Schöne Fassade, nichts dahinter

Sebastian Fitzeks 17. Psychothriller „Der Insasse“ ist verstörend, überraschend, aber: ohne Tiefgang

Von Marisa MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marisa Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Um die Wahrheit zu finden, ist er zu allem bereit – Familienvater Till Berkhoff sehnt sich nach Gewissheit über seinen verschwundenen Sohn Max. Als Patient lässt er sich freiwillig in eine Berliner Klinik für Forensische Psychiatrie mit höchster Sicherheitsstufe zu dem mutmaßlichen Mörder seines Sohnes, Tramnitz, einweisen. Allein die Vorstellung dieses skurrilen Unterfangens verspricht allerhand Nervenkitzel. 

In der Tat kreiert der Autor eine mitreißende Handlung, die viele überraschende Wendungen bereithält – ein typischer Fitzek, behaupten Kenner. Die Mittel, mit denen die Spannung konstant aufrechterhalten wird, sind so simpel wie wirksam: Kurze Kapitel und zahlreiche Cliffhanger treiben die Handlung schnell voran. Sie ermöglichen rasche Perspektivwechsel zwischen den verschiedenen Figuren, bieten dem Leser auf diese Weise Abwechslung und lassen ihn mitfiebern. Trotz eines hoch spektakulären Auftakts kommt das erste Drittel etwas schleppend in Gang, da zu viele klischeehafte Figuren eingeführt werden. Doch spätestens ab der Hälfte kann man das 384-Seiten-Buch nicht mehr aus der Hand legen. Mit vielen Schockmomenten peitscht die Handlung ohne Halt, immerzu dramatisch und kurvenreich, voran.

Der Schauplatz der Psychiatrie gleicht mit Ausnahme der noblen Einrichtung einem Hochsicherheitsgefängnis. Von Deckenlautsprechern, Videokameras und digitalen Abtastverfahren bis hin zu Isolationszellen und mordlüsternen Patienten gibt Der Insasse das ganze altbekannte Repertoire literarischer und filmischer Gefängnisbeschreibungen zum Besten. Das Psychiatrie-Thema hätte aber insgesamt ausgefeilter sein können; insbesondere das Thema des Unbewussten und psychoanalytische Deutungen der Figuren kratzt der Roman nur an. Zum Beispiel wird die Familiengeschichte des Serienkillers Tramnitz nur begrenzt in einem Kapitel thematisiert. Familienvater Till beeindruckt durch seine unerschütterliche Courage, die er in der Klinik an den Tag legt; nicht nur die Suche nach Tramnitz treibt ihn mental an seine Grenzen. Welche gravierenden Probleme und seelischen Abgründe sich innerhalb des Klinikgebäudes für ihn auftun, sei der Lektüre überlassen.

Atmosphärisch bleibt Der Insasse hinter seinen Möglichkeiten zurück. Die Bedrohung durch einen sintflutartigen Niederschlag bildet das einzige Atmosphäre stiftende Element. Für einen Psychothriller wirkt es merkwürdig, dass die Spannung fast ausschließlich durch die rasante Handlung erzeugt wird. Fitzek scheint einen gelungenen Spannungsaufbau mit der Beschreibung brutaler Gewaltszenen zu verwechseln, welche ihm allerdings sprachlich gut gelingen. Mittels bildhafter Vergleiche schildert er vorrangig das physische Schmerzempfinden der Figuren. „Hätte er ihn mit Brandbeschleuniger übergossen und angezündet, hätten die Qualen nicht größer sein können. Der Schmerz war wie ein eingesperrtes wildes Tier, das panikartig versuchte, nach allen Richtungen auszubrechen.“

Der Roman ist nichts für zartbesaitete LeserInnen, er schreckt vor schier keinem grausamen Thema zurück: Folter, Vergewaltigung, Kindesmisshandlung und brutaler Mord. „Immer und immer und immer wieder, bis die weißen Zähne in einer Blut- und Knochensuppe in der Emaille schwammen und man die graue Hirnmasse durch die aufgerissene Schädeldecke hindurch sehen konnte.“ Diese Anhäufung an Gewalt ist mit Sicherheit Geschmackssache. Aber auch einem hartgesottenen Fan von Splatter und Gore drängt sich vielleicht während der Lektüre der Gedanke auf, dass Fitzek um jeden Preis schockieren möchte – mit der Konsequenz, dass der Thriller deutlich überladen wirkt und die Gewalt zum reinen Selbstzweck verkommt.

Während der Roman Brutalität, Tod und Schmerzen detailliert schildert, wirken die Figuren unauthentisch und oberflächlich. Lediglich der vulgäre Sprachstil ist auf einige Charaktere zugeschnitten. Die Gedankeninnensicht der Protagonisten wird im Roman kursiv gekennzeichnet, unterbricht wiederholt die Handlung und ist für den Leser zu großen Teilen redundant. Den teilweise extrem knappen Satzkonstruktionen und dem einfachen Vokabular mangelt es insgesamt an sprachlicher Genauigkeit, und zahlreiche Phrasen wirken gekünstelt. So hetzt der vorwiegend parataktische Schreibstil den Leser geradezu durch die Seiten. Obwohl beispielsweise die Verzweiflung des Vaters nach dem Verschwinden seines Sohns an vielen Stellen Erwähnung findet, bleibt sie oberflächlich. Sein Kummer wirkt sehr bemüht und wird dem Leser zu oft unter die Nase gerieben. Auch die flachen Dialoge mit seinem Schwager verstärken die Unglaubwürdigkeit der Figur. „Aufstehen. An Max denken. Anziehen. An Max denken. Verzweifeln. An Max denken. Ausziehen. An Max denken. Hinlegen. An Max denken. Verzweifeln. Nicht einschlafen können. An Max denken. Aufstehen.“

Sprachlich hätte man von dem führenden deutschen Thriller-Autor mehr erwartet. Auch der Inhalt bietet wenig Innovation: Das gesamte Setting von Der Insasse erinnert letztlich stark an den verfilmten Roman Shutter Island des US-amerikanischen Schriftstellers Dennis Lehane. Aufgrund dessen birgt Fitzeks Thriller für Kenner die Gefahr, die Auflösung des großen Rätsels bereits von Beginn an zu durchschauen und damit den Spannungsbogen zu zerschlagen.

Für einen kurzen und schnellen Lesegenuss eignet sich Fitzeks 17. Thriller; wer hingegen literarisch Anspruchsvolles erwartet, wird enttäuscht. In erster Linie zielt Der Insasse auf eine schockierende Wirkung ab, er macht den Leser durch seine Geschwindigkeit und Brutalität sprachlos. Genauso sprachlos macht es auch, dass dieses Werk Deutschlands bestverkaufter belletristischer Hardcover-Roman des Jahres 2018 ist. 2016 wurde Fitzek sogar mit dem Europäischen Preis für Kriminalliteratur ausgezeichnet. Aber womöglich nicht trotz, sondern aufgrund unzähliger Klischees und Vulgaritäten findet sich auch für sein aktuelles Buch ein breites, nach kurzweiliger Unterhaltung strebendes Publikum.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Sebastian Fitzek: Der Insasse. Psychothriller.
Verlagsgruppe Droemer Knaur, München 2018.
384 Seiten, 22,99 EUR.
ISBN-13: 9783426281536

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