Lieber handeln als nur erzählen

Oleg Senzows Zwischenbilanz des Lebens ist ambivalent, aber zuversichtlich

Von Jörn MünknerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörn Münkner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Oleg Senzow ist seit fünf Jahren eine Person der Öffentlichkeit. Im Mai 2014 verhafteten ihn russische Sicherheitskräfte wegen Terrorverdachts in Simferopol, seiner Geburtsstadt auf der Krim, gegen deren Besetzung durch Russland er gewaltlos Widerstand geleistet hatte. Im August 2015 verurteilte ihn ein Moskauer Gericht zu 20 Jahren Lagerhaft, seitdem sitzt er in Gefängnissen im fernen Osten und in der Polarzone. Die Anschuldigungen sind nicht bewiesen, eher dürfte Russland mit der Causa ein Exempel statuieren, dass sich Protest gegen die russischen Ansprüche selbst von Prominenten nicht lohnt. Amnesty International und Memorial haben auf den Fall aufmerksam gemacht, Filmschaffende die Freilassung Senzows gefordert, im Februar 2018 brachten französische, ukrainische und polnische Intellektuelle eine entsprechende Petition auf den Weg, im Oktober 2018 wurde ihm der Sacharow-Preis für geistige Freiheit des Europäischen Parlaments verliehen und jüngst hat ihn die Schriftstellervereinigung PEN-Zentrum Deutschland auf ihrer Jahrestagung (Mai 2019) zum Ehrenmitglied ernannt.

Ethnisch russisch, aber ukrainischer Staatsbürger, hat sich Senzow spätestens seit 2011 als Künstler international einen Namen gemacht, genauer gesagt als Filmemacher. Daher kommt es nicht von ungefähr, dass sich gerade die Filmbranche für ihn einsetzt. Doch habe Senzow, so der ukrainische Schriftstellerkollege Andrej Krukow im Geleitwort zu Leben. Geschichten, immer schon Prosa geschrieben. Senzow bestätigt das in seiner „literarischen Autobiografie“, die den darin versammelten sieben Geschichten angehängt ist. Gerade schreibe er ein weiteres Buch. Um welches es sich handelt, teilt er nicht mit, von Krukow ist zu erfahren, dass er im Gefängnis tatsächlich einen neuen Roman beendet habe (der hoffentlich den Weg über die Mauer findet und veröffentlicht werden kann). Leben. Geschichten, so Krukow, sei indessen kein Roman. In den Geschichten und dem eigenhändigen Lebenslauf stehe der „ehrliche und offene autobiografische Bericht“ über die Kindheit und Schulzeit des Autors. „Darin beschrieben ist seine Persönlichkeitswerdung – also wie er zu dem furchtlosen Menschen wurde, der er heute ist.“

Ist es so eindeutig? In der Tat lesen wir in Der Hund, Kindheit, Krankenhaus, Schule, Letzter Wille, Meine Oma und Die Makars von einem Kind, das Oleg Senzow gewesen sein mag. Im Zeitraffer führt uns der Ich-Erzähler in sein Heimatdorf, erinnert sich, wie er dort aufwächst, mit den anderen Kindern spielt, mit ihnen zur Schule geht und welche Herausforderungen sich dort ergeben, wodurch sich ein sowjetisches Krankenhaus auszeichnet, wie nah ihm seine Hunde sind, welches Verhältnis er zu seiner Oma hat und wie sich die kindliche Freundschaft zum Nachbarjungen Makar im Zuge des Älterwerdens und des radikalen gesellschaftlichen Wandels auflöst. Die Autorschaft der Anekdoten liegt bei Senzow; aber ähnlich der explizit als „literarisch“ gekennzeichneten autobiografischen Miniatur, in der Senzow sein Leben wie vorherbestimmt dem Filmkünstlertum zustreben lässt, erweisen sich auch die Geschichten als Zwitter zwischen Selbstzeugnissen und künstlerisch überformten Erzählungen. Die offenbarte Persönlichkeitswerdung kann nicht ausschließlich als Egodokument gelesen werden, die Fiktionsanteile sind zu berücksichtigen, sie werden zum Beispiel in metatextuellen Überlegungen darüber erkennbar, wie merkwürdig es sei, welche Erinnerungsfetzen aus der Kindheit im Gedächtnis bleiben.

Narratologisch gesprochen: Es füllen Sätze die Seiten, die in alltagssprachlicher Rede ohne Umschweife zur Sache kommen. Du-Ansprachen ziehen die Leser an das Geschehen heran, historisches Präsens vergegenwärtigt die Handlungen, Rituale und Wahrnehmungen aus den 1980er und -90er Jahren und verleiht ihnen Unmittelbarkeit und Präsenz. Die Texte erscheinen als Produkte zwanglosen Draufloserzählens, eine formbewusste literarische Zurichtung wird vermieden. Interessanterweise benutzt der Cineast Senzow keine „Kamerafahrten“, setzt also nicht auf filmische Erzählstrategien. Ein Dorf in sowjetsozialistischer Zeit bildet das Zentrum der erzählten Welt, ansatzweise werden das postsowjetische Schicksal des Dorfes und die Krise des sowjetischen Imperiums nach 1989 thematisiert. Senzows Ich-Erzähler hat ein starkes Selbstbewusstsein: „Ich ließ mir nicht reinreden, tat, was ich wollte, und erreichte mein Ziel.“ Die gesunde Überheblichkeit wirkt indessen nicht arrogant, weil sie mit einer wirklichkeitswunden Lebenserfahrung einhergeht. Leider verfällt der Erzähler darauf, Schlussfolgerungen aus den eigenen Erfahrungen und Verfehlungen in die Texte einzubauen: „Was es genau war, ist nicht mehr wichtig. Wichtig ist etwas anderes: Dass ich seitdem nie wieder geschwiegen habe, wenn jemand gedemütigt wurde, und ich weiß genau, dass ich auch in Zukunft nicht schweigen werde.“ Diese moraldidaktischen Räsonnements schrammen scharf am Kitschig-Betulichen vorbei. Während die (Selbst)Ermahnungen und Selbstheroisierungen der literarischen Qualität zum Nachteil gereichen, hallen die Texte trotzdem nach, weil sie mit wenigen Strichen eine Lebenswelt freilegen, die nicht schön ist, in ihrem rauen wie solidargemeinschaftlichen Wesen aber ein Gefühl der Geborgenheit evoziert, und die es so nicht mehr gibt.

Die Texte, die hier zum ersten Mal in deutscher Übersetzung vorliegen, sind 2013 und davor entstanden. Senzows Lebensgeschichten können als fragmentarische historiografische Quellen gelesen werden, weil in den Ausschnitten der individuellen Erfahrung und Erinnerung des erwachsen gewordenen Kindes, das dem Dorf längst den Rücken gekehrt hat, die Auflösung des sowjetischen Imperiums und der von ihm einst als heil und selbstverständlich wahrgenommenen Welt des Heimatdorfes stattfindet. Senzows erzählerische Dramatik setzt nicht auf ein drastisches Untergangsszenario oder extraordinäre Kindheitserinnerungen. Vielmehr zeigt er in unaufgeregter Beiläufigkeit, beinahe zärtlich, was Kindheit bedeutet und wie sie vergeht. Dass sie in seinem Fall mit dem epochalen Systemwechsel gleichsam ein doppeltes Ende erfuhr, das womöglich mehr Verlierer als Gewinner in den Territorien und Republiken der aufgelösten UdSSR hervorbrachte, ist die Spezifik seiner persönlichen Vita. Auch wenn sich alles im Leben ändert, eine Gewissheit besteht für Senzow, die den Tenor des Buches ausmacht und die er geradezu beschwört: „Alle finden, die Kindheit sei die glücklichste Zeit im Leben. Stimmt. Und die hellste, würde ich hinzufügen. Ich hatte beides – eine Kindheit und viel Licht.“

Titelbild

Oleg Senzow: Leben. Geschichten.
Übersetzt aus dem Russischen von Irina Bondas, Kati Brunner, Claudia Dathe, Christiane Körner, Alexander Kratochvil, Lydia Nagel, Olga Radetzkaja, Jennie Seitz, Andreas Tretner und Thomas Weiler.
Verlag Voland & Quist, Dresden 2019.
111 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783863912345

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