Fragmentierte Männerkörper im totalen theatre of operations?

Anmerkungen zum Reprint „Die Bühne im Bauhaus“ von 1925

Von Kai SammetRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Sammet

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Tonnen von Sekundärliteratur, Bild- und Architekturbänden häufen sich auf dem auf, was 1919 als Staatliches Bauhaus in Weimar begann. Da macht es wenig Sinn, den hier vorliegenden Reprint eines der legendären Bauhausbücher wie eine Neuerscheinung zu besprechen. Vielleicht ist es besser, naiv in Die Bühne im Bauhaus hineinzulesen und herumzuassoziieren. Die erste Assoziation mag auf den ersten Blick weit hergeholt erscheinen. Doch zeigt sie die Distanz, die uns nach 100 Jahren vom Bauhaus trennt, auch wenn uns das im Moment als zeitgenössisch verkauft wird: Die Postmoderne ist prima. Fehlertoleranz, Unlust am Absoluten oder Totalen, am „Wesen“ von irgendwas, Vermischungen, Perspektivismus, Relativismus, dieses permanente Vorsichhingewurstel ohne Metaphysik und letzte Wahrheiten. Das ist angenehm, wenn auch anstrengend. Demgegenüber fällt in den Texten von Oskar Schlemmer (Mensch und Kunstfigur) und László Moholy-Nagy (Theater, Zirkus, Variété) auf, dass es von Adjektiven wie „rein“, „absolut“, „total“, „universal“ nur so wimmelt – das klingt gar nicht postmodern. Moholy-Nagy fordert ja auch ein Theater der Totalität. Und dann geht es dauernd um Ordnung, so wenn wieder Moholy-Nagy Dadaismus und Merz-Kunst die Zusammenstellung bloßer Zufälligkeiten, also Chaos, vorwirft. Für Schlemmer – auch bei ihm geht es um Ordnung – sind die „vom menschlichen Geist erfundenen Mittel“ der Bühnengestaltung aufgrund ihrer Artifizialität „abstrakt zu nennen, indem sie ein Unternehmen wider die Natur zum Zweck der Ordnung bedeuten“. Jetzt taucht eine zweite Assoziation auf. Klingen „total“, „absolut“, „Ordnung“ nicht ein bisschen ‚rechts‘? Das könnte so sein. Aber vielleicht – dritte Assoziation – sollte hier, wie im Bauhaus überhaupt, von Grund auf neu gedacht werden, nachdem jegliche Ordnung zerfallen war? Anscheinend war das nur möglich mit vorhandenen Begriffen und Denkschemata, die eben aufs Ganze gegen die „zerfallende Volksgemeinschaft“ (Schlemmer) gingen. Man kann aber noch weiter assoziieren.

Dabei kann man sich von Bildern leiten lassen. Auf dem einen, das Figurinen aus dem Puppenspiel Mann am Schaltbrett von Kurt Schmidt zeigt, 1924 am Bauhaus uraufgeführt, sieht man eine Puppe, deren linker Unterschenkel wie ein Piratenholzbein aussieht. Auf der nächsten Seite sieht man eine Figur, die keine Hand mehr hat, stattdessen aber eine wie aus Metall gefertigte Prothese, die in einen Schraubenschlüssel ausläuft. Schließlich hat der „kleine Bucklige“ aus dem Marionettenspiel Die Abenteuer des kleinen Buckligen Unterarme, die in einer Art abgerundeter Keule enden. Ist das nur die bekannte funktionale Bauhaus-Stilisierung oder wird hier das Alltagsbild des „Ohnhänders“ aus dem Ersten Weltkrieg zur funktional-stilisierten Figur?

Wieder eine Assoziation: Öfters drängen sich beim Lesen des Textes Moholy-Nagys als Gegenbild seines Totalitäts-Entwurfs Fotos aus dem Ersten Weltkrieg auf, die zerstörte Unterstände, zerfetzte Granattrichter oder den verwüsteten Stacheldrahtverhau im Niemandsland zwischen Schützengräben zeigen. Ist auch diese Assoziation zu weit hergeholt? Mag sein. Aber der Krieg verschwand ja nicht einfach. Hier wird kein Krieg (mehr) geführt, aber er steckt in den Knochen (sowohl Schlemmer als auch Moholy-Nagy waren an der Front) und die tauchen jetzt als Puppen und Mechanik wieder auf. Dann ist es auch kein Zufall, wenn Schlemmer drei Phänomene als Zeichen der Zeit ausmacht. Erstens die Abstraktion, die er als Loslösung der Teile von einem bestehenden Ganzen auffasst, um diese ad absurdum zu führen (sind das fragmentierte Körper im Niemandsland?) oder zum Höchstmaß zu steigern (die zerfetzten Teile drängen sich ins Bild?). Zweitens sieht Schlemmer Mechanisierung als Zeichen der Zeit, war doch der Erste Weltkrieg wohl einer der ersten Kriege, die man als mechanisiert bezeichnete. Drittens führt Schlemmer die technischen Mittel an, die im Bühnenbild immer wieder den Menschen verdrängen sollen. Daher münden diese Beobachtungen in immer wieder durchgespielte Überlegungen zur Stellung des Menschen innerhalb des komplexen Bedeutungsträgers Bühne: „Der Organismus Mensch steht in dem kubischen, abstrakten Raum der Bühne. Mensch und Bühne sind gesetzerfüllt. Wessen Gesetz soll gelten?“ Entweder nun, so Schlemmer weiter, „wird der abstrakte Raum in Rücksicht auf den natürlichen Menschen diesem angepaßt und in Natur“ oder Naturimitat „rückverwandelt“. Oder der Raum herrscht.

Und war das nicht die Erfahrung der Soldaten? Die abstrakten, zu Fragmenten zerschossenen Räume des Krieges waren kaum dem Menschen angepasst, vielmehr musste sich dieser einfügen, sich in Erdlöchern an Lehmwände ducken, um zu überleben. Und war dort der Mensch mit seinen organischen Defiziten, mit seinen Einschränkungen nicht eigentlich „unzulänglich“? Es gebe die „Bedingtheit der menschlichen Gestalt, das Gesetz der Schwere, dem sie unterworfen ist“. Ein Mensch, im Gegensatz zu technischen Apparaten, könne nur Schritte machen, die „nicht viel länger“ sind „als ein Meter“, er könne bestenfalls zwei Meter hoch springen. Apparate können hier eine große „mechanische Exzentrik“ entfalten, deren der Mensch nicht fähig ist, da er ja „mit seinem Organismus höchstens eine gewisse auf seinen natürlichen Körpermechanismus bezogene Bewegungsorganisation durchführen“ kann, so wieder Moholy-Nagy: „Die Unzulänglichkeit ,menschlicher‘ Exzentrik führte zu der Forderung einer bis ins Letzte beherrschbaren, exakten Form- und Bewegungsorganisation, welche die Synthese der dynamisch kontrastierenden Erscheinungen (von Raum, Form, Bewegung, Ton und Licht) sein sollte.“ Sicher lässt sich das einfach so lesen, dass das Bauhaus weg will von der bloß illusionistischen Guckkastenbühne, in der Texte gesprochen und bebildert werden: Während der Mensch im bürgerlichen Illusionstheater „nur der Interpret einer dichterisch gefaßten Individualität oder Type war, soll er in dem neuen THEATER DER TOTALITÄT die ihm zur Verfügung stehenden geistigen und körperlichen Mittel aus sich heraus PRODUKTIV verwenden und sich in den Gestaltungsvorgang INITIATIV einordnen“.

Schlemmer träumt Totalität etwas anders, wenn er von der absoluten Schaubühne spricht, in der Form, Farbe, Bewegung immer wieder neu miteinander in Aktion gesetzt werden: „Der Mensch, der Beseelte, wäre aus dem Gesichtsfeld dieses Organismus der Mechanik verbannt. Er stünde als der „vollkommene Machinist“ am Schaltbrett der Zentrale, von wo aus er das Fest des Auges regiert.“

Das mag man wieder als bloße Techno-, sicher auch als männliche Beherrschungsphantasie abtun, die noch öfters aufscheint, so wenn Schlemmer bei der Frage der Interaktion verschiedener Gattungen (Sprechtheater, Tanztheater, Schautheater) notiert: „Ihr Vollstrecker ist der universale Regisseur.“ Dieses Phantasma eines Einzelnen, der das gesamte theatre of operations beherrscht, scheint auch bei Moholy-Nagys Theater der Totalität auf. Es müsse eine „Aktivität“ entstehen, die die Zuschauer „nicht stumm zuschauen läßt, sie nicht nur im Innern erregt, sondern sie zugreifen, mittun und auf der höchsten Stufe einer erlösenden Ekstase mit der Aktion der Bühne zusammenfließen läßt“. Dass dieser „Vorgang nicht chaotisch sondern mit Beherrschtheit und Organisation vor sich geht, das gehört zu den Aufgaben des tausendäugigen, mit allen modernen Verständigungs- und Verbindungsmitteln ausgerüsteten NEUEN SPIELLEITERS.“

Sicher, Fragmentierung des Körpers, Abstraktion und Neu-Ordnung des Sehens und Gestaltens waren schon Entwicklungen der Ästhetik der klassischen Moderne vor dem Ersten Weltkrieg. Doch reagieren Schlemmer und andere nicht doch auch auf lebensweltliche Erfahrungen? Und reagiert damit die beschriebene Kontroll- oder Beherrschungsphantasie nicht auch auf die Ohnmacht des Frontsoldaten, der in der Schlacht nichts beherrscht und dem selbst 1000 Augen nicht das Überleben gesichert hätten? Könnte sich dann dieser „abstrakte“, also fragmentierte Mann retten, wenn das Schlachtfeld, das theatre of operations, das theatre of war tatsächlich jenes Theater der Totalität, der totalen Beherrschung wäre, in dem er der „vollkommene Machinist“ wäre?

Titelbild

Oskar Schlemmer / László Moholy-Nagy / Farkas Molnár: Die Bühne im Bauhaus. (Bauhausbücher 4). Reprint der ersten Auflage 1925.
Gebr. Mann Verlag, Berlin 2019.
90 Seiten, 59,00 EUR.
ISBN-13: 9783786128168

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