Jugendromane als Medien der Geschichtskultur

Monika Rox-Helmers wissenschaftliche Studie stellt Theoretisches, Empirisches und Pragmatisches zum Potenzial geschichtskultureller Fiktionalität für Lernprozesse vor

Von Torsten MergenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Torsten Mergen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit schulischem Geschichtsunterricht werden häufig Sachtexte in Geschichtsbüchern sowie Quellenauszüge assoziiert, die es in oftmals kleinschrittiger (Detail- und Analyse-)Arbeit bei methodischer Varianz und mit oftmals problemorientierten thematischen Fragestellungen von Schülerinnen und Schülern verschiedener Altersstufen zu erschließen gilt. Die Studie Der historische Jugendroman als geschichtskulturelle Gattung geht von einer anderen Herangehensweise an Geschichtsdarstellung respektive Geschichtsvermittlung aus: Die Gießener Geschichtsdidaktikerin Monika Rox-Helmer akzentuiert und differenziert auf rund 460 Seiten kenntnis- und materialreich den Mehr- und Eigenwert von jugendliterarischen, fiktionalen Darstellungen in Ganzschriftenform für Prozesse des historischen Lernens.

Es ist intendiert, den historischen Jugendroman in seiner geschichtskulturellen Präsenz zu analysieren, seine gattungsspezifische Fiktionalisierung für ein reflektiertes Verständnis des jugendliterarischen Umgangs mit Geschichte aufzuschließen und für geschichtsdidaktische Anschlüsse zugänglich zu machen.

Jedes Jahr, so Rox-Helmers einleuchtende Beobachtung, erscheinen unzählige jugendliterarische Werke, die ihren Weg zum Publikum als private Lektüre finden, die aber selten systematisch von (schulischen) Lehrkräften oder (universitären) Fachdidaktikern fokussiert werden. Selbst im Deutschunterricht, in dem öfter und konsequenter Werke aus dem Segment der Kinder- und Jugendliteratur zum Einsatz kommen, werde zu selten diskutiert, wie mit dem hybriden Charakter von historischen Jugendromanen im Allgemeinen und den fiktiven Gestaltungselementen im Besonderen in Unterrichtsprozessen konstruktiv umgegangen werden kann.

Die Fragestellung der wissenschaftlichen Studie, die auf zentrale Beispieltexte zurückgreift und auch die Produzentenperspektive der Autorinnen und Autoren methodisch innovativ über Interviews integriert, zielt auf ein neues Verständnis von geschichtskulturellen Medien, die im Unterricht Berücksichtigung finden sollen: „Es gilt zu prüfen, welche Zugänge zum historischen Thema die Fiktionalisierung eröffnet, welche historischen Lernprozesse durch die Literarisierung angestoßen und welche Arten historischen Wissens und Denkens bedient werden können.“ Dazu bedürfe es neuer Bewertungs- und Analysekriterien, die als wesentliches Ergebnis der Studie gelten können.

Systematisch gegliedert ist die Arbeit in einem Dreischritt: Nach einer reflektierenden Einführung in den Jugendroman als ein „Medium der Geschichtskultur“ und der Selbstvergewisserung, was denn überhaupt das Proprium der Geschichtskultur ausmache, folgen drei unterschiedlich umfangreiche Teile: Im ersten geht es um die theoretischen Grundlagen, die um das Verhältnis von Geschichte und Fiktion beziehungsweise um die Gattungsspezifika des historischen Jugendromans angeordnet sind. Denn der Untersuchungsgegenstand erweise sich bei näherer Betrachtung als äußerst heterogen und bisweilen paradox, worauf auch die neuere Bezeichnung „Histotainment“ verweise: Fiktionales Erzählen nehme „mit seiner Retrospektivität und Temporalität Bezug auf die reale Chronologie, sonst wären die Erzählungen nicht als Darstellung von Geschichte wahrzunehmen. Die Fiktionalisierung entbindet die Erzählung vom Wahrheitsanspruch der Referenzen.“ Zugleich gehöre aber zum Selbstverständnis der historischen Jugendliteratur ein „gewisser Vermittlungsanspruch historischer Ereigniszusammenhänge“, da er durch die Bezugnahme auf historische Diskurse, spezifische narrative Erzählmuster und adressatenorientierte Darstellungsweisen gekennzeichnet sei.

Im zweiten und umfangreichsten Teil der Studie finden sich akribisch-minutiöse Analysen sowohl zur Entwicklung des entsprechenden Marktsegments als auch zu prominenten beziehungsweise repräsentativen Einzeltexten, für die textimmanent Fiktionalisierungsstrategien ermittelt werden. Dabei greift Rox-Helmer auf zwei Modelle jugendliterarischen Erzählens zurück, die als gattungsbestimmend im Bereich der zeitgenössischen Jugendliteratur gelten: Romane sind narratologisch modellierbar und damit kategorisierbar nach den Modellen Abenteuer- oder Adoleszenzroman; dies bewirkt dann unterschiedliche Fiktionalisierungsstrategien, die aber durch die Hybridität des Genres vermischt werden. Der hier betrachtete Textkorpus ist mit mehr als 120 Romanen beeindruckend: Von Helene Abeles Das leise Lied der Liebe (2011), über Klaus Kordons Krokodil im Nacken (2003) bis hin zu Markus Zusaks Die Bücherdiebin (2008) gewährt die Studie einen – beinahe – repräsentativen Einblick in die aktuelle Jugendliteraturproduktion. Auswahlkriterien werden stimmig reflektiert und erläutert, 20 Romane werden intensiv über sogenannte Produktanalysen betrachtet. Ferner wird die Perspektive der Autorinnen und Autoren durch Interviews einbezogen, die mittels Methoden der qualitativen Inhaltsanalyse erschlossen werden. Hierbei stehen drei Romane von drei SchriftstellerInnen im Zentrum der Betrachtung: Klaus Kordon und sein Roman 1848, Gina Mayer und der Roman Die verlorenen Schuhe sowie Kirsten Boie mit Ringel, Rangel, Rosen. Rox-Helmer hebt resümierend hervor:

Alle drei Autoren betonen, dass sie ihre Romane am Anspruch der Authentizität ausrichten. Die Auswertung der Interviews zeigt, wie stark. Gegenwartsbezüge insgesamt die Art und Ausgestaltung der Fiktionalisierung bestimmen. Sie legen fest, mit welchen Strategien fiktionalisiert wird und wie sich das Romanprojekt im gattungsspezifischen Spannungsfeld bewegt.

Der dritte Teil des Buches führt unter pragmatischen Überlegungen die drei empirischen Zugriffe auf Fiktionalisierungen von Geschichte weiter und versteht sich als Rückblick auf die bisherigen Forschungsanstrengungen. Die Geschichtsdidaktikerin betont, dass „die literarische Fiktionalisierung letztlich unendlich viele Möglichkeiten eröffnet, Geschichte in fiktionale Darstellung zu überführen, weil es sich um ästhetische und künstlerische Verfahren handelt, die immer wieder verändert, erweitert oder kombiniert werden können.“  Des Weiteren plädiert Rox-Helmer eindringlich dafür, fächerübergreifend mit historischer Jugendliteratur umzugehen, um didaktisch einen möglichst großen Nutzen bei Lernprozessen zu erzielen: „Zukünftig sollte literarisches und historisches Lernen während der Lektüre eines historischen Jugendromans nicht nur additiv gesehen werden.“

Rox-Helmers Studie, die 2018 mit dem sektionsübergreifenden Dissertationspreis der Justus-Liebig-Universität Gießen ausgezeichnet wurde, öffnet ein weites Spektrum an Möglichkeiten für schulische und didaktische Anschlusskommunikation. In ihrem Schlusskapitel verweist die Autorin selbst in knapper, aber konziser Form auf unterrichtspraktische Konsequenzen: Sobald darin das Prärogativ der Quellen negiert wird und jugendliterarische Fiktionalisierungen als emanzipierte Form der Erschließung historischer Sachverhalte und Epochen wahrgenommen würden, müsste im Unterricht intensiv „die historische Jugendliteratur als geschichtskulturelle Manifestation thematisiert“ werden. Dadurch würde die Arbeit mit historischen Quellen und Darstellungstexten in Schulbüchern um eine ästhetische Komponente bereichert. Dies setzt jedoch Fiktionskompetenz voraus – sowohl bei den Unterrichtenden als auch bei den Adressaten –, die darum weiß, dass Literatur kein „Abbild“ von Wirklichkeit ist, sondern einen spezifischen Zugang zu vergangenen Sachverhalten darstellt. Formen und Zugänge sowie eine theoretische Reflexion mit einer klaren Begrifflichkeit für diesen umfangreichen Fragenkomplex vorgelegt zu haben, ist sicherlich die Leistung Rox-Helmers. Den Konventionen der Textsorte Dissertation geschuldet, adressiert sie mit ihrer eloquenten und terminologisch prägnanten Darstellung primär ein fachwissenschaftlich wie fachdidaktisch vorgebildetes Lesepublikum, aber auch interdisziplinär – etwa im Austausch mit der Deutsch- oder Religionsdidaktik – liegt eine inspirierende Lektüre vor. Zweifellos handelt es sich bei der Studie Der historische Jugendroman als geschichtskulturelle Gattung um ein künftiges Standardwerk für die Frage nach der Fiktionalisierung von Geschichte und den daraus resultierenden didaktischen Optionen.

Titelbild

Monika Rox-Helmer: Der historische Jugendroman als geschichtskulturelle Gattung. Fiktionalisierung von Geschichte und ihr didaktisches Potential.
Wochenschau Verlag, Frankfurt am Main 2019.
462 Seiten, 49,90 EUR.
ISBN-13: 9783734407420

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