Wo der Kontinent ausfranst

Wassili Golowanows kenntnisreiches Reisebuch über die Kaspiregion

Von Daniel HenselerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Henseler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wohin soll man heute noch reisen? Der Planet ist vermessen, kartographiert und abgelichtet. Es scheint auf der Erde kaum noch einen unbetretenen und unbeschriebenen Fleck zu geben. Das Reisen mag einem auch deshalb verleidet sein, weil es angesichts von Klimawandel und Overtourism ohnehin unter Generalverdacht geraten ist. Vielleicht sollte man sich deshalb vom Oberflächlichen und Trivialen lösen und von neuem den Tiefendimensionen öffnen. Eine Reise könnte auf diese Weise wieder zum Anlass für eine weitergehende Beschäftigung mit dem Gesehenen und Erlebten werden. Das angepeilte Reiseziel wäre dann zuallererst Ausgangspunkt für eine profunde Reflexion. Diese erschöpfte sich eben nicht im Surfen an der Oberfläche und einer Sammlung von Selfies mit Sehenswürdigkeiten („ich war da“), sondern würde vom Reisenden Ruhe, Zeit und Aufnahmebereitschaft verlangen. So ließen sich doch noch einmal gewichtige Erkenntnisse gewinnen.

Wassili Golowanow hat in seinem Reisebuch Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (2012) über die Insel Kolgujew im hohen Norden Russlands schon einmal bewiesen, dass so etwas möglich ist. Dort gelang dem Verfasser in der Abgeschiedenheit des Eilands eine bemerkenswerte Selbsterfahrung, ein aufschlussreicher Trip in die eigene Psyche. Auch in Golowanows zweitem großen Reisebericht Das Buch vom Kaspischen Meer spielt die Innenwelt eine tragende Rolle. Zugleich hat sich jedoch nun ein anderes Element in den Vordergrund geschoben: Der Autor befasst sich intensiv mit der historischen Dimension der Region am Kaspischen Meer. Sein Verständnis von Geschichte ist dabei ein breites. Sie beschränkt sich für ihn nicht auf ehemalige Herrscher und untergegangene Reiche, sondern umfasst besonders auch die kulturellen und religiösen Aspekte, die bis in die Gegenwart hinein weiterwirken.

Golowanows Reisebuch ist nicht aus einem Guss, was ihm allerdings nicht schadet. Das umfangreiche, beinahe tausend Seiten umfassende Werk ist im Original 2015 erschienen. Es geht auf mehrere Reisen zurück, die um 2010 herum (und teilweise schon früher) stattfanden, und besteht aus zwei sehr verschiedenartigen Hauptteilen. Der längere erste Teil widmet sich in vier Kapiteln den Anrainerstaaten der Kaspisee: Aserbaidschan, Dagestan (als Teilrepublik Russlands), Kasachstans Westen sowie dem Norden Irans. Der fünfte Staat, Turkmenistan, fehlt im Übrigen: Trotz verschiedener Anläufe ist eine Reise in dieses verschlossene und wunderliche Land nicht zustande gekommen. Das mag man als eine Lücke und Schwäche von Golowanows Buchprojekt betrachten, doch ist dieser Fakt für sich bezeichnend genug und wird vom Autor durchaus reflektiert. Dass auf hunderten Buchseiten der eine weiße Fleck übrigbleibt, kann man auch als eine Metapher lesen: Unser Wissen über jene Region ist fragmentarisch. Der europäische Kontinent franst in unserem Bewusstsein an seinen östlichen Rändern aus. Im kürzeren zweiten Teil mit dem Titel Historische Abstecher nimmt Golowanow Figuren wie Alexander den Großen oder den russischen Dichter Welimir Chlebnikow in den Blick, deren Leben und Wirken eng mit der Region verflochten waren. Ferner begibt er sich in ihm auf die Spuren des geheimnisvollen Volks der Chasaren, das vor Jahrhunderten die Wolgamündung beherrschte, oder denkt über den alten russischen Traum von einer Eroberung Indiens nach.

Diese wenigen Bemerkungen verdeutlichen es: Die Liste der Themen in Wassili Golowanows Reisebericht ist schier unerschöpflich. Es wäre unmöglich, sie alle auch nur zu benennen. Sein Buch ist eine Fundgrube voller Überraschungen und im allerbesten Sinn tatsächlich eine Einladung, die Kaspiregion zu entdecken. Gleichwohl lässt sich aber bei aller Mannigfaltigkeit so etwas wie ein Hauptthema ausmachen, zu dem der Autor immer wieder zurückkehrt: das Kaspische Meer als Ort der Begegnung verschiedener Lebensformen, Kulturen und Religionen – und nicht zuletzt von Menschen.

Die Region am Kaspischen Meer war von alters her ein Raum, wo die großen Imperien und Zivilisationen aufeinandertrafen, miteinander in Dialog traten, sich wechselseitig befruchteten, mitunter jedoch auch bekriegten. Hier haben die Griechen ihre Spuren hinterlassen, später die Perser, dann Turkvölker sowie Mongolen, aber auch Mächte wie das Russische Reich und die Sowjetunion. Im 19. Jahrhundert war die Gegend teilweise der Schauplatz des Great Game, wie man damals den Kampf zwischen Russland und Großbritannien um die Dominanz in Zentralasien nannte. In der Region am Übergang zu Steppe und Wüste kamen zudem sesshafte und nomadisierende Völker miteinander in Kontakt.

Ähnliches gilt für die Religionen, denen der Autor in seinem Buch besonders viel Platz einräumt: Der Zoroastrismus, das Christentum, der Islam (mit seinen verschiedenen Strömungen wie Sufismus, Wahhabismus und den Ismailiten) und das Judentum waren oder sind um das Kaspische Meer herum vertreten. Golowanow spricht einmal von einer „sakralen Geographie“, die ihn interessiert. Außerordentlich aufschlussreich sind seine Überlegungen im Übrigen dort, wo es ihm gelingt, die vielen synkretistischen Formen des Glaubens aufzuzeigen. So trifft er auf der aserbaidschanischen Halbinsel Abscheron bei Baku auf heilige Stätten, wo bis heute der Einfluss verschiedener Religionen spürbar ist. Verblüfft registriert der Reisende, dass die konkrete Ausübung religiöser Rituale hier nur selten den dogmatischen Vorgaben entspricht.

Schließlich geht es Golowanow immer auch um die Begegnungen mit den Menschen, die heute am Kaspischen Meer leben. Der Taxifahrer, der ihn in entlegene dagestanische Bergdörfer bringt, die Reiseführerin Quralai, die ihn durch die karge kasachische Halbinsel Mangyschlak geleitet, aber auch jene mystische Unbekannte, mit der ihn ein seltsamer Zufall mehrmals zusammenbringt – sie alle hinterlassen beim Autor bleibende Eindrücke:

Man verändert sich unweigerlich, wenn man mit offenem Herzen reist. Verändert sich, wenn man auf dem Planeten Mensch reist. Denn der zwischenmenschliche Austausch ist sowohl Geschenk als auch Prüfung. Oder vielmehr: Er ist nur dann ein Geschenk, wenn er eine Prüfung ist. Heimlich verschwinden, ohne eine Spur zu hinterlassen, kann man nur aus einer Gemeinschaft der Gleichgültigen.

Die Menschen sind Golowanow wichtig, denn sie sind „lebend“ und „lebendig“. Dadurch schaffen sie ein Gegengewicht, ja hie und da gar ein willkommenes Korrektiv zur Dominanz des Historischen, das nämlich bisweilen in der Gegenwart wie ein gewaltiger Ballast wirken kann. Auch dies ist übrigens eine der Lektionen, die Golowanow auf seinen Reisen lernt: Der Geschichte entkommt man nicht.

Ein Buch wie das vorliegende hätte er niemals schreiben können, wenn der Autor vor Antritt der Reise nur kurz in einem Reiseführer geblättert hätte. Golowanows umfassende und weit ausgreifende Lektüre ist beeindruckend. Sie kommt seinem Vorhaben zugute: Aus ihr kann er stets gewinnbringend schöpfen. Das Buch vom Kaspischen Meer ist daher nicht nur subjektive Aufzeichnung, sondern ebenso eine gelehrte und lehrreiche Abhandlung. Golowanow betrachtet sein Werk als eine „Mission“. Die bloße Menge an Informationen kann den Leser manchmal freilich auch erdrücken.

Genauso bezeichnend ist, was im Buch fehlt: Das allzu Politische wollte Golowanow nach eigenen Worten möglichst vermeiden. Damit hat er wohl recht getan, konnte er doch auf diese Weise manchen Stich ins Wespennest vermeiden. Trotzdem hält er sich nicht ganz an die selbst gesetzte Regel: Von den nationalen Konflikten in postsowjetischer Zeit ist durchaus die Rede. Man darf im Weiteren begrüßen, dass dem Russen und Moskauer Wassili Golowanow offenbar jeglicher Phantomschmerz nach dem Zerfall der Sowjetunion abgeht. Entsprechend fehlen die Klagen um den Verlust des russischen Einflusses in der Region, die man bei anderen Autoren möglicherweise vernommen hätte und die schnell peinlich und mühsam werden können. Allerdings hat der Autor auch eine Chance verpasst: Die Region um das Kaspische Meer an der Grenze zwischen zwei Kontinenten hätte ein altes und strittiges Motiv quasi aufgedrängt. Gemeint ist die seit Langem heftig diskutierte Frage nach dem europäischen beziehungsweise asiatischen Anteil an der russischen Identität. Bei diesem Thema bleibt der Autor jedoch praktisch stumm.

Wassili Golowanows Buch über das Kaspische Meer ist informativ und aufklärerisch. Es trägt  ebenso persönliche wie wissenschaftliche Züge. Das überzeugt im Großen und Ganzen, auch wenn man vielerorts hätte kürzen können. Man findet in diesem Bericht unter anderem eine kleine Dosis Zivilisations- und Konsumkritik, etwas Esoterik und viele Überlegungen zur conditio des Reisenden. Dieses Buch kann nur deshalb funktionieren, weil der Autor eben mit Muße unterwegs ist – also ganz nach dem Prinzip „Eile mit Weile“. Lediglich Golowanows Erzählung von der Liebe zu seiner Frau wirkt im Gesamtzusammenhang etwas zu kitschig. Aber weil das Werk überaus mannigfaltig ist, kann man es auch in der Bewertung nicht über einen Leisten brechen. Alle Lesenden dürften hier gleichermaßen Ansprechendes finden wie auch über manch anderes hinwegsehen wollen. Ein großes Verdienst des Autors lässt sich jedoch nicht kleinreden: Wassili Golowanow hat mit seinem Reisebuch über die Kaspiregion eine große Leerstelle auf der Karte in unseren Köpfen mit reichhaltigem Material gefüllt.

Titelbild

Wassili Golowanow: Das Buch vom Kaspischen Meer. Einladung zu einer Reise.
Übersetzt aus dem Russischen von Valerie Engler und Eveline Passet.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2019.
1071 Seiten, 48,00 EUR.
ISBN-13: 9783957577009

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