Erlösung im Marginalen

Zwei neuere Untersuchungen zum Werk W.G. Sebalds

Von Karl-Josef MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Karl-Josef Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sowohl Paul Whitehead als auch Russell J.A. Kilbourn kommen in ihren Untersuchungen zum Werk W.G. Sebalds auf Walter Benjamins neunte geschichtsphilosophische These zu sprechen. In diesem kurzen Text deutet Benjamin das Aquarell Angelus Novus von Paul Klee als Sinnbild für den Geschichtsverlauf. Nach einer ebenso kurzen wie willkürlich anmutenden Bildbeschreibung, leitet Benjamin seine Interpretation des Bildes als Menetekel der Geschichte ein: „Der Engel der Geschichte muß so aussehen.“ Es folgen Aussagen, die mit dem Bild von Klee und den Besonderheiten seiner Gestaltung kaum mehr in Einklang zu bringen sind.

Weder für Whitehead noch für Kilbourn stellt dieser eigenartige Umgang mit dem Engelsbild ein Problem dar. Kilbourn kommt auf den Engel als „topos or constellation, in modern and contemporary European literature“ zu sprechen, während Whitehead in einer Anmerkung auf die Parallelen zwischen der skeptischen Geschichtsauffassung von Sebald und Benjamin verweist, wie sie in dem Angelus-Text paradigmatisch zum Ausdruck kommt. Die künstlerische Gestaltung des Engelsbildes gerät dabei weitgehend aus dem Blick, es dient einzig dazu, die Geschichtsauffassung Benjamins zu illustrieren.

Nun müssen wir zugeben, dass diese Überlegungen zur Geschichte zu faszinieren vermögen. Nicht ein allgemeiner Fortschritt und der zuversichtliche Blick nach vorne kennzeichnen in den Augen Benjamins den Geschichtsverlauf, sondern der schockierende Rückblick auf den „Trümmerhaufen“ der vergangenen Katastrophen. Geschichte, so Benjamin, erweist sich nicht als Weg in eine immer bessere Welt, sondern als permanente Apokalypse. Dennoch bleibt die Indienstnahme des Bildes zum Zwecke geschichtsphilosophischer Überlegungen fragwürdig.

Zurück zu den Texten von Whitehead und Kilbourn. Beide Autoren greifen auf eine Fülle von Theorien zurück mit der Absicht, Sebalds Werk im Kontext der (Post)Moderne verorten zu können. Kilbourns entsprechende Aufzählung ist beeindruckend: „postmodernism, postcolonialism, posthumanism but also, even more specifically for Sebald, the postmemorial, the postapokalyptic.“ Nicht fehlen dürfen „the Frankfurt school“ sowie „postcolonial and poststructuralist theories“, und natürlich die „queer theory, negativly“.

In Whiteheads Literaturverzeichnis findet sich ebenfalls eine Fülle von Titeln, die sich den bei Kilbourn erwähnten Theorien zuordnen lassen. Auch verweist Whitehead auf die ausufernde Sekundärliteratur zum Werk W.G. Sebalds:„Zweifelsohne gehört die Sebald-Forschung zu den produktivsten Forschungsgebieten der letzten fünfzehn Jahre. Während in quantitativer Hinsicht die Forschungslage nahezu unüberschaubar geworden ist, lassen sich zentrale Themen der Spezialforschung rasch ausmachen.“

Gemeinsam ist beiden Autoren die Überzeugung, dass ihre eigenen Erörterungen des Sebaldschen Werkes nur in der intensiven Auseinandersetzung nicht nur mit der bereits „unüberschaubar“ gewordenen Sekundärliteratur sinnvoll sein kann, sondern dass, explizit bei Kilbourn, implizit bei Whitehead, diverse Theorieansätze herangezogen werden müssen, um so den Texten Sebalds auf die Schliche kommen zu können.

Ein radikal anderes Verhältnis zwischen Kunst und Interpretation entwirft George Steiner in seinem Buch Von realer Gegenwart aus dem Jahr 1989. Zunächst imaginiert er eine Gesellschaft, „in der jedes Gespräch über Kunst, Musik und Literatur verboten ist.“ Realiter wendet er sich gegen die andauernd unreflektiert vorherrschende Praxis akademischer Deutungsproduktion: „Die Sekundärliteratur zu Madame Bovary ist Legion und entbehrlich. Biographische, stilistische, psychoanalytische, dekonstruktivistische Kommentare sind zu nahezu jedem Abschnitt des Flaubertschen Textes verfaßt worden.“Gelten lässt Steiner hingegen Interpretationen, die sich aus der künstlerischen Umgestaltung fremder Werke ergeben, etwa „wenn Racine Euripides liest und umgestaltet; wenn Brecht Marlowes Edward II. umdeutet; wenn Genet in Die Zofen spielerisch seine scharfsinnigen Variationen der Themen in Strindbergs Fräulein Julie vorführt.“

Natürlich weiß Steiner, dass ein Deutungsverbot nicht nur keinen Sinn macht, sondern uns eines wesentlichen Zuganges zur Kunst berauben würde. Es ist allerdings bezeichnend, dass er tendenziell Äußerungen von „Künstlern über Kunst, von Schriftstellern über das Schreiben und von Musikern über Musik“ als Beispiele gelungener Deutungen anführt, ohne freilich solche von Autoren, „die nur rezeptiv agieren“, grundsätzlich abzuwerten.

Whitehead stellt das Marginale ins Zentrum seiner Untersuchung. Im Unscheinbaren, im Kleinen und Kleinsten, so seine These, spüre Sebald dem katastrophalen Geschichtsverlauf nach. Nicht episches Erzählen der Historie stehe bei ihm im Zentrum, und dennoch fragten „Sebalds Werke nach dem Zustand der Gattung Mensch nach dem historischen Einschnitt des systematischen Tötens.“ Ein enormer Anspruch. Gleichzeitig konstatiert Whitehead, „Sebalds Geschichtsauffassung“ basiere „auf einer nahezu in sich geschlossenen Weltauffassung.“

Im Mittelpunkt der Untersuchung von Kilbourn steht der Begriff der Erlösung, später ergänzt durch den des Heiles und schließlich den der Restitution: „I read ‚restitution‘ here as a secular alternative to the more loaded concept of ‚redemption‘.“ Wie für Whitehead ist auch für Kilbourn das Werk von Sebald eines nach dem Holocaust als Kulminationspunkt eines katastrophalen Geschichtsverlaufes. Der Gedanke der Erlösung allerdings sei, so Kilbourn, untrennbar verbunden mit einem männlichen und patriarchalischen Blickwinkel, den es zu überwinden gelte. Erneut sehen wir uns mit einem mehr als ambitionierten Anspruch konfrontiert. Sebald geht es im Grunde um nichts Geringeres als um die Frage, wie Erlösung angesichts der systematischen Menschenvernichtung zu erlangen sei.

Whitehead wie Kilbourn verlieren ihre Fragestellung allerdings über weite Teile ihrer Untersuchungen aus dem Blick, weil sie diesen auf Theorien richten, von denen sie sich Deutungshilfen für Sebalds Werk erhoffen. Dabei wird der Wahrheitsanspruch dieser Theorieansätze nicht in Zweifel gezogen. Beispielhaft dafür steht die Aussage, der Gedanke an Erlösung resultiere einzig aus männlich geprägtem Denken.

Mehrfach verwendet Whitehead den Begriff „liminal“ oder „Liminalität“. Fachbegriffe haben es an sich, nicht von jedem unmittelbar verstanden zu werden. Der Begriff der Liminalität geht wohl auf den Ethnologen Victor Turner zurück: „Er beschreibt einen Schwellenzustand, in dem sich Individuen oder Gruppen befinden, nachdem sie sich rituell von der herrschenden Sozialordnung gelöst haben.“ In der Arbeit Whiteheads steht das Liminale für das Abwegige, das im Abseits stehende wie auch das vermeintlich Randständige und Nebensächliche. Sebald platziere seine Figuren „bewusst am Rande der Katastrophe, wo eine dialektische Glücksgestalt durch eine durchaus sensorische Erfahrung von Zeitlichkeit und Räumlichkeit zu erhaschen ist. So erkunden sie das Liminale, um zentrale Aussagen über die Gattung Mensch im späten zwanzigsten Jahrhundert zu treffen.“ Whitehead setzt wie selbstverständlich voraus, dass der Leser mit dem Begriff des Liminalen vertraut ist, den er nicht näher erläutert. Aber ist es nicht so, dass erst die genauere Kenntnis der Theorie Turners den Begriff des Liminalen erschließen würde und kann und darf man diese Kenntnis beim Leser einer literaturwissenschaftlichen Arbeit voraussetzen, ganz zu schweigen bei einem interessierten Laien?

Wie erwähnt, deutet Benjamin das Bild Angelus Novus von Klee als „Engel der Geschichte“. In einem an Benjamin gerichteten Gedicht weist dessen Freund Gershom Scholem diese Indienstnahme allerdings entschieden zurück:

Ich bin ein unsymbolisch Ding
Bedeute was ich bin
Du drehst umsonst den Zauberring
Ich habe keinen Sinn.

Was ist und was bedeutet das Werk von W.G. Sebald? Hat es einen Sinn, für dessen Erschließung ein umfassender theoretischer Apparat notwendig ist, wie Whitehead und Kilbourn ihn anwenden? Oder gibt es so etwas wie einen eher unmittelbaren Zugang zu diesem Werk wie zur Kunst allgemein, der sich in der intensiven Beschäftigung mit dem jeweiligen Gebilde besser erschließen ließe als im Rekurs auf diesem äußerliche Theorien?

Es wäre vermessen und ungerecht, den hier vorliegenden Arbeiten zum Sebaldschen Werk jeglichen Erkenntnisgewinn abzusprechen. Dennoch stellt sich nach der Lektüre die Frage, ob dieses Werk und seine eventuelle Fragwürdigkeit nicht eher hinter den Ausführungen der beiden Autoren verschwindet als dass es selbst und seine Zweifel an ihm zum Vorschein kämen. Denn bei aller Faszination, die Sebalds Bücher ausüben, bleibt offen, ob der Absolutheitsanspruch, mit dem sie auftreten, nicht ihre Substanz in Frage stellt.

Wenn Sebald dem literarischen Werk von Jurek Becker kategorisch abspricht, etwas Wesentliches über die Verfolgung der Juden zum Ausdruck zu bringen, und wenn er selbst sich gleichzeitig darin versucht, in seinem eigenen Werk dem, was sich unter dem Begriff „Holocaust“ oder unter dem Ortsnamen „Auschwitz“ verbirgt, eine glaubhafte Stimme der Erinnerung zu geben, sind dann nicht die Grenzen der Anmaßung erreicht, wenn nicht gar überschritten?

Whitehead und Kilbourn stellen sich diese Frage nicht. Sie setzen die hohe Qualität der Sebaldschen Texte als selbstverständlich voraus und wollen diese im Rückgriff auf komplexe Theorien unterschiedlichster Provenienz belegen. Dabei verwandelt sich ihnen Sebalds Werk zum Angelus Novus, der nicht in seiner so beeindruckenden wie fragwürdigen Eigenart betrachtet wird, sondern in Gefahr ist, lediglich zum Stichwortgeber eigener theorielastiger Überlegungen zu verkommen.

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Paul Whitehead: Im Abseits. W.G. Sebalds Ästhetik des Marginalen.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2019.
208 Seiten, 39,80 EUR.
ISBN-13: 9783849812744

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Titelbild

Russel J. A. Kilbourn: W.G. Sebald’s Postsecular Redemption. Catastrophe with Spectator.
Northwestern University Press, Evanstone, Illinois 2018.
220 Seiten, 33,00 EUR.
ISBN-13: 9780810138087

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