Aktenzeichen FK (un-)gelöst

Benjamin Balints „Kafkas letzter Prozess“ ist (leider) mehr als eine Gerichtsreportage

Von Nico Schulte-EbbertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nico Schulte-Ebbert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Etwas zu besitzen bedeutet, darüber verfügen zu können. Ein Besitz ist das Gut, das jemandem gehört. Doch das, was in Besitz genommen wurde, kann sich zur Besessenheit entwickeln, kann seinen Besitzer selbst besitzen, ihn in Anspruch nehmen, was einst dem Teufel vorbehalten war. Wer besitzt wen, wer hat die Kontrolle in diesem fanatischen Belagerungsspiel? In einem Fernsehinterview mit Bernard Stiegler erklärte Jacques Derrida:

Daß wir durch und durch Erben sind, heißt nicht, daß wir uns zur Vergangenheit passiv verhalten müßten. Die Betonung, die ich auf den Begriff des Erbes lege, bedeutet keine Fixierung auf Vergangenheit und Tradition. Daß wir durch und durch Erben sind, heißt nicht, daß die Vergangenheit uns irgend etwas vorschriebe. Sicher, es gibt eine Verfügung [injonction], die aus der Vergangenheit an uns ergeht. Es gibt keine Verfügung, die nicht aus einer bestimmten Vergangenheit als kommende auf uns zukäme. Doch dieses vergangene Gebot gebietet es, jetzt verantwortlich zu antworten, zu wählen, auszuwählen, zu kritisieren.

Eine vergangene Verfügung ist es, die – zumeist in Form eines Testaments, also eines Schriftstücks – den Erben ereilt; er muss sich damit auseinandersetzen und zwar mit allen Implikationen.

Als Franz Kafka am 3. Juni 1924 kurz vor seinem 41. Geburtstag im Sanatorium Hoffmann im niederösterreichischen Kierling starb, hinterließ er zwei Testamente. „Dagegen ist alles“, heißt es im zweiten, 1922 verfassten Letzten Willen, den Kafka in einen mit „Max“ beschrifteten Umschlag legte,

was sonst an Geschriebenem von mir vorliegt ausnahmslos soweit es erreichbar oder durch Bitten von den Adressaten zu erhalten ist – alles dieses ist ausnahmslos am liebsten ungelesen (doch wehre ich Dir nicht hineinzuschauen, am liebsten wäre es mir allerdings wenn Du es nicht tust, jedenfalls aber darf niemand anderer hineinschauen) – alles dieses ist ausnahmslos zu verbrennen und dies möglichst bald zu tun bitte ich Dich.

Mit diesen Worten an und ihrer Missachtung durch seinen Freund Max Brod setzte Kafka einen Prozess in Gang, der beinahe ein Jahrhundert andauern und noch 2016 den Obersten Gerichtshof Israels beschäftigen sollte. Der US-amerikanisch-israelische Schriftsteller und Kulturjournalist Benjamin Balint beleuchtet – gestützt auf Interviews, Archivalien, Gerichtsdokumente und eine Fülle an Sekundärliteratur – in seinem fesselnden Buch Kafkas letzter Prozess die unterschiedlichen Facetten der Eigentumsrechte, um die die Familie Hoffe, die Israelische Nationalbibliothek sowie das Deutsche Literaturarchiv in Marbach stritten.

Man hatte es hier mit einer Kaskade aus vagen Testamenten und Schenkungen zu tun, die Balint quasi multiperspektivisch über Kafka, Brod, Ester und schließlich Eva Hoffe nachzeichnet, wobei zwei Epizentren auffallen, denen sich der 1976 geborene Literaturdozent maßgeblich widmet: Einerseits und wesentlich ist da die Geschichte und Freundschaft der beiden Prager Ur-Protagonisten dieses Prozesses zu nennen, die Balint manchmal zu minutiös, zu detailreich schildert, was allerdings den lebhaften Stil und die plastische Darstellung dieser verwickelten Ereignisse nicht schmälert:

Die beiden Prager Schriftsteller unterschieden sich in Temperament und Schicksal, teilten aber die lästige Erfahrung, einer jüdischen Minderheit innerhalb einer deutschsprachigen Minderheit innerhalb einer tschechischen Minderheit innerhalb eines heterogenen österreichisch-ungarischen Kaiserreichs anzugehören, an dem bereits die Zentrifugalkräfte rivalisierender Nationalismen zerrten. Beide bekamen den wachsenden völkischen Antisemitismus, der mit dem Zerfall der Habsburgermonarchie einherging, am eigenen Leib zu spüren.

Im Mittelpunkt steht der Kontakt zum Judentum, zu jüdischer Kultur, jüdischem Glauben und hebräischer Sprache der beiden so gegensätzlichen Freunde, denn „die Frage, wie wichtig Brod und Kafka das jüdische Volk und seine politischen Ziele waren, sollte sich für den Prozess – und für die Urteile der Richter – als entscheidend erweisen.“ Anderseits gibt Balint diesem langwierigen und zähen Prozess in der Person Eva Hoffes, der Tochter Ester Hoffes, Brods Sekretärin und Erbin, ein zutiefst menschliches Gesicht, in dem Unverständnis und Ohnmacht, ja Verzweiflung und schließlich gar Wahnsinn geschrieben stehen.

Max Brod floh 1939 mit seiner Frau und Kafkas Manuskripten (darunter Der Verschollene, Der Proceß, Das Schloß sowie Tagebücher, Notizen und Korrespondenzen) aus der Tschechoslowakei nach Palästina, einem Land, das ihm mit Ablehnung und Desinteresse begegnete, dessen Klima ihm missfiel und dessen Sprache ihm Schwierigkeiten bereitete. 1942 lernte er die 22 Jahre jüngere Ilse Hoffe kennen, die später auf seinen Vorschlag den hebräischen Namen Ester annehmen sollte. Sie wird 26 Jahre lang seine Sekretärin und engste Vertraute sein, und 1968, als Brod im Alter von 84 Jahren starb, „zur alleinigen Verwalterin seines Nachlasses“ werden. Außerdem legte Brod in seinem Testament vom 7. Juni 1961 fest, dass nach Esters Tod der literarische Nachlass „der Bibliothek der hebräischen Universität Jerusalem oder der Städtischen Bibliothek Tel Aviv oder einem anderen öffentlichen Archiv im Inland oder Ausland zur Aufbewahrung übergeben werden sollen, falls Frau Ilse Ester Hoffe zu ihren Lebzeiten nicht anderweitig über sie verfügt hat.“ (An dieser Stelle ist die deutsche Übersetzung ungenau, verwirrend und was den Numerus betrifft falsch; im englischen Original heißt es zudem: „Mrs. Hoffe will determine which of these institutions will be chosen, and under which conditions.“) Ester Hoffe tat beiderlei: Einerseits setzte sie sich mit Instituten und Verlagen in Verbindung und gewährte (wenigen auserwählten) Forschern „systematisch und regelmäßig“ Zugang zu den Kafka-Manuskripten. Andererseits veräußerte sie die Handschriften stückweise, am prominentesten wohl das 316 Seiten umfassende Manuskript zu Der Proceß, das 1988 bei Sotheby’s in London für den Rekordwert von einer Million Pfund Sterling (etwa 3,5 Millionen Mark) vom Deutschen Literaturarchiv in Marbach ersteigert wurde. Balint widmet dieser Auktion und den Hintergründen ein ganzes – wenn auch kurzes – Kapitel.

Bereits 1973 versuchte der Staat Israel, Ester Hoffe am Verkauf von Kafka-Manuskripten ins Ausland mit dem Argument zu hindern, es handle sich dabei um jüdisches Kulturgut, was nach dem israelischen Archivgesetz von 1955 geschützt sei. Jitzchak Schilo, Richter am Bezirksgericht in Tel Aviv, entschied 1974 zugunsten Hoffes und räumte ihr das Recht ein, „zu Lebzeiten nach Belieben über den Nachlass [Brods] zu verfügen.“ Als Ester Hoffe 2007 im Alter von 101 Jahren starb, fiel der Brod-Nachlass ihren Töchtern Eva und Ruth zu. Erneut trat Israel auf den Plan und behauptete, die Schriftstücke Kafkas und Brods seien als Kulturgüter und damit als Staatseigentum zu betrachten. Erst neun Jahre später sollte sich dieser Fall – nach guten und überzeugenden Argumenten auf allen Seiten der involvierten drei Parteien Hoffe, Nationalbibliothek und DLA Marbach – entscheiden: Der Oberste Gerichtshof Israels legte am 7. August 2016 fest, „dass Eva Hoffe den gesamten Brod-Nachlass einschließlich Kafkas Manuskripten der Israelischen Nationalbibliothek übergeben müsse, ohne dass sie auch nur einen Schekel Entschädigung dafür erhielt.“

Nun wäre das Ringen der beteiligten Protagonisten um Deutungshoheit und Besitzansprüche an sich schon ein mehr als umfangreiches und lohnendes Thema für ein Buch. Balint verzichtet jedoch auf die Schilderung nur des eigentlichen Nachlassstreits, der sich von 2007 bis 2016 hinzog. Das ist das Gute an seinem Buch, das ist das Schlechte daran, denn Kafkas letzter Prozess ist in 15 Kapitel gegliedert, die chronologisch springend zwischen Kafkas und Brods Biografien und der neueren Gegenwart, zwischen dem Leben in Prag und Tel Aviv der 1910er bis -60er Jahre und dem Verlauf des Prozesses Israels gegen Ester und Eva Hoffe seit den -70er Jahren für Verwirrung sorgen. Balint hält zwar die Fäden zusammen, kann aber nicht verhindern, dass sie sich hin und wieder kräuseln. Dabei ist der Sog des Historisch-Biografischen stärker und ausführlicher als derjenige der Gerichtsverhandlungen, die man an einigen Stellen lediglich als Hintergrundrauschen wahrnimmt, wo man es deutlicher, im Vordergrund hören möchte. Lediglich im letzten Kapitel vermag Balint diese Kritik zu parieren, da er hier (man möchte sagen: endlich) nach über 200 Seiten zum eigentlichen Thema kommt, das der Titel seines Buches verspricht.

Man kann Balints Arbeit insgesamt nur als eine akribische und gelehrte bezeichnen; er versteht sein (literaturwissenschaftliches) Metier und beherrscht sein (literaturhistorisches) Sujet. Trotz seiner Neutralität den Prozessparteien gegenüber (warum Tschechien nicht als vierter Beteiligter auftrat, erwähnt Balint leider bloß in einer seiner vielen Endnoten, für die zumindest ein Lesebändchen hilfreich gewesen wäre) kann man doch eine gewisse Sympathie für Eva Hoffe erkennen, die die Publikation des Buches nicht mehr erlebt hat. In der bei Picador erschienen englischsprachigen Ausgabe, Kafkas Last Trial. The Case of a Literary Legacy, ist gleich zu Beginn, am Ende des ersten Kapitels, ein ausdrucksstarkes und symbolisches Foto abgedruckt. Es zeigt Eva Hoffe im Januar 2017 an Max Brods Grab in Tel Aviv, die Hände vor dem Körper gefaltet, der müde Blick nach vorn gerichtet, das Haar kurz geschnitten. Nach dem Urteil, das sie als Enteignung auffasste, hatte Hoffe das Gefühl, vergewaltigt worden zu sein. Betrachtet man dieses Foto, kennt man die kräftezehrenden Hintergründe, fühlt man sich an Kafkas Türhüterparabel erinnert, und auch Balint zieht diesen Vergleich:

Wie der Mann vom Lande strandete Eva Hoffe verstört vor der Tür des Gesetzes. Die erlösende Offenbarung blieb aus. Das Gesetz und die Feinheiten juristischer Beweisführung verstand sie nicht, aber sie verstand das Urteil. Ihr Erbe war der Prozess. Paradoxerweise hatte sie ihre Enterbung geerbt, die Unmöglichkeit, den Willen ihrer Mutter umzusetzen. Sie konnte nur ihre Enteignung ihr Eignen nennen.

Aber könnte Eva Hoffe nicht auch der Türhüter sein, der den Eintritt eines Anderen in das Gesetz blockiert und hinauszögert? Juristisch mag ein finales Urteil gesprochen worden sein; das ‚Aktenzeichen FK‘ bleibt jedoch auf einer symbolischen Ebene ungelöst und offen. Benjamin Balints lesenswerter Bericht liefert die passenden Anregungen, um Aneignungen eines literarischen Nachlasses zu hinterfragen und zu verschieben.

Titelbild

Benjamin Balint: Kafkas letzter Prozess.
Übersetzt aus dem Englischen von Anne Emmert.
Berenberg Verlag, Berlin 2019.
336 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783946334484

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch