Nachrichten aus dem neodramatischen Zeitalter

Falk Richter erzählt, wie man heute Theater macht

Von Nora EckertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nora Eckert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie entstehen Dramen in postdramatischen Zeiten, die längst zu neodramatischen geworden sind, da wir erkannt haben, dass die Postmoderne auch nur eine Episode der Moderne war und wir getrost wieder zur Tagesordnung übergehen dürfen? Falk Richter, Jahrgang 1969, einer der produktivsten Gegenwartsdramatiker, hat sich darüber ausführlich in drei Poetik-Vorlesungen geäußert, die jetzt unter dem Titel Disconnected. Theater. Tanz. Politik. nachlesbar sind. Was er dort erzählt, klingt bestimmt nicht so, wie ein Laie sich die Entstehung von Theaterstücken wohl vorstellt. Vor allem entstehen sie nicht am Schreibtisch durch einen von allen Störungen durch die Außenwelt abgeschirmten Autor, der sich dort seiner szenischen Phantasie hingibt und sich in situativer Sprachbegabung übt, um am Ende mit einem fertigen Skript unterm Arm, ins nächste Theater zu eilen, wo das Ensemble sehnsüchtig auf neue Rollen wartet. Nichts von alledem geschieht bei Richter, was sogleich bestätigt, ja, wir befinden uns theaterästhetisch tatsächlich mitten in der Moderne, die alles Spontane und Prozesshafte, alles Offene und Dynamische liebt. Er geht nämlich gleich ins Theater und auf die Probebühne, den Kopf voll mit Fragen und nichts als Fragen, in der Tasche allenfalls Notizen und Skizzen. „Der Fragerausch ist der Motor, der Stück und Inszenierung und den Probenprozess vorantreibt, eine Suchbewegung“, erklärt uns der Autor.

Das immerhin hat Richter dem großen Samuel Beckett voraus, der sich genau dies einmal wünschte: „Ich träume davon, ohne Text oder fast ohne Text in ein Theater zu gehen und mich mit allen Beteiligten zusammenzusetzen, bevor ich wirklich zu schreiben beginne.“ Richter bevorzugt das kollektive Arbeiten. „Prozess“ und „offenes Ergebnis“ sind seine Lieblingsbegriffe, und passend dazu versteht er seine Stücke eher als „Zwischenbilanz“. So multidimensional die Arbeitsweise angelegt ist, so vielschichtig sind die theatralen Ausdrucksmittel. Das bedeutet, dass zur Sprache und zur Verkörperung mindestens noch das Element der Choreographie hinzukommt, ganz abgesehen von unkonventionellen Spielräumen.

Richters Theater ist in besonderer Weise ein Sprach- und Körpertheater, wo Klangsprache zur Körpersprache wird. Es entsteht als Gemeinschaftswerk und – wenn man so will – als Gesamtkunstwerk, fest verbunden mit dem Zeitgeist und unmittelbar am Puls der Zeit. Am Anfang eines jeden dramatischen Work in Progress stehen die Fragen: „Was ist?“ und „Wie ist es?“ Sie machen den Dramatiker zum Phänomenologen, zum Seismographen in Raum und Zeit. Ohne Zweifel, Richter besitzt ein Talent zur Multitaskfähigkeit. Er nennt sich selbst „Autorregisseur“ und ist darin gleichermaßen Ideen-Logistiker wie Gebärden-Moderator, der all den dramatischen Input zu dem formt, was dann am Ende unter dem Namen des Autors im Spielplan als fertiges Stück annonciert wird.

Da das Theater als die Augenblickskunst par excellence auch eine der vergesslichsten Künste überhaupt ist, lässt sich immer leicht behaupten, wie neu das Hier und Jetzt sei. Theater erfindet sich seit jeher mit jeder Aufführung neu. Was uns bei Richter unverbraucht frisch und scheinbar neu entgegentritt, ist in der Branche indes altbekannt. Ob das Menschen sind, die sich selbst spielen, ob sie Sprache und Bewegung synästhetisch zur menschlichen Innenschau verschmelzen lassen, ob das Räume fern des Theaterbetriebs sind oder ob Realität zitathaft, authentisch auf die Bühne gelangt: Richter musste für all dies das Rad nicht neu erfinden. Chronisten, die Informationen über ihre Zeit sammeln, um sie im Maßstab Eins-zu-Eins auf die Bühne zu bringen, gab es schon vor hundert Jahren. Das nannte ein Karl Kraus damals „Realsatire“ und lieferte mit dem gigantesken Fünfakter Die letzten Tage der Menschheit die Probe aufs Exempel – eine beängstigende, bizarre und abgründige Zeitgeist-Revue. Ebenso finden wir Spuren von Bertolt Brechts epischem Theater in Richters Dramentheorie, indem er zeigt, wie Theater gemacht wird. Darin enthalten sind die kritische Distanz und der politische Anspruch des Aufklärerischen. Hier geht es nicht um Identifikation und Einfühlung – bei Brecht so wenig wie bei Richter. Was uns zu der Frage bringt, was denn politisches Theater überhaupt sei und vor allem ob und wie es politisch wirke.

Die Antworten darauf könnten mittlerweile eine ganze Bibliothek füllen. Richter focht das nicht weiter an, und das keineswegs aus Gründen der Unbedarftheit. Im Gegenteil, mit seinen Gegenwartsanalysen bohrt er meistens an der richtigen Stelle und trifft oft genug den Nerv, wie das zuletzt bei seinem Stück Fear zu erleben war. Ein Stück gegen den Populismus und gegen die Rechten in unserer Republik mit ihrem Versuch, die Demokratie zu demontieren.

Wenn Richter von der Unverbundenheit des heutigen Menschen spricht und dessen Vereinzelung und Entfremdung behauptet, so tut er als Dramatiker genau das Gegenteil. Er verbindet die Wirklichkeit mit der Bühne und diese mit unseren Gedanken und jene wiederum mit unseren Gefühlen, und unserem Bewusstsein. Die Zwischenfrage sei deshalb erlaubt: Wenn solche Verbindungsarbeit auf der Bühne gelingt, könnte sie den Menschen im wirklichen Leben nicht auch gelingen? Mit anderen Worten: Nistet nicht vielleicht in einem großen überstrapazierten Wort wie Entfremdung am Ende doch nur Phantomschmerz? Offen bleibt auch die Frage, wen das Theater damit überhaupt erreicht. Diejenigen, die sich dort als Publikum einfinden, dürften die Botschaften wahrscheinlich am wenigsten nötig haben, und die anderen bleiben ohnehin draußen. Die Rezensentin gesteht hier ein gewisses Unbehagen über den nicht zu überhörenden kulturkritischen Grundton in Richters Arbeit. Das Missverständnis der Kulturkritik war schon immer: Kultur verfällt nicht, sie verändert sich. Das schließt eine gewisse Trauer über kulturelle Verluste nicht aus.

„Ich als Autor darf alle Fragen stellen, doch ich muss keine Antworten geben. Mein selbstgestellter Auftrag lautet, keine einfachen Antworten zu formulieren, sondern Fragen zu stellen, einen Fragenrausch zu erzeugen, alles in Frage zu stellen.“  Zu ergänzen wäre, dass es wohl nicht darum gehen kann, überhaupt Fragen zu stellen, sondern zuvorderst darum, die richtigen Fragen zu stellen. Denn wird die Welt nicht auch deshalb verbindungslos, weil alles bezweifelt wird? Das wäre gewiss eine brisante Frage, um das nihilistische Gespenst zu bannen.

Titelbild

Falk Richter: Disconnected. Theater Tanz Politik.
Herausgegeben von Johannes Birgfeld.
Alexander Verlag, Berlin 2018.
180 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783895814600

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