Zum Sagen gezwungen?

Janosch Steuwer liest Tagebücher aus der NS-Zeit und lotet Selbstreflexionen der Zeitgenossen aus

Von Armin NolzenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Armin Nolzen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nachdem Roland Barthes am 7. Januar 1977 seine Antrittsvorlesung am altehrwürdigen Collège de France in Paris beendet hatte, waren viele der mehr als 100 Zuhörer aus der Créme de la Créme der französischen Intelligenz verstört. Dies jedenfalls ergibt sich aus dem heftigen Nachhall, den eine auf den ersten Blick recht unscheinbare Passage aus seinen Ausführungen im poststrukturalistischen und semiologischen Diskurs der nächsten Jahre fand. „Doch die Sprache als Performanz aller Rede ist weder reaktionär noch progressiv; sie ist ganz einfach faschistisch; denn Faschismus heißt nicht am Sagen hindern, er heißt zum Sagen zwingen“. Barthes Aussage, Sprache sei faschistisch, ist von vielen Weggefährten, unter anderem von dem ihm ansonsten in Freundschaft verbundenen Umberto Eco, als schiere Provokation ohne Wert abgetan worden. Der zweite Teil dieser Äußerung wurde hingegen kaum gewürdigt: Faschismus heißt zum Sagen zwingen. Damit wies Barthes auf eine fundamentale Veränderung der Kommunikation im Nationalsozialismus hin. Das Recht zu schweigen war seit 1933 suspendiert; stattdessen herrschte die Pflicht, sich in Wort und Tat zu bekennen.

Dass der Nationalsozialismus ein Bekenntnisregime war, ist in der NS-Forschung mittlerweile zwar Common Sense. Gleichwohl sind die unzähligen Mechanismen des Bekennens, die sich nach 1933 im NS-Staat etablierten, noch niemals in einer zusammenfassenden Schau gewürdigt worden. Die Studie von Janosch Steuwer, eine Dissertation an der Ruhr-Universität Bochum, interessiert sich für einen zentralen Aspekt dieses Bekennens, den er unter den Begriff der „individuellen Herausforderung“ fasst. Steuwer will wissen, wie die Zeitgenossen nach 1933 auf die Übernahme der politischen Macht durch den Nationalsozialismus reagierten, und er will wissen, wie sich diese Verhaltensweisen wiederum auf die politischen Gestaltungsmöglichkeiten des NS-Regimes auswirkten. „Individuelle Herausforderung“ ist bei ihm ein Doppeltes: „die Herausforderung, die das NS-Regime für das Denken und Handeln der einzelnen Zeitgenossen darstellte, und die Herausforderung, die die massenhaften Reaktionen der einzelnen Zeitgenossen für die Politikgestaltung des Regimes bildeten“. Um diese beiden Erkenntnisinteressen miteinander verbinden zu können, zieht Steuwer zwei Quellengattungen heran. Zum einen benutzt er rund 140 Tagebücher, die archivalisch überliefert sind, zum anderen eine große Zahl zeitgenössischer Druckschriften, Zeitungsartikel sowie wissenschaftlicher Editionen. Im Zentrum der Analyse steht aber die Gattung „Tagebuch“, die er mit dem französischen Literaturwissenschaftler Philippe Lejeune als autobiografische Textform begreift, die referentiell ist, also eine literarisierte und stilisierte Realität schildert, die gleichwohl mittels philologischer Analyse überprüfbar ist.

Im ersten Teil seines Buches skizziert Steuwer anhand von Tagebüchern, wie die Zeitgenossen mit den nach 1933 einsetzenden Bemühungen des NS-Regimes umgingen, die sozialen Beziehungen im Alltag grundlegend zu verändern. Er nimmt die Reaktionen auf den frühen NS-Terror, die individuelle Suche nach einem eigenen Standpunkt und dessen Veränderungen, die sich aus Selbstreflexionen und einer Beobachtung des persönlichen Umfeldes ergaben, in seinen Blick. Anstatt den Tagebüchern jedoch die konkreten Erwartungen, die das NS-Regime an den Einzelnen richtete, zu entnehmen, diese vielleicht zu typologisieren und die individuellen Umgangsweisen nachzuzeichnen, verbleibt Steuwer durchweg an der Oberfläche.

Immer wieder konstatiert er, dass der Nationalsozialismus dazu zwang, Stellung zu nehmen, und redet mit seinen Gewährsleuten von einer „Forderung nach Zuordnung zum neuen Regime“. Selten genug wird deutlich, um welche Herausforderungen es eigentlich ging. Einmal erwähnt ein Tagebuchschreiber die Erwartung an alle Gemeindebeamten, bei amtlichen Handlungen in Uniform zu erscheinen; andere heben auf das Hissen der Hakenkreuz-Fahne im Frühjahr 1933, die Pflicht zum „Hitler-Gruß“, die Aufforderung, der NSDAP oder ihren Gliederungen und angeschlossenen Verbänden beizutreten, oder den Druck bei den Sammel- und Spendenaktionen des NS-Regimes ab. Aus der Forschung sind unzählige andere Verhaltensanforderungen bekannt, mit denen der Nationalsozialismus tief in das Alltagsleben der Individuen eingriff. Es stellt sich die Frage, ob sie in den Tagebüchen nicht im Detail thematisiert wurden oder ob Steuwer sie dem Leser nur nicht in der Breite mitteilt. Jedenfalls zeigen sich in seiner Art und Weise, die Tagebücher zu lesen, die Grenzen dieser Quellengattung. Propagiert er in der Einleitung noch eine holistische Lektüre, um die in den Tagebüchern zum Ausdruck kommenden individuellen Schreibprozesse zu würdigen, so wertet er sie tatsächlich nach thematischen Gesichtspunkten aus. Eine Analyse, die die Persönlichkeitsentwicklung der Tagebuchschreibenden ernst nimmt, sieht anders aus.

Im zweiten Teil des Buches, der Steuwer besser gelungen ist, geht es um den individuellen Umgang mit dem „nationalsozialistischen Erziehungsprojekt“. Darunter versteht der Autor den Anspruch des NS-Regimes an die Zeitgenossen, Lebensweisen und Selbstvorstellungen zu ändern. Sein Schwerpunkt liegt auf den je unterschiedlichen Aneignungsweisen des NS-Erziehungsanspruchs, wie er sich in den Tagebüchern widerspiegelt. Anhand der Lagererziehung weist der Autor die aktive Mitwirkung vieler Zeitgenossen an den NS-Erziehungsbemühungen nach, die er auf vorgebliche Gemeinschaftserlebnisse, Verbundenheit mit der eigenen Kleingruppe und konkrete persönliche Interessen zurückführt und mit dem Begriff „politische Selbstgestaltung“ bezeichnet.

Wichtige weiterführende Bemerkungen finden sich in zwei Unterkapiteln über individuelle Körpererfahrungen und die große Bedeutung eines Faktors wie „Herkunft“, die sich aus der notwendigen Erstellung von „Ahnenpässen“ zum Beweis der eigenen „arischen Abstammung“ ergab. Steuwer lässt keinen Zweifel daran, dass viele der Zeitgenossen die damit einhergehenden „rassenhygienischen“ Topoi unreflektiert übernahmen. Durchgehend stört hier seine subjektivistische Schlagseite. Steuwer interessiert sich überwiegend für Mechanismen des Selbstzwangs, wogegen die Fremdzwänge des NS-Regimes blass bleiben. Welche Praktiken das NS-Erziehungsprojekt umfasste, welche Organisationen sich daran beteiligten und welche Evaluationskriterien und auch Sanktionen sie entwickelten, wird kaum thematisiert.

Im dritten Teil des Buches wäre zu erwarten gewesen, dass der Autor seine zweite Ausgangsfrage nach jenen Herausforderungen aufnimmt, die sich aus den zuvor geschilderten Reaktionen der Zeitgenossen für die politischen Gestaltungsmöglichkeiten des NS-Regimes ergaben. Dazu hätte er die Perspektive des NS-Regimes in den Mittelpunkt stellen und die Wechselwirkung zwischen Regierungspolitik und kollektivem Verhalten ausloten müssen. Konsequenterweise beginnt Steuwer auch mit einem Kapitel über die Beobachtung politischer Stimmungslagen durch das NS-Regime und einem quellenkritischen Exkurs über den Wert der zu diesem Zweck erstellten polizeilichen Lageberichte. Er betont zu Recht, dass diese Berichte integraler Bestandteil der NS-Meinungsbildung in einer gelenkten Öffentlichkeit gewesen seien und den Anspruch des Regimes widerspiegelten, auf kollektive Stimmungsänderungen zu reagieren.

Auch den Stimmungsberichten des sozialistischen Exils, die er in diesem Zusammenhang würdigt, billigt er nur eine geringe Aussagekraft für die Frage nach den Beziehungen zwischen Regierung und Bevölkerung zu. An dieser Stelle wechselt Steuwer ohne jede Begründung das Erkenntnisinteresse. Plötzlich geht es ihm um die „Entstehung neuer, den veränderten Bedingungen der NS-Diktatur angemessener Formen politischen Handelns und Bewertens sowie deren Bedeutung für das politische System und für das Alltagsleben der Deutschen“. Was sich hinter diesem allzu kryptischen Satz verbirgt, erschließt sich dem Leser auf den nächsten fast 170 Seiten nur unzureichend. Steuwer wendet sich jedenfalls wieder den Tagebüchern zu und entnimmt ihnen alle nur erdenklichen Beispiele für die individuelle Beschäftigung mit einzelnen Aspekten der NS-Regierungspolitik. Von den politischen Gestaltungsmöglichkeiten des NS-Regimes ist keine Rede mehr.

Im weiteren Verlauf des dritten Teils reiht Steuwer stattdessen unzählige individuelle Beobachtungen und Bewertungen der NS-Politik aneinander, die zwischen ostentativer Unterstützung und skeptischer Zurückhaltung oszillierten. Immerhin analysiert er jetzt auch einige der Verhaltensanforderungen des NS-Regimes, die in den ersten Teil des Buches gehört hätten, etwa die Teilnahmebereitschaft an den NS-Massenveranstaltungen, Radio-Gemeinschaftempfängen und Reichstagswahlen, wie sie anlässlich der so genannten Volksabstimmungen 1933, 1934 und 1938 inszeniert wurden. Ein separates Kapitel ist mit „Das Private und die Frage nach den Grenzen des politischen Systems des Nationalsozialismus“ betitelt und größtenteils aus der Sekundärliteratur gearbeitet. Die darin entwickelte These, es habe auch „ohne das gewaltsame Eindringen politischer Akteure in die eigene Wohnung in den 1930er Jahren keine unpolitische, vom politischen System nicht tangierte räumliche Privatheit mehr“ gegeben, vermag allerdings nicht zu überzeugen, zumal Steuwer die wenigen Tagebücher, die seinen Ausführungen zugrundeliegen, immer nur im Hinblick auf die Reflexion politischer Ereignisse auswertet. Die Frage nach den Grenzen des Privaten in der NS-Zeit ist jedoch schlechterdings gar nicht zu beantworten, wenn man Eintragungen zu Familienleben, Freundschaften, religiösen Überzeugungen, Nachbarschaft, Freizeitgestaltung und alltäglichen Verrichtungen konsequent überliest, wie Steuwer es fast durchgängig praktiziert. Hier wie auch an anderer Stelle drängt sich der Eindruck auf, dass er viele Befunde erst durch seine selektive Lektüre der Quellen erzeugt. Die konfuse Gesamtanlage des dritten Teils und eine Sprache, die die üblichen Anforderungen an Verständlichkeit kaum mehr erfüllt, tragen ein Übriges dazu bei, seine Interpretationen mit Skepsis zu betrachten.

Bilanziert man die Ergebnisse des vorliegenden Buches, so fällt die immense Lücke auf, die zwischen dem eingangs postuliertem Erkenntnisinteresse und der tatsächlich durchgeführten Analyse klafft. Mit seinem Anspruch, mittels einer subjektivierungsgeschichtlichen Erweiterung eine neue Perspektive auf die Gesellschaftsgeschichte des NS-Staates zu eröffnen, hat sich der Autor überhoben. Dies wird nicht zuletzt auch aus dem Buchtitel Politik, Gesellschaft und privates Leben in Tagebüchern deutlich, der den Leser aufs Glatteis führt, weil es in der Analyse immer nur um die individuellen Wahrnehmungs-, und Interpretationsweisen politischer Aspekte geht, kaum einmal um Privates und schon gar nicht um „Gesellschaft“, von der Steuwer im Grunde genommen gar keine begriffliche Anschauung hat. Sein umfassender Erklärungsanspruch wird nicht zuletzt dadurch konterkariert, dass er sich in die schlechte Tradition der NS-Forschung der 1960er und -70er Jahre einreiht und sich ohne Angabe von Gründen auf die Vorkriegszeit beschränkt. Die Schlussbetrachtung, die nicht in einer Zusammenfassung seiner Ergebnisse besteht, sondern einen empirisch gesättigten, mit 91 Fußnoten versehenen Ausblick auf die Kriegszeit gibt, vermag dieses Versäumnis auch nicht zu kompensieren.

Letztlich lassen sich die erwähnten Probleme nur daraus erklären, dass sich Steuwer der Wucht seiner Quellen hingibt und keinerlei methodisches Konzept entwickelt, um diese Stofffülle zu bändigen. Der in der Einleitung rudimentär erwähnte Begriff der „Volksgemeinschaft“, der in den letzten Jahren im Zentrum einer intensiven Debatte in der NS-Forschung stand und dem Steuwer selbst einen wichtigen Artikel gewidmet hat, hätte hier möglicherweise Abhilfe schaffen können. Dessen Verwendung wäre jedoch an die Bedingung gebunden gewesen, subjektive und objektive Faktoren der „Herausforderung des Nationalsozialismus“ gleichermaßen zu berücksichtigen. Steuwer versucht dem zwar Rechnung zu tragen, indem er eine riesige Menge Sekundärliteratur heranzieht, um seine Tagebuchanalysen mit der Entwicklung des politischen Systems nach 1933 zu verzahnen. Dies ändert allerdings nichts an seinem Primat des Subjektiven. Insgesamt erweckt das von Steuwer präsentierte Material den Eindruck, dass der Nationalsozialismus beileibe nicht nur zum Sagen zwang, wie Roland Barthes es im Januar 1977 in seiner Antrittsvorlesung am Collège de France formulierte. Vielmehr scheint er unter den Zeitgenossen auch einen immensen Bekenntnisdrang produziert zu haben, der sich bisweilen bis zur Geschwätzigkeit steigerte. In welchem Verhältnis Bekenntniszwang und Bekenntnisdrang in der NS-Zeit standen, bleibt eine Frage, der nachzugehen sich weiter lohnt.

Titelbild

Janosch Steuwer: »Ein Drittes Reich, wie ich es auffasse«. Politik, Gesellschaft und privates Leben in Tagebüchern 1933-1939.
Wallstein Verlag, Göttingen 2017.
611 Seiten, 49,90 EUR.
ISBN-13: 9783835330030

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