Narrative Reaktionen auf das Phänomen der Migration
Ein von Margarita Blanco Hölscher und Christina Jurcic herausgegebener Sammelband beleuchtet interkulturelles Schreiben in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur
Von Torsten Mergen
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseExil, Migration und Fluchtbewegungen von Menschen sind soziokulturell sowie existenziell grundlegende Phänomene, die sich in vielfältiger Form in literarischen Texten nachweisen lassen. Migratorisches Schreiben kennzeichnet dabei jedoch sowohl thematisch als auch gestalterisch erkennbare Eigenheiten und spezifische Zugangsweisen, die es wissenschaftlich zu erforschen und zu systematisieren gilt. Einen Beitrag dazu möchte der Sammelband Narrationen in Bewegung. Deutschsprachige Literatur und Migration leisten, der auf einen internationalen Kongress deutscher, österreichischer und Schweizer Germanisten im Frühjahr 2017 an der nordspanischen Universität Oviedo zurückgeht. Herausgegeben wird der Band von den dort lehrenden Wissenschaftlerinnen Margarita Blanco Hölscher und Christina Jurcic. Er versammelt vierzehn Beiträge von dreizehn Germanistinnen und Germanisten sowie einem Schriftsteller zu drei von den Herausgeberinnen einführend formulierten Themenschwerpunkten: dem biografischen literarischen Essay, der Literatur mit osteuropäischem Hintergrund sowie der Exilliteratur im Allgemeinen und der Migration im Theater der Gegenwart im Besonderen.
Bereits diese knappe Beschreibung der thematischen Ausrichtung des Sammelbandes verdeutlicht seine Stärken und Schwächen: Es ist ein weitgefasster Zugriff auf die Thematik, welche mit Einzelfallstudien und wenigen grundlegend-systematisierenden Beiträgen beleuchtet wird. Auf dieser Basis werden nur partielle Einblicke in das weite Forschungsfeld gewährt.
Im Bereich der literarischen Essays liest man etwa den übergreifend angelegten Beitrag des österreichischen Schriftstellers Leopold Federmair. Dessen Ausführungen kreisen um den Begriff einer „transversalen Ästhetik“, wobei der Autor „ein Dazwischen, auf Beziehungen, die zwar nicht ohne Bewegung stattfinden, aber doch erstarren können“ fokussiert. Dies sei vor allem in Texten beobachtbar, die auf einem Sprachwechsel basieren, hervorgerufen durch die (bisweilen konfrontativen) Begegnungen eines Autors mit einer fremden beziehungsweise neuartigen Kultur, die Spuren im persönlichen Erleben sowie im Schreiben hinterlassen. Transversalität lasse sich, so Federmair, besonders im Feld der Migrantenliteratur nachweisen, die sowohl sprachlich als auch kulturell einem „Zwischenreich über (oder unter) den Kulturen“ angehöre, was der Schriftsteller einerseits am Beispiel der Reiseliteratur in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erläutert, andererseits auch mit Blick auf translinguale, exophone Literatur von Autorinnen und Autoren wie Melinda Nadj Aboniji oder Nino Harataschwili exemplifiziert. Worin liegt nun das Spezifische des Transversalen? Federmair verweist stimmig auf das transversale Ich. „Es akzeptiert das Nebeneinander, achtet das Heterogene, beschreibt behutsame Annäherung, die nicht auf Vereinigung abzielen“ müsse. Ergänzt werden diese theoretischen Überlegungen durch eine Einzeltextstudie der renommierten spanischen Literaturwissenschaftlerin Marisa Siguan Boemer. Darin finden sich differenzierte Analysen zu José Olivers Essayband Mein andalusisches Schwarzwalddorf, woran vorrangig die nachweisbare Ästhetik der Sprache betrachtet wird, was dank der verwendeten Sprachenvielfalt (Alemannisch, Andalusisch, Deutsch und Spanisch) des deutsch-spanischen Autors plausibel wirkt.
Der zweite Teil des Sammelbandes fokussiert in fünf Beiträgen explizit einen osteuropäischen Bezug: Einführend findet sich ein Überblick des Bremer Literaturwissenschaftlers Axel Dunker zu der Frage, wie die deutschsprachige Gegenwartsliteratur des entsprechenden Kulturraums begrifflich und definitorisch zu kategorisieren ist. Dazu konstatiert Dunker hinsichtlich der Relevanz des Forschungsgebietes:
Mit ihren Erfolgen haben die AutorInnen osteuropäischer Herkunft nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ den ProtagonistInnen etwa der deutsch-türkischen Literatur, an der die Kategorien der interkulturellen Germanistik und der sogenannten Migrationsliteratur zu großen Teilen entwickelt worden sind, längst den Rang abgelaufen. […] Gleichwohl scheint die vage Bezeichnung ‚AutorIn osteuropäischer Herkunft‘ ein wahrnehmbares Phänomen des Literaturbetriebs zu erfassen, sodass die literaturwissenschaftliche Forschung bereits die Frage einer möglichen ‚Osterweiterung der deutschsprachigen Literatur‘ bzw. eines ‚eastern turn‘ gestellt hat.
Im Folgenden wägt Dunker sehr strukturiert verschiedene Kategorisierungsmöglichkeiten ab, darüber hinaus wendet er sich dem 2010 erschienenen Roman Sogar Papageien überleben uns der Schriftstellerin Olga Martynova zu, um Spezifika eines entsprechenden literarischen Schreibens aufzuzeigen. Dies wird ergänzt durch eine recht knappe Betrachtung von Kat Kaufmanns Debütroman Superposition aus dem Jahr 2015. Im Ergebnis hält Dunker fest: Formbewusstsein, Ironie, Geschichtsbetrachtung und -reflexion, Geschichtenfülle und poetische Intensität sowie thematische Interkulturalität seien die Markenzeichen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur osteuropäischer Provenienz.
Dies konkretisierend, diskutiert die an der Universität Extremadura wirkende Wissenschaftlerin Olga García die Frage nach osteuropäischer Gegenwartsliteratur mit Blick auf die „deutsche Literatur aus Rumänien“. Dazu untersucht sie den Begriff „Rumäniendeutsche“ und vergleicht verschiedene Begriffsprägungen wie etwa „deutschsprachige Literatur Rumäniens“, „deutsche Literatur aus dem Gebiet des heutigen Rumänien“ oder „rumäniendeutsche Literatur“. Anhand der Generation der Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die Rumänien in den 1980er Jahren verlassen haben – etwa die inzwischen zu literarischer Prominenz gelangten Richard Wagner oder Herta Müller –, widmet sie sich der erkenntnisleitenden Forschungsfrage:
Wie soll das Phänomen der Migration mit einem jeweils partikularen und spezifischen Einzelfall in Einklang gebracht werden? Diese Künstlergeneration kam als – aus ‚deutscher‘ Perspektive – Aussiedler nach Deutschland. […] Für diese Schriftsteller, nun Bürger der Bundesrepublik Deutschland, werden in den kommenden Jahren die Erfahrungen der Diktatur und der Schwierigkeiten eines Neuanfangs in Deutschland ein fester Bestandteil ihrer literarischen Produktion sein, auch wenn es zum Zerfall der Ostblockstaaten kommen wird.
Nach Musterung verschiedener Texte der sicherlich prominentesten Vertreter dieser spezifischen Generationsgruppe – Wagner und Müller – plädiert García überzeugend für neue Begriffe im Kontext einer „Poetik der Bewegung“, die ethnoterritoriale Klassifikationen und Typisierungen vermeiden helfen könnte.
Vertieft und spezifiziert wird dies durch drei Einzelfallstudien mit Beiträgen zum Prosawerk der kroatisch-stämmigen Autorin Marica Bodrožić, zum autobiografisch geprägten Roman Transitvisum fürs Leben der aus Bulgarien stammenden Autorin Rumjana Zacharieva sowie zur Autobiografie Mein Vaterland war ein Apfelkern Herta Müllers.
Im umfangreichsten Teil des Bandes werden zwei Bereiche miteinander verknüpft, die nicht zwingend zusammengehören: das weite Feld der Exilliteratur und die Frage nach den Darstellungsweisen des Themas Migration im Gegenwartstheater. Wiederum steht ein Überblicksbeitrag neben sechs Einzelfallstudien. Die Flensburger Literaturdidaktikerin Gesa Singer unternimmt einen Parforceritt durch die Interkulturalitätsforschung, indem sie Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der deutschsprachigen Exilliteratur der 1930er und 1940er Jahre sowie der zeitgenössischen deutschsprachigen interkulturellen Literatur in ambitionierter Weise auf rund zehn Druckseiten herausarbeiten möchte. Vieles Relevante wird knapp angerissen, wobei die Wissenschaftlerin in einleuchtender Weise resümiert:
Heimatverlust, Verlust der Sprache und Nicht-Zugehörigkeit sind bestimmende Themen und Motive beider Literaturen. […] Während der Umgang mit Sprache in beiden Literaturen spielerisch und innovativ sein kann, ist in der interkulturellen Literatur ein starker sprachästhetischer Einfluss von sowie ein ausdrücklicher Diskurs über Zwei- und Mehrsprachigkeit, Sprachwechsel und Sprachmischung beobachtbar.
Konkretisiert werden solche Rahmungen durch vier Detailstudien zu Texten von Erna Pinner, Karl Ottens Roman Torquemadas Schatten, Franz Bleis Romanfragment Das trojanische Pferd sowie Marte Brills Der Schmelztiegel, ferner zur frühesten Prosa von Peter Weiss und zum autobiografisch geprägten Band Damals, dann und danach der Schriftstellerin Barbara Honigmann.
Etwas unmotiviert und kaum anmoderiert wirkt die Hinzufügung von zwei beachtlichen Analysen zur zeitgenössischen Dramatik, die durchaus einen vierten Band-Teil repräsentieren könnten: Sowohl die Analyse von Margareth Obexers Theaterstück Das Geisterschiff als auch der intertextuell angelegte Zugriff auf Elfriede Jelineks Stück Unseres verdienen eine eingehende Betrachtung, da sie begrifflich sehr präzise mit einem spannenden Textkorpus arbeiten und das komplexe Phänomen der Migration auf der Bühne sehr kenntnisreich reflektieren.
Den Tagungsband kennzeichnet insgesamt eine breite Auswahl von literarischen Texten und verschiedenen literaturtheoretischen Forschungsansätzen. Jedoch wirkt die Zusammenstellung thematisch wie gattungsmäßig sehr heterogen. Die Spannbreite reicht etwa von deutschsprachigen Gegenwartsromanen osteuropäischer Autorinnen und Autoren über die Literatur des Exils bis zu Fragen der Darstellung von Fluchterfahrungen im Gegenwartstheater. Dies dokumentiert einerseits die ambitionierte Zielsetzung der internationalen Tagung, andererseits leidet darunter die thematische Konzentration etwas. Trotz dieses Monitums kann der Band als Referenz für die Auslandsgermanistik und die interkulturelle Germanistik von besonderem Interesse sein, da in ihm ein komplexes Problem mit hoher soziokultureller Brisanz von ausgewiesenen Expertinnen und Experten kenntnis- und facettenreich beleuchtet wird.
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