Weltuntergänge für jeden Geschmack

Michael Marrak liefert in der Erzählsammlung „Quo vadis, Armageddon?“ gut gemachte Unterhaltung

Von Manfred RothRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Roth

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Band Quo vadis, Armageddon? versammelt laut Klappentext einige der „besten Erzählungen“ des mehrfach ausgezeichneten deutschen Phantastik- und Science-Fiction-Autors Michael Marrak. Vermutlich ist es reiner Zufall, dass jüngst eine ebenfalls auf zwei Bände angelegte Werkschau an Erzählprosa des Autors Alban Nikolas Herbst mit dem Titel Wanderer – Erzählungen I erschien, und doch haben die beiden Sammlungen einige Gemeinsamkeiten: Beide Autoren bedienen sich unter anderem des Genres der phantastischen Literatur, wobei Marrak außerdem vor allem für Science-Fiction bekannt ist. Beide arbeiten popkulturelle Verweise in ihre Erzählungen ein und beide nutzen manchmal real existierende Städte, Herbst zumeist Frankfurt am Main, Marrak die baden-württembergische Landeshauptstadt Stuttgart, als Ort der Handlung; ja selbst ein stilistisches Verfahren, welches einem nicht allzu häufig begegnet, nämlich dass sich ganze Textabschnitte wie in einer Schleife wörtlich wiederholen, bei Herbst unter anderem in der Erzählung Joachim Zilts’ Verirrungen, bei Marrak in Die Stille nach dem Ton oder Der Steinhafen, wenden beide Autoren an. Doch aller Gemeinsamkeiten zum Trotz könnten ihre Erzählungen unterschiedlicher nicht sein, denn wo bei Herbst alles Vexierspiel ist, Versatzstück, um die Illusion eines realistischen Erzählens zu durchbrechen – eine ausführliche Rezension zu Herbsts Wanderer – Erzählungen I findet sich an anderer Stelle –, nutzt Marrak diese Verfahren, um möglichst stringente abgeschlossene fiktionale Welten zu erschaffen, die die Leserschaft fesseln sollen, oder schlicht: um mitreißend zu erzählen.

Aus eben diesem Grund sind die vom Verlag auf dem Buchrücken angestellten Vergleiche mit Franz Kafka und Samuel Beckett eher ein Bärendienst, sprechen sie doch womöglich eine Leserschaft an, die etwas anderes sucht als gut gemachte Horror- und Science-Fiction-Geschichten, denn man ahnt zwar, wo diese Vergleiche herkommen, etwa dass bei Marrak das Gefangensein im monotonen immer Gleichen vor allem in der titelgebenden Erzählung Quo vadis, Armageddon? wie bei Beckett qualvoller sein kann als der Tod, und doch liegt Marraks Fokus schlichtweg woanders, nämlich auf dem Erzählen.

Tatsächlich erinnert manches in Marraks Verfahrensweise eher an Popliteratur, indem er etwa immer wieder Musikstücke zitiert, so in der Erzählung Die Stille nach dem Ton, die mit einer Textzeile aus dem Lied Tomorrow der US-Amerikaner Wall of Voodoo beginnt und in deren Verlauf der Song Dirty Epic der britischen Elektronikband Underworld zitiert wird („I get my kicks on channel 6“). Auch der Erzählung Ein Schattenmärchen ist ein Zitat aus dem Song My Violent Heart der Alternative-Band Nine Inch Nails vorangestellt. Dadurch öffnet Marrak in seinen Erzählungen häufig einen popkulturellen Kontext, auch wenn man deswegen seine Erzählungen nicht als Popliteratur im engeren Sinne bezeichnen kann, da damit, wie der Autor und Feuilletonist Dietmar Dath in einem Interview treffend festgestellt hat, nicht einfach „Bücher, in denen Platten vorkommen“, gemeint sind. Bei Marrak dienen diese Bezüge, ebenso wie die Stadt Stuttgart, dazu, seine Erzählungen zumindest an ihren Rändern in der Wirklichkeit zu verankern, um so den Einbruch des Phantastischen noch überzeugender erscheinen zu lassen.

Bezeichnend für die Sammlung Quo vadis, Armageddon? ist, dass es Marrak versteht, in seinen Erzählungen ganz unterschiedliche Grundstimmungen zu erzeugen. Die Erzählung Dominion erinnert mit ihrem lakonisch-humoristischen, augenzwinkernden Tonfall und seiner Hauptfigur, dem Säbelzahntiger Richard Madenbach, fast schon an Stanislaw Lems Robotermärchen. Das Concaliom verbreitet klassisch-skurrilen Suspense-Horror, während die Erzählung Epitaph streckenweise reinster Splatter ist. Marraks Fähigkeit, mit wenigen Sätzen eine befremdliche und doch plastische Welt entstehen zu lassen, zeigt sich besonders prägnant in der Erzählung Ein Schattenmärchen, in der ein Erzähler sich direkt an die imaginierten Leser richtet und diesen „Kindern“ im Verborgenen, an einem Lagerfeuer eine Geschichte erzählt, deren Pointe darin besteht – Achtung Spoiler! –, dass der Erzähler zufällig über die Leiche eines der Wesen, die über diese Welt herrschen, eines sogenannten Schattenregenten, gestolpert ist, und daraus schließt, dass diese offensichtlich doch sterblich sind und dass es vielleicht noch Hoffnung für diese untergegangene Welt gibt. Der eigentliche Reiz der Erzählung besteht aber darin, dass Marrak im Modus der Lagerfeuergeschichte oder eben des Märchens wie nebenbei stimmungsvoll eine Welt in Trümmern schildert, in der dämonische Wesenheiten sich vom Fleisch der letzten Menschen ernähren. Einerseits ist diese Welt ausgesprochen derbe und erschreckend, andererseits haftet ihr etwas fast Viktorianisch-Schauderhaftes an und erinnert ein wenig an den US-amerikanischen Autor und Illustrator Eward Gorey, vor allem wegen des darin vorkommenden, moritatenhaften Kinderreims: „Einer von hier, zwei von dort, / drei aus der Mitte, sechs sind fort. / Sieben trifft der Blitz, acht das Beil, / neun schrei’n ‚Erbarmen!‘, zehn baumeln am Seil.“

In manchen Erzählungen finden sich ausgesprochen poetische Formulierungen, die man von Genre-Literatur (der Begriff ist nicht abwertend gemeint, sondern will Literatur bezeichnen, die sich ganz bewusst an bestimmte Erzähl-, Handlungs-, und Figurenmuster hält) gar nicht erwarten würde, etwa folgender, gleichermaßen komische wie einfallsreiche Satz aus Das Concaliom: „Aus diesem Grund unterhielt sich Schneeweißchen in ihrer ‚weißen Sprache‘ und redete keine Sätze über 50 Kalorien.“

Hin und wieder vergreift sich Marrak aber leider auch im Ton. Die Tirade über die Engstirnigkeit des Menschen in Die Stille nach dem Ton ist dann doch etwas zu simpel, um zu überzeugen. Dieser kompromisslose, harte Tonfall, wirkt fehl am Platz: „Ihr Menschen aber lebt begrifflich noch immer auf einer Scheibe, obwohl ihr bewiesen habt, dass eure Welt eine Kugel ist. Eure Tiefen der Hölle bestehen aus Dreck und totem Gestein, die Tempel für eure Götter sind hohle, kalte Monolithen.“ Besonders negativ fällt dieser Tonfall aufgrund seiner misogynen Untertöne in Epitaph auf: „Mit einem ganzen Wochenvorrat von Night Rider und Poppers? Gelobt sei der Hausherr. Diese warmen Khmer-Schlampen können auf dir reiten, dass du es dein Leben lang nicht vergisst.“ Das will markig sein, hat aber im besten Fall noch einen Trash-Reiz und erinnert an die Sprüche muskelbepackter Action-Helden (Gott sei Dank) längst vergangener Direct-to-Video-Tage. Man kann einwenden, dass dieser Machismo im Kontext der Erzählung durchaus seine Funktion hat, wandelt sie sich doch am Ende wider alle Erwartungen – Achtung, schon wieder Spoiler! – zu einer äußerst skurrilen Liebesgeschichte. Und doch trüben diese vereinzelt hölzernen Dialoge ein wenig das Gesamtbild, zumal Marrak es grundsätzlich versteht, spannend und unterhaltsam zu erzählen und seine Erzählungen reich an skurrilen Einfällen und überraschenden Wendungen sind.

Es soll Autoren geben, die sich darüber ärgern, in Genre-Schubladen gesteckt zu werden, und manche haben das Gefühl, es würde ihrem Schreiben nicht gerecht, wenn Kritiker, nicht selten sogar der eigene Verlag, sie ständig mit anderen Autoren vergleicht. Tatsächlich haben sie insofern recht, als lohnende Literatur immer auch etwas Eigenes hervorbringt, gleichzeitig ist es aber durchaus nachvollziehbar, Vergleiche anzustellen, um Texten habhaft zu werden, insofern als jedes Werk Bezugs- und Anknüpfungspunkte besitzt, die man legitimerweise offenlegen, vielleicht – und auch das ist manchmal durchaus legitim, manchmal auch nicht – gar erst erzeugen kann. Dass einem zu Marrak viele, ganz unterschiedliche Autoren einfallen, ist also eher positiv zu werten, dass er in keinem so ganz aufgeht aber noch vielmehr.

Titelbild

Michael Marrak: Quo Vadis, Armageddon?
Golkonda, Berlin 2019.
338 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783946503989

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