Auf den Spuren des Döblinismus
Der „Text + Kritik“-Band zu Alfred Döblin beleuchtet einen überaus vielseitigen Dichter, Denker und Visionär
Von Linda Maeding
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseNeben „Berlin Alexanderplatz“, Alfred Döblins mit Abstand bekanntestem Roman aus dem Jahr 1929, ist das weitläufige und vielseitige Werk des Autors (1878-1957) für viele Lesende immer noch unbekanntes Terrain. Die Fischer Klassik-Edition im Taschenbuchformat auf der einen Seite, eine aktive Internationale Alfred-Döblin-Gesellschaft auf der anderen Seite haben jedoch dafür gesorgt, dass abseits des Weimarer-Republik-Bestsellers auch andere Aspekte seines Schaffens stärkere Aufmerksamkeit erfahren. Die Neufassung des von Sabine Kyora herausgegebenen „Text + Kritik“-Bandes zu Alfred Döblin geht diesen Weg noch einen großen Schritt weiter, indem ausgewiesene Döblin-Kenner in 15 Beiträgen seine Entwicklung von den ersten expressionistischen Erzählungen bis hin zum letzten Roman Hamlet oder Die lange Nacht nimmt ein Ende, 1956 erschienen, schlaglichtartig behandeln.
Wie lässt sich das Schreiben dieses Autors und Mediziners bestimmen, der sich als Berliner verstand, 1933 zuerst nach Zürich und dann nach Paris flüchtete, bevor er 1940 ins US-Exil ging und 1945 als einer der ersten nach Deutschland zurückkehrte, immer aber eine unüberbrückbare Distanz wahrte? Eine Aufzählung seiner Romane, Erzählungen und Aufsätze verlangt zwar langen Atem, ist aber dennoch eine leichtere Aufgabe, als dieses Werk konzise zu beschreiben: Denn Döblin probierte sich nicht nur an den unterschiedlichsten Gattungen, Stoffen und Stilen, philosophierte über das Wesen der Natur und des Menschen, reflektierte die technische Entwicklung oder psychiatrische Methoden und absorbierte den geopolitischen Diskurs der Zwischenkriegszeit. Er integrierte auch unterschiedliche Medienformate und nahm alle Neuerungen in diesem Feld mit großer Neugier auf – nicht nur mittels des Montageverfahrens in Berlin Alexanderplatz, auch als Hörspielautor und Scriptwriter in Hollywood und dann als Zeitschriftenherausgeber im besetzten Nachkriegsdeutschland.
Dabei scheut Döblin nicht davor zurück, in Widerspruch zu sich selbst, zu früherem Schaffen und zu einstigen Selbstaussagen zu treten: Die Selbstkritik scheint in manchen Texten als begleitender Kommentar mitzulaufen. Deutlich wird die komplexe Dimension des Werks zum einen in der Zusammenschau der Bandbeiträge, die ein Panoptikum des literarischen Universums Döblins bieten, zum anderen aber wird sie auch in einzelnen Kapiteln thematisiert. So beispielsweise in Marion Brandts Ausführungen zu Döblin und dem Nationalen, die das von Stefan Keppler-Tasaki mit einem Text zu dessen proletarischem Kosmopolitismus eröffnete Feld weiter erkunden. Wenn Keppler-Tasaki bereits zeigt, dass Döblin internationalistische Positionen vertrat und „zugleich den Heimatbegriff besetzte“, so verweist Brandt zunächst auf den hohen Stellenwert, den der Autor Gemeinschaft beimaß. Seine Einschätzung der Nation ist von Ablehnung geprägt, wobei er zugleich von ihrer Zukunft überzeugt ist.
Die meisten Beiträge wenden sich jedoch Einzelwerken Döblins zu und geben Einblick in die Rezeptionsgeschichte, erschöpfen sich aber nicht im Forschungsüberblick, sondern unterbreiten dem Leser teils ungewohnte Deutungsangebote – so die zwei Beiträge zu Berlin Alexanderplatz von Sabina Becker (zur Bedeutung der Akustik und der gesprochenen Sprache) und Sabine Kyora (zum Motiv der Diagnose in Relation zur Erzählerperspektive). Till Huber verortet den Wassertod als um die Jahrhundertwende florierendes Motiv literatur- und werkgeschichtlich anhand von Döblins Erzählung „Die Segelfahrt“ (1911 erstmals publiziert), während Oliver Jahraus sich unter Berücksichtigung intermedialer Reflexionen dem ersten großen Roman, Die drei Sprünge des Wang-lun (1916), widmet.
Noch weniger bekannte (und geschätzte) Texte nehmen sich die Döblin-Herausgeberin Christina Althen in einem Beitrag zur Realsatire in Die Lobensteiner reisen nach Böhmen und Steffan Davies mit einer auf Ovids Metamorphosen verweisenden Analyse von Der Oberst und der Dichter vor. Der schwer zugängliche, aber in den letzten Jahren von der Utopieforschung verstärkt rezipierte Roman Berge Meere Giganten ist Thema bei Hania Siebenpfeiffer, und Julia Genz untersucht die Polyphonie in Hamlet oder Die Nacht nimmt ein Ende.
Die anderen Beiträge konzentrieren sich primär auf Motive oder ästhetische Fragen: Arne Höcker schreibt über den Lustmord und das Verhältnis von Pathologie und Poetologie, Annette Keck stellt Döblins Selbstentwürfe in den Kontext des Futurismus und verbindet sie mit dem Stichwort der Depersonation. Alexander Honold gelingt mit seinen Überlegungen zu Döblin im Ersten Weltkrieg nicht nur eine generationendifferenzierte Beschreibung unterschiedlicher Autorenpositionen gegenüber den historischen Ereignissen: Er zeigt auch auf, welche zum Teil äußerst ungewohnten ästhetischen Effekte die nicht in einem einzelnen Werk konzentrierte Thematisierung des Krieges bei Döblin erzeugt. Der Koppelung von Kunst und Politik bei gleichzeitiger Wahrung ihrer Differenz gilt Torsten Hahns Beitrag, der sich dem essayistischen Werk widmet. Dagmar von Hoff stellt Döblin dann in den Kontext der europäischen Nachkriegsgeschichte und berührt mit ihrer Vorstellung von Döblins Zeitschriftenprojekt Das Goldene Tor (1946-1951) sowohl sein Medienverständnis als auch seinen Anspruch auf transnationales Wirken.
Für die Bandbreite an Themen, Stilen und Fragestellungen, die hier eröffnet wird, bleibt als Klammer der „Döblinismus“, eine Wortprägung des Schriftstellers selbst, die – so Torsten Hahn – „eine deutliche Absage an Kollektivierungsoffensiven im Zeichen eines avantgardistischen ‚Ismus‘ darstellt“. Selbstverständlich musste angesichts eines so ungemein produktiven Autors einiges unbehandelt oder unterbeleuchtet bleiben – die Rezensentin hätte sich eine stärkere Berücksichtigung der Aufsätze und auch der autobiographischen Schriften Döblins gewünscht –, doch handelt es sich um einen Band, der dem Publikum sowohl einen verlässlichen Überblick über ein großes Werk gibt, als auch eigenwillig Schwerpunkte setzt, die weitere Forschung anzuregen vermögen.
Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz
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