Bloß nicht auffallen, einfügen!

In ihrem Debütroman „Jesolo“ hinterfragt Tanja Raich traditionell anmutende Beziehungskonzepte und die scheinbar obsolet gewordene Befreiung der Frau

Von Caroline LissRSS-Newsfeed neuer Artikel von Caroline Liss

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Andrea ist Mitte dreißig, in einer langjährigen Beziehung mit Jugendliebe Georg, sie hat eine Festanstellung und fährt jedes Jahr mit Georg nach Jesolo in Italien, weil man sich dort eines grundlegend angenehmen Urlaubs sicher sein kann, der Aufenthalt als solcher nicht zu teuer ist und die Fahrt dorthin nur zwei Stunden dauert: Pragmatismus meets Bequemlichkeit. Pragmatisch und bequem scheint auch ihre Beziehung zu Georg zu sein, denn obwohl sich die beiden regelmäßig streiten oder – wahlweise – anschweigen, wenn es um das leidige Thema einer gemeinsamen Wohnung geht, verharren beide unglücklich in ihrer Beziehung aus Kompromissen, die jedoch keine der beiden Parteien wirklich zufrieden stellt. „Eure Beziehung muss sich doch weiterentwickeln“, findet Georgs Mutter, die dem Paar mit ihren Vorstellungen zu Heirat und Enkeln ständig in den Ohren liegt.

Eine eigene Familie zu gründen, sei das Ziel des Lebens und in diesem Sinn verortet sich auch die Dialektik zwischen der Elterngeneration und den Jungen innerhalb der Diegese auf den ersten Blick: „Die Jungen schauen doch nur auf sich. Am Ende des Tages ist es aber immer nur die Familie, die bleibt.“ Mit einer solchen Lebenswirklichkeit und Erwartungshaltung kann sich Andrea in ihrem Freiheitsdrang und ihrer Vorstellung von Autonomie jedoch nur schwer arrangieren; sie sträubt sich so lange gegen Dorfidylle und Sonntagsbraten, bis sie schließlich ungeplant schwanger wird und man ihr infolgedessen schleichend die eigene Entscheidungsgewalt abnimmt.

Der Roman beginnt mit Andreas und Georgs obligatorischem Urlaub in Jesolo und bereits in diesem ersten, „nullten“ Kapitel wird deutlich, wie vorhersehbar und festgefahren die Beziehung der beiden ist: Jahr für Jahr erleben sie die gleiche Eintönigkeit, es bleibt der gleiche Ort, es sind die gleichen Gesprächsthemen, die gleichen Unternehmungen und gleichen Witze von Georg; schlichtweg stets und unweigerlich der gleiche Ablauf. Andrea kennt Georg so gut, dass sie jeden seiner vermeintlich spontanen Sprüche vorausahnt, sie sogar mitsprechen könnte und zunehmend von Georg und seinen Eigenarten genervt ist. Er kaut mit offenem Mund, ähnelt seinem Vater immer mehr und hat es sich in dieser langjährigen Beziehung mittlerweile gemütlich gemacht. Während sich Andrea ihrerseits nach neuen Erlebnissen, neuen und ihr unbekannten Orten sehnt, reicht Georg der Strand von Jesolo. Sein Verhalten innerhalb der Beziehung spiegelt sich besonders im Urlaub selbst wider: Wozu sich noch bemühen, wenn auch ohne das eigene Zutun alles soweit ‚ganz okay’ ist?

Zwar schneidet das Hotel jedes Jahr ein bisschen schlechter ab, doch wie immer arrangieren sich Andrea und Georg damit. Und so sagen sie sich auch dieses Jahr nach dem Urlaub: So schlimm war’s nicht. War doch eigentlich ganz okay, ganz schön. Aus dem Gezeter im Urlaub wird mit zunehmendem Abstand eine geschönte und gleichsam selbstbetrügerische Erinnerung. Hinterher werden die Urlaubsbilder von der alljährlich gleichen Umgebung; demselben Strand, demselben Hotel und denselben Restaurants traditionell beim gemeinsamen Dinner bei Wein und Kerzenlicht dem befreundeten Pärchen Marlene und Lukas gezeigt und Erinnerungen geschönt, Erzählungen ästhetisiert und Erlebnisse abenteuerlicher geschildert, als sie ursprünglich auch nur im Ansatz waren. Verschwiegen werden natürlich die Streitigkeiten, die zunehmend unangenehme Spannung der beiden Partner; unerwähnt bleibt die Stille, das fehlende Lachen und das stattdessen immer öfter auszusitzende Schweigen, wenn sich Georg und Andrea wie Fremde gegenübersitzen.

Die Paare werden zeitweise zu Opponenten im Schafspelz, die sich gegenseitig mit ihren Urlauben und Geschichten, aber auch mit ihrer nach außen hin perfekten Beziehung zu übertrumpfen versuchen. Während sie einander gegenübersitzen, bilden sie ein falsches Spiegelbild, denn Lukas und Marlene wirken unbeschwerter, liebevoller und ehrlicher im Umgang miteinander. Georg und Andrea hingegen halten vielmehr „die Fassade eines glücklichen Paares“ aufrecht. Und so fragt sich die Ich-Erzählerin zunehmend und in kürzer werdenden Abständen, wohin dieser Mann verschwunden sei, in den sie sich verliebt hat, denn „dieser neue Mann, der gefallen will, der alles richtig machen will, der Verantwortung übernehmen will, hat sich über dich gelegt und nach und nach deine Persönlichkeit aufgefressen.“ Demgegenüber hält Georg ihr vor, ihn hinzuhalten, Spielchen zu spielen, weil er nicht wisse, ob sie eine gemeinsame Zukunft hätten, solange Andrea nur sich selbst in ihrem Leben Platz lässt. Vor diesem Hintergrund zeigt sich also eine Beziehung, die in einem anderen Lebensabschnitt, als Jugendliebe, begonnen hat und innerhalb derer sich beide Partner in unterschiedliche Richtungen bewegt haben: Während er Sicherheit und Geborgenheit sucht, sehnt sich Andrea nach Selbstbestimmung und Freiheit.

Als ihre Beziehung endgültig am Abgrund steht, wird Andrea schwanger. Ihre anfängliche Unsicherheit bezüglich der Entscheidung, ob sie das Kind bekommen soll oder nicht, wird bereits vom Gynäkologen im Keim erstickt: Natürlich steht außer Frage, dass frau in diesem Alter das Kind gebärt und behält, schließlich sind damit zwei der beiden wichtigsten Komponenten eines anständigen Lebenslaufs erfüllt: die feste Partnerschaft und das sichere Einkommen, es fehlen in dieser Gleichung also nur noch Kinder. Obgleich Andrea sich zunächst unentschlossen zeigt, wird ihr die Entscheidung schon im Gespräch mit Georg abgenommen, denn; so das Credo der im Roman abgebildeten Gesellschaft: „Irgendwann muss man sich dem Ernst des Lebens stellen.“ Oder wie Georgs Mutter so gern sagt: „Irgendwann wird deine biologische Uhr auch nicht mehr mitspielen, und dann ist es zu spät. Jetzt seid ihr im richtigen Alter. Irgendwann seid ihr zu alt […], dann bereut ihr es. Dann heißt es: Hätten wir doch. Aber dann gibt es kein Zurück.“

Dass es auch mit Kind kein Zurück mehr gibt und eine solche Entscheidung viel gravierender für das (eigene) Leben und zudem für das des Kindes ist, findet keine Erwähnung. Es scheint so, als sei es in den Zwanzigern noch möglich, sich Optionen offenzuhalten, sich nicht festzulegen, flexibel in seinem Lebensstil zu sein. Denn während es mit Anfang/Mitte zwanzig noch warnend heißt „Sobald du ein Kind hast, schnappt die Falle zu und du sitzt fest“, verändert sich diese Haltung doch grundlegend, sobald das dreißigste Lebensjahr vollendet ist, und der Erwartungsdruck vonseiten des Umfelds wächst mit jedem Jahr. Dann weicht die Flexibilität, das Offenhalten von Möglichkeiten und die Suche nach neuen Herausforderungen und Abenteuern der Sesshaftigkeit, Sicherheit, Geborgenheit – gern in Form des Eigenheims, der Ehe und Kindern. Denn wie Andreas beste Freundin Marlene schließlich weiß: „Wege verbauen muss man, man kann auch nur einen Weg gehen. Entscheidungen treffen muss man. Realistin werden muss man. Wünsche und Träume ziehen lassen. Das ist Älterwerden. Es gefällt mir selbst nicht. Aber so ist es.“

So arrangiert sich Andrea schließlich – nach Zaudern und Zögern – mit den ihr auferlegten Entscheidungen und ihre Beziehung scheint damit auf wundersame Weise gerettet. Sie zieht zusammen mit Georg in das Haus seiner Eltern in dem ihr so verhassten Dorf, tritt aufgrund der fortschreitenden Schwangerschaft beruflich deutlich kürzer und zieht sich zunehmend ins Private, Häusliche zurück. Allerdings werden ihr auch im Privaten zunehmend die Zügel aus der Hand genommen, denn das Häusliche steht unter der Regentschaft ihrer netten, aber fordernden Schwiegermutter in spe und Georgs Familie: „Ich sage, ich wünsche mir, oder ich stelle mir das so vor. Ihr sagt: Besser wäre doch. Oder: Das geht gar nicht, […] so macht man das nicht mehr.“

Nach diversen Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften (Kolik, Lichtungen, Die Rampe) und einigen Anthologien rückt Tanja Raich in ihrem Debütroman „Jesolo“ mit der Ich-Erzählerin Andrea eine Figur in den Mittelpunkt, die stellvertretend für eine Generation von Frauen steht und spricht, der immer gesagt wurde, sie könnte alles werden und erreichen, was sie nur wollte, es stünde ihr zu, mit den gutbürgerlichen Konventionen der Elterngeneration zu brechen und den verkrusteten Lebensentwurf, der mit der vordefinierten Rolle der Frau als Mutter einhergeht, aufzubrechen. Diese Generation, die sich nun traut einen anderen Weg einzuschlagen, muss sich allerdings nach den unbeschwerten Zwanzigern, in denen Umwege noch erlaubt sind, eingestehen, dass es sich hierbei um einen Trugschluss handelt und die Erwartungshaltung an Frauen noch immer dieselbe zu sein scheint.

Raich hinterfragt erzählerisch die Befreiung und Emanzipation ‚der Frau’, sie entlarvt den Irrglauben, emanzipatorische Gedanken wären obsolet geworden – schließlich seien doch auch Frauen von Erwartungshaltungen befreit und könnten frei über ihr Lebenskonzept entscheiden – insofern, als sich der Erwartungsdruck hinsichtlich eines traditionellen Familienentwurfs verschärft und schlichtweg auf die dreißiger Lebensjahre verschoben hat. Der Roman verhandelt die Erwartungshaltung, die sich an Frauen Mitte dreißig von außen richtet; etwa vonseiten der eigenen Familie, der Schwiegereltern, von Freunden und ehemaligen Klassenkameraden bis hin zu Ärzten, denen ein anderes Lebenskonzept fremd zu sein scheint. Raich schildert in zumeist knappen Sätzen die Gedankengänge und -fetzen ihrer Ich-Erzählerin, besticht mit Symbolik und ihrer bildsprachlichen Erzählweise, sodass sie bei der Leserin mühelos Bilder, Gerüche, Geräusche und eigene Erinnerungen zu erwecken vermag. Besonders das Leitmotiv des Romans – das Wasser – das sich in unterschiedlichen Modifikationen und Transformationen wiederfindet, bildet eine schöne und sehr treffende Metapher für die Umstände der eigenen Generation: Springt man in den Zwanzigern noch wortwörtlich ins kalte Wasser, lässt sich treiben und das Leben als solches auf sich zukommen, gerät frau schließlich in einen Strudel, einen Sog, der einen zwingt, diese Richtung – ohne Ausflüchte, ohne Umwege oder Abzweigungen – einzuschlagen und lässt einen nicht mehr los.

So wie Wasser zerrinnt auch die eigene Entscheidungsgewalt unter Andreas Händen, wenn sie zunächst orientierungslos zwischen Eigen- und Fremdbestimmung oszilliert und schließlich nicht mehr weiß, welche Entscheidungen die eigenen waren und welche die ihr auferlegten. Die eindeutige Uneindeutigkeit – auch hinsichtlich des offenen Endes – des Romans zwingt die Rezipientin selbst in die Position der Ich-Erzählerin: Die Grenzen zwischen imaginierten Szenarien und realer Lebenswirklichkeit, zwischen Fiktion und Realität verschwimmen, es herrscht Unklarheit und Ungewissheit über die Folgen und Konsequenzen der getroffenen Entscheidungen und so zeigt sich, dass Andreas Sehnsüchte und Wünsche, denen sie zu Anfang noch konsequent nachgegangen ist, doch nicht länger Bestand haben als Spuren im Sand. Einzig Andreas Hoffnung nach Veränderung, der Wunsch nach wahrer, umsetzbarer Selbstermächtigung und Freiheit bleibt bis zuletzt bestehen und versehnsüchtigt sich für sie in David Bowies Worten: „I, I wish I could swim. Like the dolphins. Like dolphins can swim.“

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Tanja Raich: Jesolo. Roman.
Blessing Verlag, München 2019.
221 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783896676443

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