Leidenschaften, Künste und Klischees

David Foenkinos erzählt in „Die Frau im Musée d’Orsay“ von Schönheit

Von Thorsten PaprotnyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Paprotny

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Kunstprofessor Antoine Duris wechselt in mittleren Jahren den Beruf und zwar grundlegend. Von den schönen Künsten mag er sich nicht trennen, aber er nimmt sich, modern ausgedrückt, eine Auszeit, verlässt die Hochschule und tritt im Pariser Musée d’Orsay einen ganz anderen Posten an. Der Dozent, tief aufgewühlt, trägt nicht länger über Kunstgeschichte vor, er beaufsichtigt nun die Bilder einer Ausstellung – überqualifiziert, doch aufmerksam. Warum Antoine einen Neuanfang sucht, erfährt der Leser zunächst nicht. Der etwas rätselhaft anmutende Titel Die Frau im Musée d’Orsay, offenbar den Erwartungen hierzulande gefällig angepasst, macht nachdenklich: Eine französische Liebesgeschichte, anrührend und herzbewegend – oder einfach unecht, unglaubwürdig und kitschig, versehen mit emphatischen Seufzern und dramatischen Auftritten? Im Französischen heißt der Roman weitaus schlichter Vers la beauté, also: „Über Schönheit“.

David Foenkinos schreibt auch Drehbücher und führte Regie beim auch hierzulande bekannten Film Nathalie küsst mit Audrey Toutou. Die Dialoge in diesem Roman muten ein wenig hölzern an, unnatürlich, nicht mitten im Leben angesiedelt, sondern bloß ausgedacht. Ästhetische Betrachtungen treten hinzu: „Die Schönheit war immer noch das beste Mittel gegen den Zweifel.“ Begleitet von einer bisher unbekannten Sprachlosigkeit, wenn er über Alltägliches sprechen soll, ist der Dozent außer Dienst auch beim Vorstellungsgespräch. Mathilde Mattel – die spätere Beziehung zu seiner Chefin überrascht niemanden – wartet auf ihn. Foenkinos schreibt über Antoines Innenleben: „Sein Weltverständnis war in ein Primärstadium zurückgefallen, er hatte oft irrationale Angstzustände.“ Nach dem Berufswechsel gefragt, sagt Antoine über seinen Beweggrund, er verstehe genug von Kunst, möchte „aber im Augenblick […] eben nur dasitzen und von schönen Bildern umgeben sein“. Es folgen konventionelle Beobachtungen:

„Der Schönheit nahe zu sein, war natürlich ein Glück, aber warum musste man es bedrückt und bedrängt im Gewühl erfahren und dabei die Sprüche der anderen Ausstellungsbesucher über sich ergehen lassen? Er bemühte sich, darauf zu achten, was die Leute redeten. Manche waren ehrlich ergriffen und verliehen ihrem Entzücken Ausdruck … Und manche gaben katastrophale Kommentare von sich. Von seinem Stuhl aus beobachtete er die gesamte Bandbreite der Gesellschaft.“

Der Ort der Handlung ist zunächst ein Kunstmuseum. Doch scheint jedes Kunstverständnis zu fehlen, wenn abgeschmackte Attribute aus dem Repertoire der bürgerlichen Gesellschaft aufgebracht werden, wie zum Beispiel „ergreifend“ und „entzückend“? Das ist, ob im Museum oder im Konzertsaal dargeboten, sprachlich so banal wie nichtssagend. Die Konversation besteht aus anschauungslosen, konventionellen Bemerkungen. Antoine fühlt sich im Museum wohl: „Im Gegensatz zu den vergangenen Tagen, an denen ihm jede Minute im Kleid der Ewigkeit erschienen war, verging die Zeit wie im Flug.“ Er korrigiert einen jungen Museumsführer, nicht in provokativer Absicht, erregt Aufsehen, irritiert auf diese Weise seine insgeheim von ihm schon faszinierte Chefin Mathilde und geht mit ihr in ein Café. Der Abend mit ihr, so wird mitgeteilt, „hatte ihm wahnsinnig gutgetan“. Die Konturen seines Lebensweges werden deutlicher. Antoine denkt an eine siebenjährige Liebesbeziehung mit Louise – durch sie habe er verstanden, „dass man das Glück auch in der Wirklichkeit finden konnte“ – und auch an ein tragisches, dann auch „tragisch“ genanntes Ereignis zurück. Der einsame Protagonist führte danach ein ausschweifendes Triebleben, die Gefährtin – vielleicht das Opfer? – heißt Sabine. Der als „feinsinnig und zart“ beschriebene Kunstprofessor „stieß“, buchstäblich, „in ungeahnte Dimensionen hervor“. So beschreibt der Autor den sexuellen Akt. Pornografisch? Realistisch? Plakativ? Eine Männerfantasie?

„Sabine erkannte ihn kaum wieder, doch das erregte sie bloß noch mehr. Die Besonderheit des Augenblicks steigerte die Begierde. Sie genoss es, hart genommen zu werden, das rohe, wilde Leben kennenzulernen. Nie zuvor hatte sie einen solchen Orgasmus gehabt. Als das Spektakel vorbei war und Antoine Atem schöpfend neben ihr lag, ging ihr nur eins durch den Kopf: noch mal.“

Manche Leserin, mancher Leser mag hier ebenfalls stöhnen, aber wahrscheinlich nicht aus purer Lesefreude. Die Beschreibungen dauern an, noch eine ganze Weile: „Sabine, Sklavin der eigenen Lust, nahm die Situation an.“ Antoine Durics Geschichte endet mit einer Erinnerung an Camille. Diese junge Frau begegnet uns in der zweiten Hälfte des Romans. Camille ist eine Kunststudentin, die als Schülerin von Yvan, ihrem Lehrer, vergewaltigt wurde und, dadurch traumatisiert, sich wie tot fühlte. Sie fand eine verständnisvolle Therapeutin, aber auch „jede Menge anderer Jungs“: „Sie trieb es auch mit Baptiste, Thomas und Mustapha. Allmählich erwarb sie sich einen Ruf als Nutte, Flittchen, Nymphomanin, aber das ließ sie absolut kalt.“ Sie versucht, Suizid zu begehen, scheitert aber. Camille tröstet sich mit den schönen Künsten, „kehrte durch die Kunst ins Leben zurück“. In Antoine, dem Kunstprofessor, findet sie einen Gesprächspartner, der ihre Sensibilität lobt. Wenig später unternimmt sie einen zweiten Selbstmordversuch. Dieses Mal wird sie nicht gerettet. Antoine ist erschüttert und zieht sich aus dem Lehrbetrieb zurück, und wird – wie wir wissen – Museumswärter. David Foenkinos schreibt:

„Ein Selbstmord lässt diejenigen, die dem Opfer nahestanden, immer mit Gewissensbissen zurück. Warum hat man die Anzeichen des sich ankündigenden Schreckens nicht wahrgenommen? Was hätte man besser machen können? Hätten ein paar tröstende Worte einer vielleicht noch nicht ganz verlorenen Seele helfen können? … Und so versank Antoine Hals über Kopf in Schuldgefühlen, die ihn nicht mehr losließen. Sein unermessliches Leid glich einem langsamen Siechtum.“

Der Autor wechselt zwar, handwerklich geschickt, die Erzählperspektiven, wodurch bisweilen der Eindruck einer gewissen Rasanz entsteht. Doch er entwickelt stilisierte Typen, keine Charaktere. An sprachlicher Sorgfalt mangelt es, an klischeehaften Bemerkungen indessen nicht, insbesondere auch bei ästhetisch intendierten Reflexionen über die schönen Künste. Literarisch fehlt diesem filmisch angelegten Genrestück die Sensibilität für Schönheit, auch für Nuancen und Zwischentöne. Die herbe Distanzlosigkeit, mit der menschliche Leidenschaften und Formen der Sexualität geschildert werden, befremdet und macht traurig.

Titelbild

David Foenkinos: Die Frau im Musée d‘Orsay. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Christian Kolb.
Penguin Verlag, München 2019.
236 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783328600862

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