Von der Banalität des Geheimdienstlebens
András Forgách entdeckt, wer seine Mutter wirklich war
Von Klaus-Peter Walter
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseSpurensuchen nach Müttern und daraus resultierende Neubewertungen ihrer in jeder Hinsicht besonderen Beziehung zu ihren Söhnen sind literarisch gesehen „in“ – man denke nur an C. Bernd Suchers Mamsi und ich über die Holocaust-Überlebende, die Suchers Mutter war, oder an den ZDF-Journalisten Andreas Wunn, der vor einiger Zeit mit seiner Mutter, einer Donauschwäbin, die Balkanroute bereiste, die nicht nur in der Gegenwart afrikanischen und anderen Migranten diente, sondern bereits nach dem Zweiten Weltkrieg Flüchtlinge aus Südost- und Osteuropa nach Westen führte, in diesem Falle nach Konz bei Trier. Durch diese private Reise lernte Wunn seine Mutter, die nie Konkretes über ihre Flucht als Kind hatte verlauten lassen, als Erwachsener noch einmal neu kennen und fand ein neues, besseres Verhältnis zu ihr. Daraus entstand sein bewegendes Buch Mutters Flucht (2018), eine echte, wenngleich spröde Liebeserklärung.
Der ungarische Autor András Forgách entdeckte nach deren Tod, dass seine Mutter Bruria unter dem Decknamen „Frau Papái“ für den ungarischen Geheimdienst arbeitete. Die Wahrheit, auf die er stieß, fiel für ihn schockierend aus – schockierend banal. Es irrt nämlich, wer glaubt (oder hofft), Frau Papái hätte, attraktiv wie sie zweifellos war, ein so aufregendes geheimes Doppelleben geführt wie Arnold Schwarzenegger in dem Film True Lies, wo er im Alltag den langweiligen kleinen Angestellten einer Computerfirma mimt, auf Dienstreisen jedoch als unbesiegbarer Superagent von enormer Kampfkraft internationale Terroristen zur Strecke bringt. András entdeckt weder Mutters altes Sykes Fairbairn Commando Dagger noch eine Glock-Pistole aus Keramikmaterial, die am Airport beim Durchleuchten des Gepäcks nicht erkannt wird, und schon gar keine Titan-Kreditkarte mit unbegrenzter Deckungssumme. No sex, no crime, nichts dergleichen! Was da zutage kommt, ist so spießig, so kleinkariert, so armselig, dass einem nicht nur Herr und Frau Papái leid tun, sondern auch die Schlapphüte, denen sie sich angedient haben. Es ist geradezu peinlich. Zum sechzigstem Geburtstag von Witwe Papái laden ihre drei Führungsoffziere die Jubilarin in ein Budapester Caféhaus ein. Man empfiehlt, lobt und serviert Mohnschnitten und überreicht, dabei nie die allfällige Spesenabrechnung aus dem Blick verlierend, nicht mehr und nicht weniger als eine mit volkstümlichen Motiven bestickte Tischdecke. Bei soviel folkloristischer Fantasie kommt echte Freude auf!
Forgách erzählt im normal gesetzten Haupttext, die Chronologie der Ereignisse gelegentlich unterbrechend, die facettenreiche Geschichte seiner Familie, die zwischen Judentum und Kommunismus, zwischen Osteuropa und dem vorderen Orient wurzel- und heimatlos geworden war. Der polyglotte Vater Marcel etwa magyarisierte seinen allzu jüdisch klingenden Nachnamen Friedmann zu Forgách, zu deutsch „Holzspan“. Der Name war, im Nachhinein betrachtet, fast Programm, denn Forgách war ein Niemand, wurde immer nur herumgeschubst, blieb ohne Fortune, Macht oder Einfluss. Marcel Forgách war „ein Jude ohne Glaube“, patriotisch und ideologisch flexibel, um nicht zu sagen prinzipienlos. Eine Besuchserlaubnis für Israel, wo noch sein Vater lebte, erhielt Marcel seinerzeit problemlos und ließ sich ebenso problemlos als ungarischer Spion anwerben. In Israel wirbt er erfolgreich um die attraktive Bruria, die ihn eigentlich gar nicht liebt. Zusammen studieren sie vor ihrer Eheschließung in Jerusalem. Sie lernt den Beruf einer Krankenschwester und Hebamme. Später kehrt Marcel Forgách mit seiner Frau nach Ungarn zurück. Diese Rückkehr galt vielen im Lande als Verrat am Zionismus und an Israel.
Marcel wird unter dem Namen „Herr Pápai“ Mitarbeiter des ungarischen Geheimdienstes. Er bekommt keine wirklich wichtigen Aufträge, er ist und bleibt ein kleines Licht, wie sich nach dem Studium einschlägiger Akten zeigt. Er gehört zwar zur Presseabteilung des Präsidenten, wird sogar mit seiner Familie – der Sohn András ist inzwischen geboren – nach London geschickt, doch dieses privilegierte Leben ist nicht von langer Dauer. Ein Avencement gelingt ihm nicht. Er bleibt, was er immer war: Mittelmaß. Von Gestalt ein Pygniker, entspricht er ohnehin nicht dem Bild, das man sich gemeinhin von einem glorreichen Geheimagenten macht. Ein bisschen Aushorchen hier, ein bisschen Beeinflussung dort, Akten anlegen und Berichte schreiben, das war’s.
Nach seinem Tod wird Ehefrau Bruria sozusagen seine Amtsnachfolgerin, denn ihre innere Zerrissenheit, ihre physische und seelische Heimatlosigkeit fallen dem Geheimdienst sofort auf. Solche Leute werden gebraucht! Unsicher und formbar, entspricht Bruria genau dem Anforderungsprofil einer kleinbürgerlichen Spionin. Dabei verliert sie jedes Gefühl für das rechte moralische Maß. Sie lässt sich 1983 sogar breitschlagen, den eigenen Sohn András auszuforschen. Aber auch hier tut sich nichts Spektakuläres. Kein genialer Coup mit geheimen Dokumenten und schon gar kein politisches Attentat mit vergiftetem Regenschirm. Kleinkram, mehr nicht. Diese eigentliche Wahrheit steckt dabei in den schreibmaschinentextlichen Fußnoten, in denen aus den Geheimdienstakten zitiert wird. Sie offenbaren eine Tätigkeit von grenzenloser Banalität, die gleichwohl eine Menge Vertrauensbruch und Verrat enthält, nicht zuletzt dem eigenen Sohn gegenüber.
András Forgách grollt jedoch nicht, richtet nicht, verflucht nicht. Seine Reaktion ist eher ein ungläubiges Kopfschütteln über soviel bürokratischen Mief, so viel Kleingeistigkeit, so viel hanebüchenen Quatsch, der da inszeniert und wortreich zu den Akten gegeben wurde und – das Ende des Eisernen Vorhangs 1989 zeigt es – im Grunde gar keinen Sinn hatte. Außer den erwähnten Spesen nichts gewesen. Was Forgách herausfindet, verstört, ist aber auch gleichzeitig „einer Burleske würdig“. Zugegeben, der Tscheche Pavel Kohout, Verfasser der genialen Geheimdienstgroteske Wo der Hund begraben liegt (1987) hat über ein ähnliches nachrichtendienstliches Thema, allerdings ohne Mutter, ein größeres humoristisches, „burleskes“ Fass aufgemacht, hat die grotesken Aspekte des Themas schärfer konturiert, hat den ganz normalen Wahnsinn geheimdienstlicher Maßnahmen hinter dem Eisernen Vorhang keck auf die Spitze getrieben. Kohouts Buch ist mutiger, lachkräftiger, verzweifelter. Hier dagegen bleibt alles, wohl auch wegen der größeren Betroffenheit des Verfassers, verhaltener und gedämpfter. An Empathie fehlt es seinem Buch gleichwohl nicht, und wir stehen recht fassungslos vor der Ansicht einer verführten, im Kern naiven, zerrissenen und im Grunde ihres Herzens traurigen Frau.
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