Selfies retten die Gesellschaft

Wolfgang Ullrich postuliert eine neue, sozial relevante Bildmündlichkeit

Von Christophe FrickerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christophe Fricker

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In Wolfgang Ullrichs gleichnamigem Buch geht es um Selfies in einem sehr strikten Sinn: Bilder, auf denen jemand sein Gesicht inszeniert. Also nicht das „Ich und das Taj Mahal“ aus dem Urlaub oder das „Ich und meine frisch aus dem Ofen geholten Muffins“ des propädeutisch aufgeladenen Alltags. Diese Beschränkung des Themas ist – gerade für ein so schlankes Buch – gut nachvollziehbar, aber man hätte sich ein kurzes Wort dazu gewünscht. Seine Kernthesen artikuliert Ullrich umso klarer: Selfies sind kein Ausdruck des Narzissmus, sondern Kommunikation. Selfies mit ihren verzerrten und stilisierten Gesichtsausdrücken sind nicht inauthentisch, sie drücken das Bedürfnis aus, gesellschaftlich im doppelten Sinne eine Rolle zu spielen. Und die Qualität von Selfies sollten wir nicht an den Selbstporträts der Kunstgeschichte messen, denn es sind keine Werke, sondern Momentaufnahmen, Bestandteile eines laufenden Prozesses, für den Ullrich den trefflichen Ausdruck „Bildmündlichkeit“ einführt.

Der Kunstwissenschaftler zitiert Beispiele aus der westlichen Kunstgeschichte, als Beleg dafür, wie schon Albrecht Dürer, Rembrandt und Gustave Courbet ihr Gesicht verzerrt dargestellt haben. Ullrich argumentiert, dass die ikonografischen Parallelen irreführend und irrelevant sind, da hinter den angeführten Bildern ganz andere Kommunikationsabsichten standen. Er beschäftigt sich schließlich vor allem mit jenen inszenierten und abgebildeten Gesichtsausdrücken, die zu Emojis kodifiziert werden. Er erkennt darin „Bildwendungen“, so wie es Redewendungen gibt, ikonografisch/lexikalisch stabile Fügungen mit abgrenzbarem semantischem Hof, deren Konnotationen wandelbar, also gesellschaftsfähig sind.

Die Hypothese leuchtet ein, und sie ist angesichts der Verbreitung von Selfies auch von einer gewissen Tragweite. Wichtig ist nun, sie weiterzuführen: Wenn Selfies Teil von Kommunikationsprozessen sind und oft auch mit Selfies beantwortet werden, ist zu beleuchten, welchen Stellenwert sie in diesen Prozessen haben und welche Funktion andere Elemente wie Vorverständigung, Wörter, Narrative oder die Verschränkung von Ferne und Nähe haben. Ullrichs Verdienst ist es, diese Fragen aufgeworfen zu haben.

Das handliche Buch lohnt also die Lektüre. Man sollte sich nicht von der Webseite der Buchreihe abschrecken lassen, die mit ihren Textwüsten, dem schwerfälligen Glossar (!) und den wenigen Bildern sehr viel altbackener wirkt als das Buch selbst.

Titelbild

Wolfgang Ullrich: Selfies. Digitale Bildkulturen.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2019.
80 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-13: 9783803136831

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