Das Warten von Berta

In „Berta Isla“ erzählt Javier Marías von der Ehefrau eines Geheimagenten, für die das Leben ihres Mannes größtenteils für immer im Verborgenen bleiben wird

Von Jana FuchsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jana Fuchs

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit seinem neuen Roman Berta Isla, von Susanne Lange wunderbar ins Deutsche übersetzt, hat Javier Marías neben Mein Herz so weiß, So fängt das Schlimme an und Die sterblich Verliebten eine seiner besten Geschichten geschrieben. Und abermals sind es Themen der Existenzphilosophie, die den Text so einzigartig, so à la Marías machen. Standen in So fängt das Schlimme an die Fragen nach der Beziehung von Illusion und Wirklichkeit und der Perspektivität der Wahrheit im Zentrum, sind es in Berta Isla nun die Phänomenologie des Wartens und die Möglichkeit der Freiheit innerhalb einer vordeterminierten Existenz, die als die zentralen Motoren des Romans fungieren.

Marías erzählt die Geschichte von Tomás Nevinson und Berta Isla, einem Ehepaar, das sich bereits zu Schulzeiten kennen- und lieben gelernt hat. Tomás ist sowohl in Madrid als auch in England aufgewachsen, wohingegen Berta eine waschechte Madrileña ist. Vor ihrer Hochzeit verbringt Tomás als Student einige Zeit in Oxford; eine Zeit, die sich als schicksalsgebend für sein gesamtes weiteres Leben herausstellen wird.

Zunächst beginnt alles ganz harmlos: Sein Hispanistik-Professor Wheeler, den ein mit Maríasʼ Romanen vertrauter Leser bereits aus dessen Trilogie Dein Gesicht morgen kennt, will ihn aufgrund seiner Sprachbegabung und seines Talents, Dialekte zu imitieren, für den britischen Geheimdienst rekrutieren. Zunächst lehnt Tomás ab, doch als er im Verdacht steht, seine Oxforder Geliebte ermordet zu haben, und eine Arbeit für den Secret Intelligence Service vermeintlich das Einzige ist, das ihn vor einer Verhaftung retten kann, sieht er sich gezwungen, in das Angebot Wheelers einzuwilligen. Von nun an arbeitet er für den Secret Service, zunächst jedoch ohne dass seine Frau Berta davon erfährt. Doch schon zu Beginn des Romans ist klar, dass sie etwas ahnt: „Es gab eine Zeit, da war sie sich nicht sicher, ob ihr Mann ihr Mann war, wie man auch im Dämmerschlaf nicht weiß, ob man denkt oder träumt, ob man seinen Geist noch lenkt oder die Erschöpfung ihn in die Irre führt.“ Als ein zunächst sehr sympathisches Paar mit Nachnamen Kindelán jedoch das Baby, das sie und Tomás mittlerweile haben, mit Feuerzeug und Benzin bedroht, um genauere Informationen über Tomás zu erlangen, muss er sie in seine Tätigkeit einweihen, ohne ihr Genaueres mitteilen zu dürfen.

Als Tomás eines Tages erneut seine Familie verlassen muss, um aller Voraussicht nach den britischen Geheimdienst im Falklandkrieg zu unterstützen, wird Berta endgültig zur modernen Penelope. Jahrelang wartet sie auf Tomás, ohne auch nur eine Nachricht von ihm zu erhalten. Als man ihr mitteilt, dass sie nun offiziell Witwe sei, auch wenn man den Leichnam ihres Mannes nicht gefunden habe, muss sie sich entscheiden: Entweder sie wartet auf ihren zum Phantasma gewordenen Mann, oder sie versucht, ohne ihn weiterzuleben, so als hätte man seine Leiche in den Tiefen des Ozeans oder an einem anderen Ort dieser Welt gefunden. So oder so – Bertas Nachname ist Programm geworden: Sie treibt als einsame Insel im Meer, ohne zu wissen, ob der Schiffbrüchige Tomás eines Tages lebendig an ihr Ufer klettern wird, oder sein Leichnam auf den Grund der Tiefe gesunken ist, nachdem sein aufgedunsener Körper von den Wellen hin und her geschaukelt wurde.

Anhand der Figur der wartenden Berta und Tomás, dem „Gefangenen ohne Fluchtmöglichkeit“, lotet Marías den Zustand des Wartens als auch die Frage aus, welche Freiheiten und welches Selbstverständnis ein Mensch in einem Leben haben kann, dessen Zukunft festgeschrieben, dessen Schicksal besiegelt ist. Wie kann es gelingen, während des Wartens über Jahre hinweg weiter am Leben teilzunehmen, seine Kinder zu erziehen und seinem Alltag nachzugehen, ohne sein ganzes Sein der Erwartung des Ersehnten unterzuordnen? Wie gelingt es uns, den richtigen Zeitpunkt ausfindig zu machen, ab dem das Warten keinen Sinn mehr ergibt? Wie erhalten wir uns die Hoffnung, auch wenn alles darauf hindeutet, dass es keinen rational erklärbaren Grund für diese mehr gibt? Schließen sich Determinismus und Willensfreiheit im Fall von Tomás aus? Ist die freie Gestaltung des eigenen Lebens generell als Illusion abzutun, weil wir feste Bindeglieder einer kausalen Kette sind, oder ist auch innerhalb eines weitgehend vorbestimmten Lebens die Freiheit des Willens und somit auch die Verantwortlichkeit für das eigene Handeln möglich? Und was wäre, wenn das zur Realität Geronnene sich auflösen und wieder bis vor den einen Moment, der alles veränderte, zurückfließen würde? Hätte Tomás vielleicht doch die Wahl gehabt, das Angebot Wheelers abzulehnen und somit verhindern können, als „Ausgestoßener des Universums“ ein Leben voller Masken und im Schatten zu führen, so wie er es schon vor seiner Einwilligung ahnte? „Ich werde ein anderer, werde fiktiv sein, ein Gespenst, das kommt und geht, mal fern, mal nah. Und ich werde geschehen, wie Tupra sagt, werde Meer, Schnee, Wind.“  

Immer, wenn er einen Roman beendet hat, so Marías, sei er überzeugt, dass er nicht erneut eine Welt und neue Figuren erfinden kann. Wir können froh sein, dass sich Marías wieder an seine weiße Schreibmaschine vor seiner riesigen Bücherwand gesetzt und den Roman Berta Isla geschrieben hat. Denn wenn er es nicht getan hätte, müssten wir auf diese großartige Lektüre verzichten, deren einzige Schwachstelle das kurzweilige Abdriften in einen argumentativen Diskurs über die Moral der Spionage anhand Shakespeares Heinrich V. ist, wodurch der Sog des Textes vorübergehend gehemmt wird. Doch als Marías Tomás anschließend in den Falklandkrieg oder in eine andere Region der Erde schickt (der Leser kann hierüber nur Vermutungen anstellen), haben wir ihm dies längst verziehen und hoffen mit Berta, dass Tomás nicht gestorben, sondern als Ausgestoßener des Universums immer noch unter den Lebenden ist.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Javier Marías: Berta Isla. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2019.
654 Seiten, 26,80 EUR.
ISBN-13: 9783103973969

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