Phantasmagorischer Städtetrip

Boris Poplawskis posthumer Roman „Apoll Besobrasow“ aus dem Paris der 1930er Jahre

Von Klaus-Peter WalterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus-Peter Walter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Boris Poplawski dürfte selbst einem Großteil der Slawisten unbekannt sein. Er wurde 1903 in Moskau als Sohn eines Musikerehepaares geboren. Die Mutter, eine Violonistin, entstammte einem alten polnisch-litauischen Adelsgeschlecht, der Vater wurde nach einem Musikstudium Kaufmann. 1921 gelangten die Eltern auf der Flucht vor den Bolschewiki via Istanbul nach Paris. Poplawski wuchs zweisprachig – russisch und französisch – auf, verdingte sich in Paris, wo er allerdings nie recht Fuß zu fassen vermochte, als Porträtzeichner, lernte in Berlin Viktor Schklowski und Boris Pasternak kennen, wurde depressiv und drogenabhängig und starb 1935 an einer Überdosis. Er hinterließ wenige, meist lyrische Veröffentlichungen, die obendrein, unter anderem von Vladimir Nabokov, scharf kritisiert wurden. Von seinem stark autobigrafisch geprägten Roman Apoll Besobrasow erschienen zu seinen Lebzeiten lediglich Auszüge. Nun ist er auf Deutsch zugänglich und die Wiederentdeckung ist dank der feinfühligen Übersetzung von Olga Radetzkaja eine wahre Freude. Dabei zeigt sich ein weiteres Mal die Funktion der russischen Literatur als Seismograf gesellschaftlicher Zustände und Wandlungen. Ein genaueres Stimmungsbild aus der nachrevolutionären russischen Emigration ist schwer vorstellbar.

Apoll Besobrasow ist ein faszinierend sprach- und wortmächtiges Buch zum Immer-wieder-lesen. Jeder Satz scheint tonnenschwer, aber vieles ist für Nachgeborene und Nichtslawisten in mancherlei Hinsicht erklärungsbedürftig. Eine ganze Reihe von Erläuterungen fordern schon Vor- und Nachname der Titelfigur heraus, die an sich Unvereinbares vereinen. Apoll wurde in der Antike unter anderem als der Gott des Lichts, der Medizin, der Musik und der Dichtkunst sowie etlicher ethisch positiver Eigenschaften wie der sittlichen Reinheit verehrt. Außerdem gelten Träger seines Namens als ausgesprochen gut aussehend. Ganz anders der Nachname, Besobrasow. Das russische Wort besobrasny, wörtlich „kein Bild, keine Form habend“, deckt einen weiten Bedeutungsbereich zwischen „vage“ und „hässlich“ ab. Hier haben wir also einen fleischgewordenen Widerspruch in sich vor uns. Apoll Besobrasows Lebensprinzip ist das Non-commitment. Er tut so, als ginge ihn das Leben nichts an, katalysiert lediglich Denken und Handlung seiner Umgebung. Er ist ein Flaneur, ein Zuschauer, der nirgendwo mitmacht.

Ort der Handlung ist das Paris der 1930er Jahre, dem Exilort vieler von der Oktoberrevolution entwurzelter Russen, aber auch ein Sammelbecken für alle möglichen geistigen und künstlerischen Strömungen. Poplawski, dessen Eltern Musiker waren, komponiert eine Art Großstadtsymphonie, ein Panoptikum, in dem sich ein Reigen zufälliger Begegnungen abspielt, eine Rhapsodie der Geräusche, Gerüche und des oft zusammenhanglosen Geredes, durch das sich die Figuren, mal stolpernd, mal tanzend, treiben lassen. Von einem leeren Haus ins nächste ziehend, richten sie sich private Weltmuseen ein, Welttheater, Panoptiken rätselvoller, zum Teil sinnfreier Ausstellungsstücke. Bälle – wohl eher Orgien – feiernd, treiben sie wie Schiffbrüchige auf einem halb gesunkenen Wrack durchs Leben, große Pläne schmiedend, aber keinen je auch über den bloßen Vorsatz hinaustreibend. Allein der Gedanke ist bereits das Ziel; so geben sie sich einer wuseligen, hochtourigen Erstarrung hin, Passivität ist bei aller Umtriebigkeit ihr Lebenselixier. Die verschiedenen Häuser dienen ihnen als eine Art Muschelschale, die sie vor dem Leben schützen sollen. Jeder erzwungene Hinauswurf kommt dem Auszug aus einem Paradies gleich in eine feindselige Welt, ein Draußen, das allen unerträglich ist. Da kann man nur in Egoismus, ja in Autismus verfallen. Wenn man diese Bohèmiens in ihrer Vereinzelung betrachtet, kann man verstehen, warum das russische Exil gegen die effektiv organisierten Kommunisten so gnadenlos verloren hat. Der Großstadtnomade Apoll Besobrasow verkörpert eine ziellose „russische Sehnsucht“, die keinen Weg weiß, obwohl er einmal Pfadfinder gewesen ist. Deshalb liest er – was sehr symbolträchtig ist – keine Bücher, sondern schläft zeitweise lieber in leeren Bücherregalen.

In diesen wechselnden weltfernen Refugien findet der Ich-Erzähler „Hähnchen“ Dutow Unterschlupf. Er ist ein mehr oder minder erfolgloser Dichter und Besobrasow in geradezu unterwürfiger Freundschaft zugetan. Um Dutow und Besobrasow scharen sich die rätselhafte Therèse, der entsprungene Mönch Robert Lecornu, der Koch Zeus und der gelehrte Pianist Averroes. Man hat kein Geld, aber man gibt es mit vollen Händen aus, wenn durch verschiedene Gelegenheitsjobs welches verdient wird, und seltsamerweise finden sich immer wieder leerstehende Schlösser, wo man logieren, lesen, diskutieren und feiern kann. Dutow verehrt Besobrasow, mal himmelhoch jauchzend, mal zu Tode betrübt. Besobrasow kann alles erklären, aber er weiß im Grunde nichts. Oder er macht nichts aus seinem durchaus vorhandenen Wissen, er ist „ein Jüngling mit schmutzigen Füßen und reinem Herzen“. Solche Narren in Christo haben viele Vorbilder in der russischen Literatur, zum Beispiel in Fjodor M. Dostojewskijs Der Idiot.

Die vermutlich minderjährige Therèse wuchs in einem Schweizer Nonneninternat auf. Der religiöse Fanatismus ihres Vaters schlug am Ende in religiösen Wahn um und führte ihn ins Irrenhaus und die Familie in die Armut. Seine Religiosität hat Therèse geerbt, was sie aber nicht daran hindert, in aller Gutmütigkeit ein ausschweifendes Leben zu führen und dem entsprungenen Pater Robert Lecornu zu verfallen, einem Skandalpriester, den sie hingebungsvoll peppelt und pflegt. Auf ihn übt sie eine „mystische Behexung“ – man könnte auch kalauernd von Versexung sprechen – aus.

Die Bohème führt – was Robert betrifft – buchstäblich in den Abgrund. Er stürzt bei einer Klettertour mit Besobrasow eine Steilwand hinab. Man fragt sich, warum die beiden diesen gefährlichen Ausflug überhaupt unternehmen. Sicherlich ist es eine Ausgeburt des blinden alltäglichen Aktionismus, der Handel und Wandel der Gruppe vorantreibt. Nach dem Absturz ist nichts mehr wie es war. Therèse, die immer mehr einem Gebetswahn verfällt und Roberts Tod in einer Art religiösen Vision vorausgesehen hat, beschließt, ins Kloster zu gehen. Die Gruppe löst sich auf. Therèse lässt Dutow und die anderen allein im unwirtlichen Wetter der Gegenwart zurück.

Langsam füllte der Raum sich mit Dunkelheit, die Ecken und die rußgeschwärzte Decke waren schon darin verschwunden. Und plötzlich kam dazu ein wundervoll vertrautes, unsagbar trauriges gleichmäßiges Geräusch, und ich wusste, ohne die Augen zu öffnen, dass es draußen wieder zu regnen begonnen hatte.

Die Figuren haben – und das macht sie vielen unserer Zeitgenossen ähnlich – keine Geschichte, sie leben strikt im Hier und Heute. Erinnerungen pflegen sie nicht. „Am Ende unterliegt immer die Erinnerung“. Apoll Besobrasow ist eine lyrische Momentaufnahme des russischen Exils in Paris, gesättigt mit vielen Bezügen zum Surrealismus und mit Anspielungen auf ihn. Aber wie in vielen klassischen Werken der russischen Literatur, man denke etwa an Bulgakows Meister und Margarita oder an Andrej Belyjs Petersburg, spielt auch der urbane Schauplatz eine Hauptrolle. Paris ist eine auf unheimliche Weise pandämonisch belebte Stadt, in der zum Beispiel die Häuser nachts stöhnen. Manch Unerklärliches geschieht hier. Eine Entführung der Gruppe durch Detektive scheitert, auch der Ansatz einer Kriminalstory verläuft so im Sande. Das nicht zuletzt durch das Eingreifen des bärenstarken Tichon Bogomilow, der sich zu einer Art Führungspersönlichkeit entwickelt. Sein Name führt ein weiteres Mal in den Bereich der osteuropäischen Geistlichkeit: Die Bogumilen (zu deutsch „Gottesfreunde“) waren eine Religionsgemeinschaft auf dem Balkan und lehnten Sakramente, die Taufe und die Ikonenverehrung ab, was im Ansatz der anarchistischen Grundhaltung der Romanfiguren entspricht. So verdichtet sich der Roman zu einem halb figuralen, halb abstrakten Gemälde, zu einem Flickenteppich aus einer Vielzahl von Themen und Motiven, der sich nirgendwo festlegen will, aber eine unvergleichliche sprachliche Schönheit ausstrahlt, die immer wieder dazu einlädt, irgendwo eine Seite aufzuschlagen und fasziniert weiterzulesen.

Titelbild

Boris Poplawski: Apoll Besobrasow.
Übersetzt aus dem Russischen, mit Anmerkungen und einem Nachwort von Olga Radetzkaja.
Guggolz Verlag, Berlin 2019.
301 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783945370193

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