Ein Panoptikum der Zumutungen

Alban Nikolai Herbst irritiert und provoziert in seinem Band „Wanderer – Erzählungen I“, einer Sammlung aus 25 Jahren Erzählprosa

Von Manfred RothRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Roth

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die ersten in dem Band Wanderer – Erzählungen I versammelten Texte Alban Nikolai Herbsts stammen aus den frühen 1970er Jahren, wobei manche von ihnen hier zum ersten Mal abgedruckt werden, während der späteste, Geständnis für die literarische Welt 1995 entstand und 1999 zum ersten Mal publiziert wurde. Bereits in der ersten im Band abgedruckten Erzählung Svenja von 1972 werden einige der Bezugspunkte für einen Zugang zu Herbsts frühen Arbeiten gegeben: „Kafka, Dostojewski, Tschaikowski, Selbsthypnose“, später kommt vor allem der argentinische Autor Jorge Louis Borges hinzu. Außerdem habe der Autor, wie es in Geständnis für die literarische Welt augenzwinkernd heißt, „als Pubertierender, den Fehler begangen, Conan Doyle und Freud mit Fix & Foxi simultanzulesen.“

Vor allem Franz Kafka scheint zunächst für das Schaffen Herbsts prägend gewesen zu sein, und tatsächlich merkt man das seinen frühen Erzählungen auch an. So entdeckt in der mit rund 80 Seiten längsten, Ende der 1970er Jahre entstandenen Erzählung Joachim Ziltsʼ Verirrungen ein Mann an der Zimmerdecke ein Dübelloch, klettert hinein und gerät in ein Tunnelsystem, dessen Gänge in Parallelwelten führen. Vermutlich werden nicht von ungefähr gleich zu Beginn Assoziationen mit Kafkas Gregor Samsa aus Die Verwandlung geweckt, der eines Morgens unvermittelt als Käfer erwacht, wenn es bei Herbst heißt: „Langsam glitten meine Blicke unter der Zimmerdecke dahin. In Wirklichkeit kletterten sie wie ein Insekt, dessen hakige Beinchen noch in der geringsten Unebenheit Halt finden können.“ Über weite Strecken funktioniert die Erzählung ausgesprochen gut, weil es Herbst gelingt, einen so absurden wie befremdlichen Erzählkosmos zu schaffen, der trotz aller Sonderbarkeit seiner eigenen Logik und seinen eigenen Gesetzen zu folgen scheint, auch wenn man als Leser diese Regeln nie ganz zu durchschauen vermag. Dass der Autor seine in Joachim Ziltsʼ Verirrungen entworfene Erzählwelt aber nicht für sich stehen lässt, sondern gegen Ende dem Geschehen eine weitere, parallele Deutungsebene einzieht, trübt das Ganze ein wenig. Dennoch gehört die Erzählung zu den besten in Wanderer.

In ihr finden sich auch für Herbst typische Stilmittel, etwa die ungewohnte Syntax, durch die manche Sätze regelrecht zerhackt werden: „Das einzige, worauf ich mich würde verlassen, hoffte ich, können, wäre die Lage der ersten Vertiefung in der Schlafzimmerdecke.“ Auch andere Aspekte seiner Sprache mögen manchem Leser als Zumutung erscheinen, etwa seine Vorliebe für Wortneuschöpfungen oder sein manchmal fast schon manierierter Stil, dessen schönster Auswuchs sich in der Erzählung Roses Triumph findet: „Wenn, selten genug, der Büronachwuchs mit Protestzwiebeln warf, klatschten sie gleichsam wellenlos in den Schlick lehrväterlicher Umarmung. Nur in seltenen Fällen zogen sie Wurzeln am Grund, die dann von Rose kupiert werden mußten.“ In einigen Erzählungen greift Herbst aber auch zum anderen Extrem sprachlicher Unzugänglichkeit, wenn er seitenlang die Bewusstseinströme von Figuren in Umgangssprache wiedergibt.

Die Erzählung Marlboro beginnt zunächst mit einer experimentellen Textstruktur: „aufschtehn / inne Küche Wassa aufsetzn / ins Bad waschn Zähne putzen / inne Küche Wassa kocht Eia anpiekn Kaffe in’n Filta / anziehn“. Durch dieses abgehackte Stakkato erscheint die tägliche Routine des Erzählers ebenso dröge wie die sich immer wiederholenden Abläufe von Fließbandarbeit. Im zweiten Abschnitt der Erzählung wird das umherschweifende Innenleben des Erzählers dargestellt, das atemlos von einer Assoziation zur nächsten springt: „Is ja klaa, dasses durche Presse geht von we’ng, dasse sich valiept hat innen Angeschtelltn, der ihr Le’m gerettet, unt’n Foto von mir, ganz groß, wie’ch mir ʼne Zigrette anschteck wie’r Humphrey Bogart“. Das kann beim Lesen durchaus Mühe machen, ist aber wie fast immer bei Herbst vom Inhalt der Erzählung bestimmt.

Gerade auch inhaltlich kann es aber in dem Erzählband anstrengend werden, wenn er mit seiner zumeist fein ziselierenden Sprache grobe Bilder meißelt, voller Blut, Wunden und Verfall. In Auf dem Lande heißt es etwa:

Wir schritten auf die Tiere zu, wobei uns Schmidt noch einmal versicherte, es sei völlig ungefährlich. Wir dürften uns, sagte er, nach Belieben gehen lassen. Indes Karin das größere Tier streichelte, brachen ihm Schmidt und ich mit einem Stemmeisen den Kopf auf. Mir kam die Reaktion des Kamels erstaunlich echt vor. Trotz der Stahlklammern bäumte es sich auf und schrie, als bräche ihm das Rückgrat. Es war für uns ein großes Erlebnis.

Bei der Erzählung Kette handelt es sich dann im wahrsten Sinne um eine Art literarischen Torture Porn. In ihr versucht sich eine Künstlerin an einer Art Snuff-Malerei, deren Höhepunkt in einer Szene kulminiert, die an Lars von Triers Kastrationsszene aus dem Film Antichrist erinnert. Die Frage ist, ob die Verlegung der Handlung ins Kunstmilieu der Erzählung tatsächlich etwas hinzuzufügen vermag, das über reine Genre-Literatur hinausgeht, die Gewalt ausschlachtet, um einen Voyeurismus zu bedienen, der im Leser dieselbe angewiderte Faszination auslöst, die so manchen bei Autounfällen gaffen lässt.

Ein Großteil der hier versammelten Erzählungen lassen sich dem Bereich der Phantastik zuordnen, von Horror als Hommage an den US-amerikanischen Autor H.P. Lovecraft (Azreds Buch) über Erzählungen, die eher an die B-Filme der 1960er Jahre erinnern, und etwa in Nachruf auf Asmus Hornacek das Motiv des verrückten Wissenschaftlers aufgreifen. Herbst scheut sich jedoch nicht, das Triviale mit dem vermeintlich Anspruchsvollen kurzzuschließen. So lässt er beispielsweise eine seiner Figuren das Zitat Friedrich Hölderlins aussprechen, dass da, wo Gefahr ist, auch das Rettende wächst, oder er lässt in Pyramiden Außerirdische das Museum für Moderne Kunst in Frankfurt aufmischen. Doch anders als bei gewöhnlicher Trivialliteratur, die neben ihren Schauwerten auch davon lebt, dass sie die Illusion einer in sich abgeschlossenen Welt erzeugt, in die der Leser sich versenken kann, bricht Herbst die fiktionale Illusion fortlaufend auf. Er eröffnet in seinen Erzählungen zumeist ein gewaltiges Geflecht aus Verweisen, das sich nicht nur auf andere Autoren oder Werke bezieht, sondern in dem auch die Biografie des Autors selbst fiktionalisiert wird, sodass Realität und Fiktion sich nicht nur durchdringen, sondern gleichberechtigt nebeneinandergestellt und die Grenzen aufgelöst werden. Dieses an den argentinischen Autor Jorge Louis Borges angelehnte Verfahren wird in der Erzählung Der Gräfenberg-Club ganz explizit gemacht, wo neben der fiktiven Handlung nicht nur auf das Geburtsdatum des Autors Alban Nikolai Herbsts, der sich hier als Erzähler ausgibt, Bezug genommen wird, sondern sich reale Personen neben fiktiven Figuren durch tatsächlich existierende Schauplätze der Stadt Frankfurt am Main bewegen.

Nicht ganz zu Unrecht gelten die Arbeiten Alban Nikolai Herbst als notorisch schwierig, da er kompromisslos seiner Poetik treu bleibt, die auch darin zu bestehen scheint, keine Zugeständnisse an Leseerwartungen zu machen und ein vermeintlich realistisches Erzählverfahren, bei dem man ungestört in fiktionalen Erzählwelten schwelgen kann, abzulehnen. Bei Herbst gibt es also keinen Eskapismus, sondern stattdessen ein ständiges Störfeuer, das einen glatten Lesefluss unterbindet, sei es auf sprachlicher, sei es auf inhaltlicher Ebene. Dabei zeigt sich anhand der hier versammelten Erzählungen aus über 20 Jahren, dass Herbst ein durchaus abwechslungsreiches Repertoire an Erzählverfahren aufzubieten hat, denen jedoch allen gemein ist, dass sie auf die ein oder andere Weise ausgesprochen sperrig sind. Man kann daher Herbsts Kurzprosa durchaus als Zumutungen für die Leserschaft ansehen – zumeist im positiven, hin und wieder aber auch im negativen Sinn.

Titelbild

Alban Nikolai Herbst: Wanderer. Erzählungen I.
Editiert und mit einem Nachwort von Elvira M. Gross.
Septime Verlag, Wien 2019.
596 Seiten, 29,00 EUR.
ISBN-13: 9783902711816

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