Hinein in einen Wald aus Zeichen

Dirk von Lowtzow legt mit dem geordnet-labyrinthischen „Aus dem Dachsbau“ sein erstes Buch vor

Von Manuel BauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manuel Bauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Tocotronic-Sänger und -Texter Dirk von Lowtzow schreibt seit nunmehr einem Vierteljahrhundert mit großer Verlässlichkeit Verse, die wie wenige andere der deutschsprachigen Gegenwartspopkultur ihre Slogan- und Feuilleton-Tauglichkeit unter Beweis gestellt haben; die Literaturaffinität dieser Band war immer schon offenkundig. Doch ein Punkethos gepaart mit dem sicheren Gespür für Distinktion hat es nicht eben wahrscheinlich erscheinen lassen, dass auch Lowtzow unter die Literaten geht. Anlässlich der Publikation der Tocotronic Chroniken im Jahr 2015 vermutete der Rezensent noch, Lowtzow werde es zahlreichen Kollegen nicht gleichtun und keine Ausflüge ins Fach der Schriftstellerei unternehmen. Als Grund wurde eine tief sitzende Skepsis gegen Erzählungen vermutet, die das songlyrische Œuvre Lowtzows ebenso wie diverse Aussagen in Interviews erkennen ließen. Nun hat er es doch getan – ist aber dieser Skepsis treu geblieben, um sie produktiv zu machen. Anders als etwa seine musizierend-literarisierenden Kollegen Sven Regener, Thees Uhlmann oder jüngst Bela B. Felsenheimer hat er keinen Roman geschrieben. Lowtzow legt mit Aus dem Dachsbau ein Buch mit geschmeidiger Prosa vor, die gleichermaßen das Mosaik einer Lebenserzählung entwirft und sich einer geschlossenen Narration verweigert – ein Buch, dessen Form nicht leicht zu beschreiben ist und das bewusst auf eine Gattungsangabe verzichtet. Es bleibt glücklicherweise völlig offen, ob und in welchem Maße Fiktion vorliegt. Ungebrochen mimetische Einblicke in das Leben eines Indie-Rockstars wären zwar von voyeuristischem, schwerlich aber von nennenswertem literarischem Reiz. Der Autor gefällt sich als Trickser, „als ein Übersetzer zwischen den Türen“, ohne dass immer klar wäre, wohin diese führen.

Sein literarischer Erstling ist eine Kreuzung aus Fiktion und Autobiografie in Fragmenten und damit gewissermaßen ein Gegenstück zum jüngsten Tocotronic-Album Die Unendlichkeit (2018), das ebenfalls einem autobiografischen Konzept folgt und Impressionen aus dem Leben des singenden Ichs miteinander verwebt, ohne sich in einer linearen Entwicklungsnarration zu erschöpfen. Das wird nun noch einmal radikalisiert. Es ist kein Zufall, dass auf dem Buchumschlag im Titel Aus dem Dachsbau die Buchstaben ABC hervorgehoben sind, denn die enthaltenen Texte sind alphabetisch angeordnet. Doch es ist gerade dieses Ordnungsprinzip, das eine erzählerische Unordnung mit sich bringt, da dadurch jedwede Chronologie subvertiert wird.

Die einzelnen Texte tragen Titel wie „Aliens“, „Brandteigkrapfen“, „Cosima“ oder „Dezember“, wobei die meisten Buchstaben mehrere Einträge erhalten. Die Kapitel-Überschriften sind bisweilen recht frei assoziativ, teilweise mit direkten Bezügen zur eigenen subkulturellen Sozialisation (besonders offensichtlich etwa bei „Hüsker Dü“, wobei der legendären Hardcore-Band gerade kein Text, sondern eine flüchtig-liebevolle Zeichnung gewidmet wird), gelegentlich auch an der Grenze zur Albernheit: Bei „Xaver“, das von einem mutmaßlichen, an der fränkisch-thüringischen Grenze wohnhaften unehelichen Sohn Neil Youngs erzählt, dürfte die unerquickliche Suche nach einem Lemma mit „X“ den Ausschlag gegeben haben. Texte wie „Alexander“ oder „Idiotentest“ sind offenkundig autobiografischer Natur. Sie erzählen von unerhörten Begebenheiten, Freunden und Wegbegleitern. Diese Wegbegleiter treten auch in anderen Kapiteln in Erscheinung und finden an diversen Stellen Erwähnung, die Begebenheiten werden kaum je auf ein Ende hin erzählt. Situationen, Beklemmungen, Stimmungen oder Zuspitzungen sind wichtiger als Auflösungen.

Andere Texte hingegen, wie beispielsweise „Operettenbär“, sind aufgrund ihrer Phantastik nicht auf faktuale Geschehnisse der realen Welt zu beziehen (was nicht heißt, dass sie nicht von ebenso großer autobiografischer Relevanz sein können): „Nachts, wenn ich in unruhigem Schlummer liege, erscheint mir der Operettenbär“ – der vom Mond herab kraxelt und sich zum Erzähler ins Bett legt und diesen fest in seinen Tatzen hält. Hinzu kommen vereinzelte lyrische Texte. Manche – „Inshallah“ etwa, ein Songtext von Lowtzows Nebenband Phantom Ghost oder „Dark Star“, eine B-Seite einer Tocotronic-Single – sind der geneigten Fanatikergemeinde (wenn auch wohl eher nicht der Masse der Sympathisanten) bereits bekannt, andere sind offenbar ungenutzte Arbeiten aus dem Archiv. Diese werfen die spätestens seit dem umstrittenen Nobelpreis für Bob Dylan allfällige Frage auf, ob Songtexte auch als Lyrik funktionieren (im vorliegenden Fall: aufgrund einiger eher unbeholfener Reime nicht immer).

Das erzählende und erinnernde Ich gibt durchaus intime Einblicke, wobei nie hinlänglich klar wird, inwiefern ein Maskenspiel betrieben wird. Immer wieder kippen die autofiktionalen Erzählfragmente ins Unheimliche, Phantastische oder Absurde und folgen einer Art Traumlogik. Über vielen Texten liegt eine sanfte Melancholie. Das Buch deswegen, wie es an einer Stelle über einen titellos bleibenden Film heißt, eine „Zeit- und Traumreise ins Herz der Finsternis“ zu nennen, wäre überpointiert, aber doch nicht ganz abwegig. Hier schreibt ein Künstler über seine Kunstausübung und die damit verbundenen Schwierigkeiten. Das wiederum ist nicht frei von Anklängen an den Ästhetizismus der klassischen Moderne – und in der geistigen Gefolgschaft der Figur des Dandys fühlt sich die öffentliche Kunstfigur Dirk von Lowtzow ohnehin seit geraumer Zeit erkennbar wohl.

Der Titel Aus dem Dachsbau erinnert (schwerlich ungewollt) ebenso an Franz Kafkas fragmentarische Erzählung Der Bau wie an das poststrukturalistische Konzept des „Rhizoms“ von Gilles Deleuze und Félix Guattari (und damit an einen prominenten Exponenten jener „Merve-Kultur“, an die sich Tocotronic seit jeher ostentativ angelehnt haben). Aus dem Dachsbau ist eine Art Labyrinth mit zahlreichen Eingängen, aber ohne Zentrum (und womöglich ohne Ausgang) und entzieht sich durch seine Form, Anordnung und Schreibweise einer Linearität und eindeutigen Referenzialisierbarkeit. Ein Rhizom folgt, so Deleuze/Guattari, dem „Prinzip der Konnexion und der Heterogenität“, jeder beliebige Punkt ist mit jedem anderen verbunden, ohne dass eine Ordnung festgelegt wäre. Dem Erzähler erscheint gar die erlebte, stets vom Einbruch des Phantastischen verunsicherte Welt als ein solches Rhizom: „Wo einst eine Badezimmertür war, tut sich jetzt ein Gang auf, wo ein Gang war, ist nun eine Tür. Hauptwege und Nebenwege verzweigen sich und münden in Schächte und Kamine. Bald sprießen Wurzeln aus den Dielen, bald glaube ich, modrige Erde zu riechen. Ein Labyrinth? Ein Dachsbau? Wo bin ich hier hineingeraten? Und vor allem, wie finde ich wieder hinaus?“ Das freilich beschreibt nicht allein die Orientierungswirrungen des erlebenden Ichs. Es gilt auch für die Bewegungen des Lesers durch den Text, der mit seiner trügerischen Ordnung eine Bewegung nach vorne nur vortäuscht, uns tatsächlich aber dazu verlockt, Abbiegungen und Abzweigungen zu folgen, und fortwährend Motive oder Figuren aufbietet, die an anderem Ort, zu einem späteren Zeitpunkt im Leben des Erzählers bereits begegnet sind. Die zeitliche Einordnung erschließt sich, wenn sie überhaupt möglich wird, meist nur indirekt, durch diskrete Hinweise. Und doch ergibt sich eine Art nonlinearer Entwicklungsroman in bruchstückhaften Momentaufnahmen. Kleine Initiationsmomente stehen neben Beobachtungen von Veränderungen, die das Älterwerden mit sich bringt.

Das Rhizom ist indes nicht allein auf die diversen immanenten Pfade begrenzt, es wuchert gleichsam über das Buch hinaus. Es werden Einflüsse auf das eigene Schaffen offengelegt, wodurch sich ein intertextuelles und -mediales Zitate-Universum eröffnet, zudem werden beiläufig Versatzstücke aus eigenen Songs einmontiert. Der gesamte songlyrische Kosmos Lowtzows wird zum textuellen Resonanzraum, durch den verschlungene Pfade gewiesen werden. Einige Tocotronic-Stücke, nicht nur vom letzten Album, lassen sich auf der Grundlage von Aus dem Dachsbau autobiografisch deuten, ohne dass hier suggeriert werden soll, dies sei fürderhin die einzig denkbare Lesart. Umgekehrt sind einige Prosaminiaturen als Variationen von Lyrics zu begreifen; insbesondere die Themen von Electric Guitar und Hey Du blitzen wiederholt auf.

Nicht zuletzt aufgrund dieser wiederkehrenden, nicht allzu aufdringlichen Verbindungen zu den Songtexten, aber selbstverständlich auch wegen mancher unverhüllter Bemerkung zu einzelnen Stationen aus der Bandgeschichte dürfte dieses Buch ein veritables Vademecum für Tocotronologen werden. Gleichwohl: This Boy is not just Tocotronic. Dirk von Lowtzow wird mutmaßlich weiterhin vor allem Musiker bleiben, sein Debüt auf dem literarischen Parkett aber erschöpft sich nicht darin, Fingerübungen eines schriftstellerisch dilettierenden Texters zu kompilieren. Zugegeben: nicht alle Texte sind, isoliert betrachtet, große Literatur. Zuweilen fehlt eine zweite Ebene, ein semantischer Mehrwert. Dennoch bleibt zu hoffen, dass die literarische Produktion von His Dirkness nicht eingestellt ist und sich im Lowtzow’schen Dachsbau weitere Wege und allerlei obskure Abzweigungen auftun werden.

Titelbild

Dirk von Lowtzow: Aus dem Dachsbau.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019.
180 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783462050790

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