Genderblind
Ein von Katrin Kappler und Vincent Vogt herausgegebener Sammelband geht den geschlechtsspezifischen Konfliktlagen und Errungenschaften im Völkerrecht nach
Von Rolf Löchel
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseMenschenrechtserklärungen gibt es einige. Von der UN-Menschenrechtserklärung aus dem Jahr 1948 bis hin zur islamischen Kairoer Erklärung von 1990, bei der aus guten Gründen strittig ist, ob sie überhaupt als Menschenrechtserklärung bezeichnet werden kann. Nicht nur, weil ihr zufolge alle Rechte unter dem Vorbehalt der Vereinbarkeit mit dem Koran stehen, sondern auch, weil sie ein größeres Augenmerk auf das legt, wozu sie die Menschen verpflichtet als darauf, welche Rechte ihnen zugestanden werden.
Auch andere Menschenrechtserklärungen widmen sich nicht nur den Rechten, die einem Menschen aufgrund seines Menschseins zustehen, sondern ebenfalls deren Pflichten qua Menschsein. So etwa die 1986 in Kraft getretene African Charter on Human and Peoples’ Rights. Allerdings steht sie der Menschenrechtserklärung der UN nicht nur näher als der islamischen, in ihr sind sogar einige Rechte formuliert, die über den afrikanischen Kontinent hinaus wegweisend sein können. Das gilt insbesondere für eines ihrer Zusatzprotokolle: das als Maputo-Protokoll bekannte Protocol to the African Charter on Human and Peoples’ Rights on the Rights of Women in Africa von 2003, dem sich die Juristin Romy Klimke jüngst in einem erhellenden Aufsatz über den „Beitrag des afrikanischen Menschenrechtssystems zur Förderung der Rechte von Frauen“ gewidmet hat. Wie die Autorin zeigt, hat „die afrikanische Staatengemeinschaft“ mit ihm „im Bereich der Förderung der Frauenrechte den Boden für neue Menschenrechtsgarantien bereitet“ und „zahlreiche bedeutsame Neuerungen“ eingeführt, „die nicht nur die spezifischen Problemlagen von Frauen in Afrika benennen, sondern auch im internationalen Vergleich neue Maßstäbe setzen“. Somit zählt das Zusatzprotokoll „bis heute zu den progressivsten und innovativsten Instrumenten für die Rechte der Frauen weltweit“. Es behandelt nicht nur in weiten Teilen Afrikas noch immer übliche „schädliche traditionelle und kulturelle Praktiken“ wie Frühverheiratungen junger Mädchen und weibliche Genitalverstümmelung oder die sogenannte „Witwenreinigung“, der gemäß ein männlicher Verwandter des Verstorbenen sexuelle Handlungen an der Witwe vollzieht, woraufhin sie wieder als „rein“ gilt und von ihm oder einem weiteren männlichen Verwandten des Verstorbenen „geerbt“ werden kann.
Die Afrikanische Frauenrechtserklärung nimmt in bestimmten Fragen darüber hinaus weltweit eine Vorreiterrolle ein. Denn sie erkennt „verbale Gewalt als Verletzung der Menschenrechte von Frauen“ an, worin Klimke zu Recht „ein bis dahin beispielloses Novum im internationalen Menschenrechtsdiskurs“ ausmacht. Auch handelt es sich bei dem Maputo-Protokoll um das „bislang einzige Menschenrechtsinstrument weltweit, welches ein explizites Recht auf Abtreibung statuiert“. Das ist in Zeiten des allgemeinen Backlash, zu dem gerade auch die Rückabwicklung des Rechts auf Abtreibung gehört, wahrhaftig bahnbrechend. Allerdings wurden von Ruanda, Uganda, Kenia und Kamerun „Vorbehalte in unterschiedlichen Abstufungen“ gegen das grundlegende Frauenrecht auf Abtreibung vorgebracht, das von Kenia sogar „umfassend“ abgelehnt wird. Wie nicht anders zu erwarten, wurde vor allem von der katholischen Kirche Einspruch gegen das Recht auf Abtreibung erhoben, während von islamischer Seite gegen das Verbot weiblicher Genitalverstümmlung mobil gemacht wurde. In anderen Punkten fällt das Maputo-Protokoll aber auch selbst hinter ‚westlicheʻ Vorstellungen von Menschen- und Frauenrechte zurück. So wendet es sich nicht eindeutig gegen Polygamie und schweigt zum „Recht auf freie sexuelle Orientierung“. Nachzulesen ist Klimkes instruktiver Text in dem von Katrin Kappler und Vincent Vogt herausgegebenen Sammelband Gender im Völkerrecht. Konfliktlagen und Errungenschaften.
Auch das Interesse von Rita Schäfer gilt dem südlichen Nachbarkontinent Europas. Die Ethnologin beleuchtet „Frauenrechte und Geschlechtergerechtigkeit“ im Spannungsfeld „zwischen Reformansätzen und Umsetzungsproblemen“ in Südafrika. Zwar kann sie konstatieren, dass die Verfassung des ehemaligen Apartheitsstaates „hinsichtlich der Geschlechtergerechtigkeit im internationalen Vergleich vorbildlich“ ist. Doch schon während des Prozesses der Verabschiedung 1996 versuchte der Dachverband der Chiefs „mit allen Mitteln“, „die Rechtsunmündigkeit schwarzer Frauen fortzusetzen und den Verlust ihrer Macht über diese Frauen zu verhindern“. Die (Alltags-)Wirklichkeit ist auch heute noch eine ganz andere als in der Verfassung vorgesehen. Die alljährlich angezeigte Zahl der Vergewaltigungen von Frauen beziffert sich auf mehr als 50.000. Doch nur „ein Bruchteil“ der Täter wird verurteilt, weil „die Polizei vielerorts ineffektiv und die Justiz zögerlich“ ist, wie Schäfer festhält. Dass es sich nicht selten um sogenannte „korrigierende Vergewaltigungen“ handelt, mit denen Lesben zu heterosexuellen Frauen gemacht werden sollen, erwähnt die Autorin nicht. Genau aus diesem Grund aber handelt es sich bei diesen Vergewaltigungen gerade nicht um „sexualisierte Gewalt“, wie Schäfer immer wieder verharmlosend formuliert, sondern um genuin sexuelle Gewalt. Wohl noch verbreiteter als das Verbrechen der Vergewaltigung ist in Südafrika die ,häusliche‘ Gewalt gegenüber Frauen. „Für viele Männer“ sind schon „Bitten ihrer Partnerinnen, Kondome zu benutzen, Angriffe auf ihre Machtposition“, auf die sie mit Schlägen und anderer körperlicher Gewalt reagieren. Ein weiteres Problem ist die „alltägliche sexuelle Belästigung von Frauen und Mädchen im öffentlichen Leben, in Schulen, an Universitäten und in Unternehmen“. Aus all diesen Gründen wird „geschlechtsspezifische Gewalt“ vom Protokoll der „Wirtschafts- und Entwicklungsgemeinschaft im südlichen Afrika“ zu Gender und Entwicklung nach wie vor „als größtes Hindernis bei der Erreichung von Geschlechtergerechtigkeit verstanden“.
Anders als Klimke und Schäfer widmet sich Dana-Sophia Valentiner in ihrem Beitrag nicht den Frauenrechten in Afrika, sondern nimmt die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte kritisch in den Blick. Sie kann zeigen, dass er sexuelle Autonomie nicht als Menschenrecht „konzeptualisiert“, dafür aber (überkommene) Vorstellung von „Sittlichkeit, Moral, Peinlichkeit und Unschicklichkeit“ noch immer „subtil“ in seine „Begründungsmuster eingeflochten“ sind.
Joachim Renzikowskis Aufsatz „Menschenhandel als Menschenrechtsverletzung – und was daraus folgt“ bietet einen „kursorischen Überblick über die Entwicklung des völker- und europarechtlichen Umgangs mit dem Phänomen Menschenhandelt“ und macht so die „Abkehr von der Dominanz der Strafverfolgung und der ausländerrechtlichen Regulierung hin zu einem umfassenden menschenrechtlichen Ansatz“ deutlich. Allerdings, so moniert er, fällt die „Bilanz für Deutschland jedoch ernüchternd “ aus. Manche Formulierungen des Autors legen die Vermutung nahe, dass er in Prostitution eine Arbeit wie jede andere sieht. Doch legt er sich nicht wirklich fest, sondern stellt zwei Konzepte nebeneinander. Eines „geht davon aus, dass Prostitution als legale Tätigkeit anerkannt werden kann“, dem anderen zufolge wird „Prostitution im Ganzen als Menschenrechtsverletzung begriffen“. Renzikowski kann die Frage offen lassen, weil sein Text nicht auf Prostitution fokussiert, sondern es ihm darum geht, „Menschenhandel als Menschenrechtsverletzung“ nachzuweisen und zu zeigen, dass es sich dabei nicht um ein „gewöhnliches Verbrechen“, sondern um eine Menschenrechtsverletzung handelt. Das gelingt ihm überzeugend. Weil Vergewaltigungen, wie er anmerkt, ebenfalls die Menschenrechte der Opfer verletzen, sind die Staaten nach „allen völker- und europarechtlichen Dokumenten“ zu einer „effektiven Strafverfolgung“ nicht nur von Menschenhandel, sondern auch von Vergewaltigung verpflichtet.
Die Mitherausgeberin Katrin Kappler erörtert „die Potentiale antidiskriminierungsrechtlicher Debatten für das Völkerrecht“ und weist auf die „Verknüpfung zwischen den Nichtdiskriminierungsvorschriften des internationalen Antidiskriminierungsrechts einerseits und dem Tatbestand der Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ hin. Das führt sie zu der Schlussfolgerung, „dass beide Rechtsgebiete voneinander profitieren können“.
Alexander Schwarz macht am Beispiel der „geschlechtsbezogene Verfolgung an Jesid*innen durch Mitglieder des ‚Islamischen Staatesʻ“ auf die „gender-Blindheit im Rahmen völkerrechtlicher Verfahren“ aufmerksam und erörtert die Frage, ob die von IS-TerroristInnen an Jesidinnen verübten „geschlechtsbezogenen Verbrechen“ ein „Fall für die internationale Strafjustiz“ sind.
Alle neun Beiträge des vorliegenden Bandes sind lesenswert, Klimkes Aufsatz über das afrikanische Menschen- und Frauenrechtssystem sticht jedoch besonders positiv hervor.
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