Zwei einsame Seelen auf der Suche nach Liebe

A.L. Kennedy schickt in ihrem Roman „Süßer Ernst“ ihre beschädigten Antihelden auf eine moderne Odyssee durch London

Von Monika GroscheRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monika Grosche

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„What a difference a day makes“ stellte bereits 1959 Dinah Washington in ihrem gleichnamigen Song fest. Und genau das erleben wir im jüngsten Roman der schottischen Autorin A.L. Kennedy: Nur knapp 24 Stunden gibt sie ihren beiden Protagonisten Meg und Jon Zeit, um in einer modernen Odyssee durch London trotz vieler Hindernisse am Ende zueinander zu finden. Eine kitschige „Romantic Comedy“ nach Hollywoodmanier ist es dennoch nicht, was sie uns in Süßer Ernst präsentiert. Das wäre auch wohl kaum zu erwarten bei einer Autorin, die wegen ihrer scharfsinnigen, klugen Romane bereits mit zahlreichen Preisen bedacht wurde und gerne auch mal als Stand-up-Comedian auf der Bühne steht.

Der Leser trifft nicht auf jugendliche Helden, sondern auf zwei einsame, im Innersten beschädigte Menschen mittleren Alters, die verzweifelt versuchen, im Moloch des modernen London zueinander zu finden. Da wäre zum einen Jon, der als Staatsbediensteter in einem Ministerium für das korrupte politische Establishment arbeitet, das er ebenso wie seine Position darin aus tiefster Seele verabscheut. Denn Jon ist dafür zuständig, alle Verlautbarungen und Pressemitteilungen so zu glätten und zu frisieren, bis auch die unheilvollste Botschaft sanft und gefällig wirkt und auf keinen nennenswerten Widerstand stößt. Von seiner promiskuitiven Frau verlassen, lebt er nun allein und verachtet sich und sein Leben. Als Ventil für seine Frustration dient ihm die heimliche Tätigkeit als Whistleblower – und sein „Hobby“, unbekannten Damen Liebesbriefe zu schreiben. Dahinter steckt keineswegs eine Neigung zum Stalking, vielmehr macht es ihm einfach Freude, den per Kleinanzeige angeworbenen Kundinnen regelmäßig zärtliche, mitfühlende und aufmunternde Worte zu senden.

Zu den Frauen, die seine Dienste in Anspruch nehmen, gehört Meg, die seit einem Jahr trockene Alkoholikerin ist und das Gefühl hat, durch bloße Anwesenheit alle ringsum mit ihrem Versagen anzustecken. Als Mittvierzigerin haust sie allein in dem von den Eltern geerbten kleinen Haus und versucht, dem Leben positive Seiten abzugewinnen. Angesichts ihres ungeliebten Aushilfsjobs in der Buchhaltung eines Tierheims, mit dem sie kaum über die Runden kommt, ist das für die frühere Wirtschaftsprüferin alles andere als einfach. Durch Jons einfühlsame, sensible Briefe fasst sie Vertrauen zu ihm und beschließt, ihn persönlich kennenzulernen. Nach einigen Tagen intensiver Beobachtung gelingt es ihr, ihn beim Leeren seines Postfaches aufzuspüren. Doch die ersten flüchtigen Begegnungen verlaufen nicht unbedingt verheißungsvoll, bis dann die 24 Stunden, die der Roman umfasst,  endlich beide zu einer richtigen Verabredung zusammenführen sollen. Doch bis es spätnachts so weit ist, müssen beide noch viele Hindernisse überwinden, die sie kreuz und quer durch die hektische Metropole London führen.

Dabei begleitet sie der Leser auf Schritt und Tritt und nimmt nicht nur Teil am Geschehen, sondern auch an ihren Gedanken und Gefühlen. Beständig wechselt der Roman die Perspektiven zwischen Meg und Jon, kursiv gesetzte Einsprengsel bieten direkte Einblicke in ihre Gedanken. Diese inneren Monologe – mal nur kurze Gedankenfetzen, mal längere Passagen – vermitteln dem Leser die innersten Gedanken und Gefühle der beiden an diesem Tag und Einblicke in Etappen ihres bisherigen Lebens. Diese Erzählweise ist ebenso hektisch wie es die beiden auf ihrem Hindernis-Parcour zum Rendezvous sind. Nicht immer ist gleich ersichtlich, aus wessen Perspektive gerade berichtet wird. So sind die erzählten 24 Stunden nicht nur für die beiden Protagonisten anstrengend, sondern auch für den Leser. Dennoch lohnt sich die Mühe beim Lesen unbedingt, denn wenn Kennedy sich auf eines versteht, dann auf die Kunst, aus Figuren komplexe Persönlichkeiten zu formen, ohne sie in ihrer Verlorenheit und mit ihren Macken bloßzustellen oder vorzuführen.    

Die Geschichte ist niemals sentimental, sondern dramatisch, tragisch und manchmal zugleich ausgesprochen lustig. Etwa wenn Meg konstatiert, dass sie einfach nicht dazu kam, sich umzubringen, weil das Trinken eine zu dringende Beschäftigung war oder wenn beide beim ersten gemeinsamen Lunch ausgerechnet Gerichte bestellen, bei deren Verzehr sie keine gute Figur machen. Doch der Roman ist mehr als nur eine Liebesgeschichte zweier verlorener Seelen. Kennedy fügt die Irrungen und Wirrungen ihrer Antihelden in ein scharfsinnig gezeichnetes Panorama des modernen Londons und der britischen Gesellschaft ein. In den eingestreuten Miniaturen, die Alltagsszenen der Stadt beschreiben, gelingt ihr zugleich eine Hommage an die Stadt an der Themse, die nicht nur deren Puls spürbar macht, sondern vor allem die liebenswerten Seiten der menschlichen Beziehungen im Moloch Großstadt zeigt. Nicht zu vergessen ihr sprachlicher Esprit – Kennedy formuliert Sätze zum Niederknien klug, schön und treffend. So nimmt man gerne ein wenig Mühe auf sich und sinkt am Ende gemeinsam mit Meg und Jon erschöpft, aber froh, auf die Couch.

Titelbild

A. L. Kennedy: Süßer Ernst. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Ingo Herzke und Susanne Höbel.
Hanser Berlin, Berlin 2018.
560 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783446260023

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