Eine literarische Stadt lässt nicht los

Neuere und neueste Prag-Literatur in Ausschnitten

Von Karin S. WozonigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Karin S. Wozonig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Sie stieg hinauf, hielt von Zeit zu Zeit inne und schaute zurück: Unter ihr lagen die vielen Türme und Brücken; die Heiligen drohten mit den Fäusten, die starren Steinaugen den Wolken zugewandt. Es war die schönste Stadt der Welt.“ Vom Hügel Petřín aus schaut Teresa in Milan Kunderas Welterfolg Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins (1984) auf die Stadt Prag. So kennen die Literaturfreunde sie, diese Stadt, die in so vielen Werken eine Rolle spielt, oft die Hauptrolle. Kurze Ausschnitte aus rund zwanzig Romanen und Erzählungen, entstanden nach 1960, hat die Herausgeberin Petra Knápková zusammengetragen, nicht mehr als „Kostproben“ sollen es sein, auch Kunderas Bestseller ist dabei.

Die Sammlung bedient den Topos von der literarischen Stadt. Wie erwartbar werden auch Geistergeschichten erzählt, so von Jaroslav Seifert, bei dem es unweit des Goldenen Gässchens spukt. Auch der Ewige Jude von Prag aus der Jüdischen Märchen- und Legendensammlung von Eduard Petiška hat seinen Auftritt. Der längste Text der Sammlung umfasst fünfzehn Seiten und ist die Kafkarei von Bohumil Hrabal („Im Fluß ächzt Prag mit gebrochenen Rippen, und die Brückenbogen springen wie Parforcehunde nacheinander ans jenseitige Ufer.“), womit auch dieser Bezug hergestellt wäre, das literarische Prag ohne Franz Kafka ist undenkbar.

Aber auch die Politik, die wechselvolle Geschichte des Landes, ist ein zentrales Thema. Der Ich-Erzähler in Ota Pavels Geschichte Lauf durch Prag aus Povídky z šuplíku („Geschichten aus der Schublade“) läuft am Vorabend der Wahlen 1946 auf Geheiß seines kommunistischen Vaters als Verkörperung der Volkssozialisten einen symbolischen Verliererlauf durch Prag und wird auf dem Wenzelsplatz von Anhängern dieser Partei verprügelt. In Daniela Hodrovás Text Der Geist von Hagibor wartet ein ehemaliger Balljunge an dem Ort, an dem in den 1920er Jahren eine jüdische Sportanlage und 1941 ein Konzentrationslager errichtet wurde, darauf, dass ein Tennisball aus der Vergangenheit über den Zaun fliegt und die erste tschechoslowakische Republik zurückbringt. Nicht mehr als die Ankündigung des Erzählens von der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg ist der kurze Ausschnitt aus Jiří Šmoranc’ Kinder der Peripherie, wie überhaupt die ganze Zusammenstellung aufgrund der Kürze der Ausschnitte nicht mehr als eine Anregung fürs Weiterlesen sein kann. Der erste Text der Sammlung mag allerdings als besondere Empfehlung für den Roman Mendelssohn auf dem Dach von Jiří Weil aus dem Jahr 1960 gelten, der gerade vom Wagenbach Verlag in der Übersetzung von Eckhard Thiele verlegt wurde.

Weiter- oder wiederlesen ließe sich auch das Werk der auch auf Deutsch schreibenden Lenka Reinerová (1916–2008) oder einer der fünf ins Deutsche übersetzten Romane des 1972 geborenen Autors Jaroslav Rudiš. Sein jüngstes Buch, Winterbergs letzte Reise, wurde 2019 für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert und ist das erste, das der Autor auf Deutsch verfasste. Seine Figur Hana aus Die Stille in Prag (2012), die in der Anthologie zu Wort kommt, hat einen etwas anderen Blick auf die Stadt als Kunderas Teresa: „Groß und schön kann Prag nur den hiesigen Knödelfressern vorkommen, die nie irgendwo anders gewesen sind. […] Was der Kommunismus und der Kapitalismus unberührt gelassen hatten, wurde vom Massentourismus um die Ecke gebracht.“ Aber dann sieht sich auch Hana die Stadt von oben an, sie geht auf die Letná-Höhe über der Moldau, einen der wenigen Orte, „die sie in Prag wirklich liebt und die sie vermissen würde“. Schon Kafka hat es gewusst: „Prag läßt nicht los. Dieses Mütterchen hat Krallen.“

Titelbild

Petra Knápková (Hg.): Prag. Eine literarische Einladung.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2019.
139 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783803113429

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