Poetische Phänomenologie

Uwe Kolbes neue Gedichte staunen, warten – und wissen Antwort

Von Michael BraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Braun

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Eine Anekdote über Philosophen geht so: Gehen ein Positivist und ein Phänomenologe an einer Schafherde vorbei. Sagt der Positivist: „Schau mal, die Schafe sind alle schwarz.“ Antwortet der Phänomenologe: „Na ja, aber nur auf der Seite, die sie uns zukehren“. Uwe Kolbe ist kein Philosoph, der hinter den Dingen Erkenntnis und Wahrheit wittert, sondern ein Poet, der die Tatsachen ansieht, um etwas über deren Erscheinungsbild zu sagen. Es geht ihm um die sichtbaren Dinge, auch wenn diese nicht unmittelbar vor Augen liegen – vielleicht weil wir sie aus Angst vor einer Erkenntnis verschließen, die am Ende des Gedichts auftauchen kann und dem Ganzen eine Form gibt wie ein singulärer Kreuzreim.

Den „sichtbaren Dingen“ ist Uwe Kolbes neuer Gedichtband gewidmet. Es sind Dinge, die von Mutter Natur und Vater Staat herkommen, „Zaunkönig“ und „Hausmeister“, es sind Erscheinungen aus Ethik, Psychologie und Philosophie, Zustände, die aus dem Kummer des Liebenden und dem Stolz des Geliebten kommen. Die Luft heißt das erste Gedicht. Es geht aus von einem Kinderspiel. Das eine Kind fragt das andere, das oben im Birnbaum sitzt, wie „die Luft da oben“ sei. Der poetische Sprecher fügt die gleiche Frage an, gerichtet an „den alten Meister in dem Spiel“, den man sich wohl als einen den Dichtern zugewandten Philosophen in Brecht’scher Façon denken kann. Der gibt eine „klare“ Auskunft: „dünn, / doch ach, aber man braucht nicht mehr so viel“ [meine Hervorhebung, M.B.]. Das ist Stoa mit Gefühl, Existenzeingrenzung im Spiel des Lebens. So wie man von den Kindern das Staunen lernen kann, mit dem das Denken beginnt, so lehrt uns der Dichter das zu sehen, was wir sekündlich einatmen, um zu leben, ohne es bewusst wahrzunehmen. Das Gedicht ist sogar noch, so meint in seinem Lyrikband von 1999 Hans Magnus Enzensberger, Kolbes großer Denkgefährte, „Leichter als Luft“, wie ein steigender Tennisball, das Helium, das Elmsfeuer, der Strahlenkranz des Magneten – weil es „ohnehin / in der Schwebe“ bleibt.

„Kaum schwerer als Luft“ ist auch der Vogel, den Kolbe als Wappentier für sein poetisches Schreiben auserwählt hat: der „Orpheusspötter“, der für jene Fügungen von Pathos und Ironie, von Banalem und Erhabenem, von Melancholie und Heiterkeit steht, die charakteristisch sind für die Gedichte des 1957 geborenen Kolbe.

„Bin wieder Kind geworden mit den Jahren / hab keinen Anteil an der großen Welt, / hocke in einem abgelegenen Garten / und staune, dass der Regen fällt“, heißt es drei Zyklen später in Kolbes Band. Der Dichter ist, nach Stationen in Berlin, Tübingen, Hamburg, in Dresden angekommen. Die epikureische Haltung tut den Versen gut, wenn sie staunen wie Kinder. In der selbstgewählten Beschränkung denkt sich der Dichter die „Leute draußen zu Liebespaaren“ und hat die „Zeitung Hoffnung“ längst abbestellt. Er harrt wie im Sterntalermärchen auf Erleuchtung, die von innen kommt.

Besonnene Verse mit eigener Haltung, eine Poesie der Sichtbarkeit der Dinge, ein Gedichtband mit Tiefe ohne Gründigkeit. Und beim Anblick der Schafherde hätte Uwe Kolbe vielleicht sagen können: „Ja, die sind schwarz, aber nur hier und jetzt.“

Titelbild

Uwe Kolbe: Die sichtbaren Dinge. Gedichte.
Poetenladen, Leipzig 2019.
67 Seiten, 18,80 EUR.
ISBN-13: 9783940691989

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