Zehnmal verliebt, immer auf der Suche

Hiromi Kawakami erzählt von den „zehn Lieben des Nishino“

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Reiko ist etwas älter als er, Tama zehn Jahre jünger, Eriko ist älter, Sayuri sogar viel älter, Ai dagegen 30 Jahre jünger – das Alter spielt für Nishino nie eine Rolle. Überhaupt weiß man nicht, was eine Rolle für ihn spielt, wenn er sich verliebt. Und er verliebt sich oft. Zehn Geliebte hat er in seinem kurzen Leben, mit Mitte 50 stirbt er bereits. Jetzt wird sein Liebesleben erzählt, aber nicht von ihm, nicht von einem übergeordneten Erzähler, sondern von seinen zehn Verflossenen. Nach und nach und fast zaghaft langsam setzt sich aus zehn Perspektiven ein Bild eines Mannes zusammen, der flieht, vor sich selbst, vor dem Erwachsenwerden, vor der Gesellschaft und vor allem vor einer Bindung. Er steht fest im Berufsleben, ist wohlhabend und „ein verspielter Charmeur“. Geliebt haben sie ihn deswegen alle zehn Frauen, von der zwanzigjährigen Ai bis zu älteren Sayuri, einer Frau „in der Blüte ihres Lebens“. Immer wieder sagt eine von ihnen: „Wir waren besorgt. Entrückt. Verzweifelt. Wir waren leicht. Drauf und dran, einander zu lieben.“ Aber geklappt hat es eigentlich nie so richtig. Nach ein paar Monaten oder Wochen, ganz selten nach wenigen Jahren ist er wieder weg. Das ist so deutlich, dass sich Manami lieber schon vorher von ihm trennt.

Hiromi Kawakami ist mit ihrem schwebenden, melancholischen Roman Der Himmel ist blau, die Erde ist weiß berühmt geworden, einer Liebesgeschichte zwischen einer Studentin und ihrem ehemaligen Japanischlehrer, die sich in einer Bar treffen. Ebenso schwebend und melancholisch ist dieses Mosaik von Liebesbemühungen und verpasster Chancen. Verpasst vor allem für die Frauen, die doch mehr Zuverlässigkeit und Sicherheit wollen. Nur Nishino scheint nichts zu verpassen, für ihn scheint die Unverbindlichkeit genau das richtige zu sein. Eine schwermütige Trauer liegt über dem Buch, wenn es um Annäherung und Verlassen geht, um Flirten (was Nishino perfekt kann) und Sex, um Liebesleid und Liebesfreud.

In Kawakamis Erzählkunst zeigt sich die moderne Gesellschaft in diesem einen Menschen, eine Gesellschaft, in der sich die traditionellen Bindungen auflösen, in der Neues gesucht, aber noch nicht gefunden wird. Denn Liebe ist doch immer noch unser aller Ideal. Bei Kawakami aber heißt es immer wieder: „Ich liebe dich. Fast.“

Nicht alle Episoden sind scharf genug konturiert, der Strang, in dem Nishino das Ebenbild seiner verstorbenen Schwester sucht, ist ein wenig läppisch geraten, aber sehr lebendig und gelungen ist der Roman in den vielen passenden Metaphern wie der Liebesturm in Tokyo (im Original „Tsûtenkaku“, ein dem Eiffelturm als Symbol der Stadt der Liebe nachgebauter Aussichtsturm in Osaka), die lukullischen Episoden, die wie ein fernes Echo auf ihren Erstling wirken, die bedeutungsvollen Jahreszeiten und die vielen Vergänglichkeitsmotive, wenn sich die Liebenden auf einem Stück Treibholz am Strand zum Rendezvous treffen.

Gleichzeitig leichtfüßig und poetisch, melancholisch und heiter wahrt Kawakami mit ihrer eigenen, zugleich kargen und bildreichen Sprache Distanz zu ihren Figuren und kommt ihnen genau dadurch nahe. Ein schöner Roman über die Sucht nach ständigen Verliebtsein, die auch eine Projektion der eigenen Sehnsucht ist.

Titelbild

Hiromi Kawakami: Die zehn Lieben des Nishino. Roman.
Übersetzt aus dem Japanischen von Ursula Gräfe und Kimiko Nakayama-Ziegler.
Carl Hanser Verlag, München 2019.
192 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783446261693

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch