicht konsequent, und auch die Übertragung einiger lateinischer Wendungen aus Gundlings Text gelingt nicht immer fehlerfrei. So heißt es in Fußnote: „res aliena: sind keine fremde [sic] Sachen“. Heißt es bei Gundling im Text: „derjenige, welcher beym Aristhophane in Equitibus den Topf (ollam paratam) mit Fleisch weggeholet, quam alter coxit magna sollicitudeine“, erläutert Haug: „Ariosthophae [sic] in Equitibus […] quam alter coxit magna sollicitudeine: derjenige, welcher beim Ritter Aristophanes den Fleischtopf stehle.“ Abgesehen davon, dass hier der lateinische Passus unübersetzt bleibt, hätte auffallen sollen, dass es sich nicht um den „Ritter Aristophanes“ handelt, sondern um Aristophanes Stück Ἱππεῖς. Dass derlei die Verwendbarkeit des Abdrucks leider erheblich einschränkt, fällt möglicherweise nicht so sehr ins Gewicht, weil Gundlings Schrift durch das hier zugrundeliegende Digitalisat der Forschung ohnehin leicht zugänglich ist.

Nicht den juristischen Fragen im engeren Sinne, sondern dem Naturrecht wendet sich dagegen der Beitrag von Oliver Bach zu. Es gelingt ihm, ein großes Fenster zum rechtsphilosophischen Denken Gundlings zu öffnen, indem er analysiert, in welches Verhältnis der Hallenser Gelehrte sich in der 1706 publizierten Commentatio De Statv Natvrali Hobbesii zu Thomas Hobbes und Samuel Pufendorf setzt. Gundling unternehme in dieser Schrift den Versuch einer Verteidigung Hobbes‘, lege ihn aber nicht in allen Punkten angemessen kohärenztheoretisch aus. Insbesondere stimme Gundling Hobbes zwar darin zu, dass der status naturalis nicht friedlich sein könne, begründe diese Überzeugung allerdings anthropologisch bzw. korrespondenztheoretisch mit der Verderbtheit der Menschen und nicht – wie Hobbes – apriorisch aus dem ius omnium in omnia. Damit sei Gundling methodisch näher bei Pufendorf als bei Hobbes zu verorten, auch wenn er sich einer anderen Anthropologie als Pufendorf bediene und insbesondere mit Hobbes erkenne, dass der Staat die menschliche Freiheit erst ermögliche.

Ergänzt werden die Aufsätze von einer überaus hilfreichen Bibliographie, die sowohl Gundlings Schriften als auch zeitgenössische sowie spätere Arbeiten über Gundling enthält. Um das selbstgesetzte Ziel der Herausgeber zu erreichen, das Werk Gundlings zu ordnen und einen Zugang zu erleichtern, ist diese Bibliographie auch deshalb von besonderem Nutzen, weil sie anteilig annotiert ist oder – bei den Gundlingiana – Inhaltsangaben der einzelnen Stücke enthält. Auch das Personen- sowie das dankenswerte Sachregister dürften hier einen kleinen Beitrag leisten.

Trotz der vereinzelten Kritikpunkte liegt mit diesem Sammelband ein erfreuliches und in vielerlei Hinsicht grundlegendes Werk vor. Es wird die Forschung zu diesem zu Unrecht in Vergessenheit geratenen Gelehrten sicher beflügeln und damit ganz im Sinne des Frühaufklärers selbst auch zu seiner Ehrenrettung beitragen.

Bibliographie

Mulsow, Martin: Moderne aus dem Untergrund. Radikale Frühaufklärung in Deutschland 1680–1720, Hamburg: Meiner 2002, S. 288–348.

Lück, Heiner: Nicolaus Hieronymus Gundling und sein „Rechtliches Und Vernunfft-mäßiges Bedencken … Von dem Schändlichen Nachdruck andern gehöriger Bücher“, in: Pahlow, Louis / Eisfeld, Jens (Hg.): Grundlagen und Grundfragen des Geistigen Eigentums. Tübigen: Mohr Siebeck 2008 (Geistiges Eigentum und Wettbewerbsrecht; 13), S. 9–34.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Ralph Häfner / Michael Multhammer (Hg.): Nicolaus Hieronymus Gundling (1671–1729) im Kontext der Frühaufklärung.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2018.
261 Seiten, 42,00 EUR.
ISBN-13: 9783825368869

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