Aus dem Schrank geholt
Brigitte Jüngers „Der Mantel“ macht Erinnerungskultur teenagergerecht und alltagsnah greifbar
Von Anne Amend-Söchting
Die Vergangenheit aufzuarbeiten und damit an einer lebendigen Erinnerungskultur zu partizipieren ist ein ethischer Imperativ, der sich in die internationale Kinder- und Jugendliteratur hinein fortsetzt. Auch in den Büchern für ein junges Lesepublikum öffnet sich der Fächer von autobiografisch begründeten Texten auf der einen Seite – so etwa Als Hitler das rosa Kaninchen stahl, Preisträger des Deutschen Jugendliteraturpreises 1974 und Bestseller der kürzlich verstorbenen Judith Kerr – bis hin zu beispielsweise Der Junge im gestreiften Pyjama (2006) von John Boyne, ein „Megaseller“, dem nicht ganz zu Unrecht die Trivialisierung des Stoffes vorgeworfen wurde. Irgendwo dazwischen wäre Waltraud Lewins Geschichte der Jüdin Leonie Lasker (3 Bände, 2007–2010) zu nennen oder Wir tanzen nicht nach Hitlers Pfeife von Elisabeth Zöller (2012). All diese Texte sind auf ihre jeweils spezifische Art originell, ergreifend und erschütternd. Sie zeigen, dass zwischen der Notwendigkeit des Erinnerns, der Aufklärung über das Geschehene einerseits und der Gefahr der allzu „kulinarischen“ und sensationslüsternen Aufbereitung in der Fiktion andererseits ein nicht zu unterschätzendes Spannungsfeld besteht. Brigitte Jünger gelingt es, zwischen Aufklärung und Unterhaltung eine Brücke zu schlagen, so etwas wie „Edutainment“ zu kreieren, wobei man sich fragen muss, ob dieser Begriff nicht vielleicht schon die Gefahr des Despektierlichen dem Stoff gegenüber in sich birgt.
Am Anfang steht ein Objekt, das die Zeiten überdauert hat, konkret ein Mantel, den Agnes Stielow, 77 Jahre alt, in einem kleinen Ort in der Nähe von Köln aufbewahrt. Ihr Großvater, ein Schneidermeister, hatte diesen Mantel für Jenny Stock, eine jüdische Kundin, angefertigt. Was lange Zeit niemand weiß: der Abholschein für diesen Mantel befindet sich in Paris bei dem nunmehr 95 Jahre alten Aron Schatz. Seine Nachbarinnen in der Rue de Bercy sind die vierzehnjährige Fanette und ihre alleinerziehende Mutter. Als die Schule einen Auslandsaufenthalt in Deutschland organisiert, entscheidet sich Fanette gegen den Widerstand ihrer Mutter dafür, die vier Wochen bei einer jungen Familie in Fliesteden zu verbringen, dort nämlich, wo ihr Nachbar Aron vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs unbeschwerte Kindheitstage bei seiner Tante Jenny, seinem Onkel Max und deren Kindern Susi und Wolfgang verbrachte. Als Fanette mit einem Foto des Abholscheins für den Mantel auf die Reise geht, kümmert sich ihr arabischer Schulfreund Moumouche um den immer gebrechlicher werdenden Aron. In Fliesteden wohnt Fanette bei einer aufgeschlossenen Familie, die ihr hilft, dem Geheimnis des Mantels auf die Spur zu kommen. Fanette führt ein Gespräch mit der Zeitzeugin Änni Mannebach, bevor sie später zufällig Agnes Stielow trifft. Stellvertretend für Aron kann sie sich ein Bild von den vergangenen Ereignissen machen und gemeinsam mit Agnes den Mantel betrachten, der die Zeiten unbeschadet überdauert hat. Als schließlich Moumouche in Fliesteden eintrifft, weiß Fanette, was während ihrer Abwesenheit in Paris geschehen ist.
In einem Nachwort deckt Brigitte Jünger die Quellen für ihren Roman auf: Agnes Stielow habe ihr von dem Mantel erzählt. Nach dem Tod ihres Großvaters habe sie den Mantel weiterhin aufbewahrt. Der Historiker Josef Wißkirchen habe die Geschichte von Jenny, Max, Wolfgang und Susi Stock recherchiert und seine Ergebnisse in verschiedenen Aufsätzen publiziert. In ihrem Roman entscheidet sich Brigitte Jünger für eine auktoriale Perspektive, die sie mit authentisch wirkenden autobiografischen Sequenzen durchsetzt. Mit den Berichten von Jenny, Max, Wolfgang und Susi aus der Ich-Perspektive alternieren die Fokalisierungen auf Aron oder Fanette, in die zusätzlich Moumouche und Änni Mannebach eingebunden sind. Auf diese Weise ergibt sich eine gelungene Verknüpfung der Vergangenheit der 1940er Jahre mit der Gegenwart der 2010er Jahre, die nicht zuletzt auf der Vielfalt der Stimmen und damit der polylogischen Anlage des Romans basiert. Protagonist des Spagats zwischen den Zeiten ist Aron Schatz, der von Fanette und Moumouche aus seiner Einsamkeit hervorgeholt wird und der sich trotz seiner Altersschwäche und Hinfälligkeit immer wieder aufrafft, seine Erinnerungen mit den beiden Jugendlichen zu teilen.
Mit Fanette hat Jünger eine sehr interessierte, wissbegierige Figur geschaffen, die vor allem dank Aron bereits sehr gut Deutsch sprechen kann, die sehr zielstrebig auf Erkundungstour geht und nicht davor zurückschreckt, unangenehme Fragen zu stellen. Moumouche und Aron nehmen, kontrastparallel zu Eric-Emmanuel Schmitts Erfolgsroman und Pflicht-Schullektüre Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran (2003), das Motiv der intergenerationalen, interkulturellen und insbesondere interreligiösen Freundschaft auf.Zwischen dem jungen Moslem und dem betagten Juden entspinnen sich anrührende Szenen der Begegnung. Aron spricht sehr offen über seine Erfahrungen in „Kanada“, dem Effektenlager in Auschwitz, Moumouche reflektiert sein Dasein im Paris des 21. Jahrhunderts, in dem gewaltsame Auseinandersetzungen an der Tagesordnung sind. Aron gesteht Moumouche, dass er zwar nur selten bete, aber immer dann, wenn er es tue, „eine Nabelschnur in die Vergangenheit“ wachse, er sich aber nicht nur mit den Menschen verbinde, die vor ihm da waren, sondern auch mit jenen, die kommen würden. Diese dynamische und ganzheitliche Konzeption von Zeit lässt ihn die Gegenwart als Ort der Vereinigung von Vergangenheit und Zukunft erfahren. In diese Gegenwart dringt die Vergangenheit als opake, unfassbare und unsagbare tragische Macht, wenn die Stimmen der Familie Stock zu vernehmen sind, wenn Jenny, Max, Wolfgang und Susi aus einem nicht näher bestimmten Off ihre Perspektive auf die Ereignisse schildern und diese im Gesamtkontext des Romans weitestgehend unkommentiert bleiben.
Der titelgebende Gegenstand, der Mantel, symbolisiert in besonderem Maße die Verflechtung der Zeitebenen. Für Agnes Stielow ist er nicht nur die Familie Stock, sondern die „Referenzgröße in ihrem Leben“ – „an ihm bemaß sich, was Recht und was Unrecht war“. Es gilt, den inzwischen siebzigjährigen Mantel aus der Versenkung eines musealen Schrankes zu holen, ihn als Begleiter der Erinnerungsarbeit wertzuschätzen und ihn nicht als Mantel des Schweigens zu disqualifizieren. Er war als „Mantel für den Übergang“ gedacht, für Frühjahr und Herbst. Nun avanciert er zu einem Mantel für den Übergang „vom Leben in den Tod, von einer Zeit in eine andere Zeit, für den Übergang in die Erinnerung“. Er bleibt nicht ein „Schriftzug auf einem vergilbten Stück Papier“, sondern er befördert vielmehr eine lebendige Erinnerung, die Vergangenes individuell erfahrbar macht, sie als Retrospektive in die Gegenwart hineinholt und ihr damit prospektive Wirkmacht verleiht.
Vorführen, dass die Vergangenheit die Gegenwart bedingt, dass sich die Vergangenheit in Gegenständen des Alltags manifestiert, dass es unabdingbar ist, die Kleidung der Vergangenheit zu lüften – das ist die eigentliche Leistung des Romans. Vergangenheit ist nicht nur die Erschütterung, die Jugendliche verspüren, wenn sie Buchenwald besichtigen müssen, sie ist nicht nur bewahrt im Berliner Holocaust-Denkmal oder nach stundenlangem Anstehen vor und im Anne-Frank-Haus in Amsterdam zu finden. Sie lässt sich nicht im Rahmen einer extern oktroyierten Moral fassen, sie ist keine bloß intellektuelle Pflicht, sondern vielmehr eine Erfahrung, die den ganzen Menschen erfasst. Der Vergangenheit nachzuspüren, sich mit Hilfe von Objekten, die die Zeiten überdauern, in sie hineinzuversetzen oder jemanden wie Aron empathisch zu begleiten, zu versuchen, seine emotionale Verfassung zu mentalisieren – all das ist das Paradoxon einer Vergangenheit, die eigentlich keine mehr ist, weil sie in die Gegenwart und in die Zukunft hineinreicht.
Obwohl der Mantel gleich zu Beginn des Romans fokussiert wird und dies gleichermaßen die Begegnung von Fanette und Agnes Stielow antizipiert, wirkt die Schilderung der dazu hinführenden Ereignisse zunächst etwas zäh und schleppend. Es dauert, bis ein narratives Grundgeflecht entstanden ist, in dem alle Handlungsfäden verwoben werden können. Darüber hinaus hätte die Autorin gut daran getan, sich einige offensichtlich didaktisierende Einschübe zu sparen. Nicht zu verleugnen sind sie in den Gesprächen von Aron und Moumouche. Des Weiteren hätte man den Besuch einer Synagoge in Köln, den Fanette mit ihrer Gastfamilie absolviert, genauso auslassen können wie die Episode, in der Agnes Stielow einer vierten Klasse über ihre Kindheit während des Zweiten Weltkriegs berichtet. Die transgenerationale und transtemporale Sichtweise sowie der damit implizierte Appell an junge LeserInnen, auf Spurensuche in ihrem alltäglichen Umfeld zu gehen, wäre ohne Lektionen in Sachen Geschichte noch besser und vielleicht zusätzlich ästhetisch brillant geworden. Allein mit den unterschiedlichen Perspektiven und Stimmen sind dafür alle Voraussetzungen gegeben.
Gleichwohl: Brigitte Jünger hat einen hervorragenden Roman über Begegnungen vorgelegt, einen Roman der Interaktion auf mehreren Ebenen, der verdeutlicht, dass man sich nicht unbedingt zu den „großen Orten“ der Erinnerung hinbegeben muss, sondern dass es genauso gut möglich ist, die Vergangenheit im Alltäglichen aufzuspüren.
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