Der Traum ist aus
Versammeltes von Durs Grünbein
Von Walter Delabar
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseVon einem Band, der Verstreutes und Gelegentliches vorstellt, ist wenig Konsistentes zu erwarten, auch wenn er vom wohl prominentesten deutschsprachigen Lyriker der vergangenen 30 Jahre stammt. Durs Grünbein hat in Aus der Traum (Kartei) Aufsätze, Essays, Nachworte, Besprechungen, Erinnerungen und Notizen, gelegentlich sogar etwas Lyrik drucken lassen. Gut 550 Seiten sind auf diese Weise zusammengekommen. Die Texte stammen, soweit erkennbar, aus verschiedenen Arbeitsphasen Grünbeins. Datierungen bleiben allerdings ein wenig dem Spürsinn der Leser überlassen, weil Drucknachweise und bibliografische Angaben getilgt sind und Hinweise auf den Entstehenszeitpunkt fehlen. Was im Folgenden datiert wird, ist aus dem Kontext erschlossen.
Dieses Fehlen jeglicher weiterer Informationen zu den Texten ist offensichtlich dem Bewusstsein des Autors (und seines Verlags) geschuldet, dass wir es hier nicht mit irgendwem zu tun haben. Auch die kurze biografische Notiz lebt vom Status der Bedeutsamkeit: „Durs Grünbein, geboren 1962 in Dresden, Dichter, lebt in Berlin und Rom.“ Und damit auch der Letzte Grünbeins Rang als Schriftsteller wahrnimmt, folgt eine Auswahl der Preise und Auszeichnungen, die auf das Haupt des Dichters niedergegangen sind. Aus dem Tal der Ahnungslosen in die Zentren der modernen und antiken Welt: Berlin und Rom – und auf den Gipfel der deutschsprachigen Literatur! Wenn das mal nichts ist.
Man sehe dem Verfasser dieser Zeilen den Spott nach: Wer dem Begriff des Dichters ebenso skeptisch gegenübersteht wie dem Hang zum Klassischen, dem ist mit Bedeutsamkeit nicht zu dienen. Nun ist der Hang zum Klassischen bei Grünbein unübersehbar und – bei aller Wertschätzung – wohl auch für die stilistische Behäbigkeit verantwortlich, die den späteren Grünbein im Vergleich zum jüngeren deutlich belastet (was angesichts der fehlenden zeitlichen Fixierungen der hier vorgelegten Texte sehr unabgesichert vorgetragen wird). Zugleich tut das der Bedeutung Grünbeins und der Wertschätzung, die ihm aufgrund seiner Arbeiten und seiner kulturpolitischen Positionierung gebührt, keinen Abbruch. Wer so hoch hinaus will, muss auch ein paar Federn lassen. So können zugleich die gelungenen Texte umso mehr herausstechen und strahlen. Von ihnen gibt es viele in diesem Band, der einen weiten Bogen von Dresden über Heinrich von Kleist, Ernst Jünger, Ezra Pound bis zu Pier Paolo Pasolini und bis zu den Diskussionen im neuen Deutschland über Identität, Überfremdung und das Ende der offenen Gesellschaft schlägt.
Der wohl beeindruckendste Text dieses Bandes ist über Ezra Pound, der gerade in der jüngeren Zeit wieder umstrittener ist denn je. Aktueller Hintergrund für das Interesse ist ein Zitat Pounds, das der Architekt des Baubereichs um den Berliner Walter-Benjamin-Platz, Walter Kollhoff, auf einer Bodenplatte hat anbringen lassen. Dieses Zitat prangert auf den ersten Blick den verhängnisvollen Einfluss der Spekulation auf die Architektur an. Es lautet sinngemäß: Wo das Geld regiert, kommt die Kunst wohl zu kurz. Das Problem besteht allerdings darin, dass in der Begriffswahl („usura“ wird mit „Zins, Wucher“ übersetzt) leider ein antisemitischer Grundton enthalten ist, was bei Pound, der ein offener Antisemit und ein großer Bewunderer Benito Mussolinis war, niemanden überraschen kann – auch nicht den Architekten, der sich über die Auszeichnung des Platzes als „rechter Raum“ überrascht gezeigt haben soll. Aber ab einer bestimmten Preisklasse zählt Naivität nicht mehr, und auf den Zins einzuschlagen, wenn es um große Bauprojekte geht, sollte sich der ausführende Architekt gut überlegen. Und Kritik am Kapitalismus mit einem antisemitisch hinterlegten Zitat zu formulieren, das den Zins attackiert, sollte sich auch ein Sozialist gut überlegen. Zumal auch Sozialisten bekannt sein sollte, dass große Projekte finanziert werden müssen und das dafür eben ein Engelt fällig ist, eben der Zins.
Anders als Kollhoff hat Grünbein nun in seiner „Causa Pound“ alles von oben nach unten gedreht, dessen er in Sachen Pound hat habhaft werden können. Heraus kommt ein Bild, das widersprüchlich und kompliziert ist, aber alles andere als naiv. Grünbeins Interesse kommt dabei nicht von ungefähr, ist Pound doch einer der Autoren, deren Sound Grünbein früh erlegen ist. Der Umstand, dass Pound Ende der 1970er Jahre, als der junge DDR-Lyriker ihn entdeckte, in den Giftschrank der modernen Poesie verbannt war, spielt wohl ebenfalls keine unwichtige Rolle. Verbotene Werke haben einen hohen Reiz.
Dass es um richtiges und falsches Handeln gehen könnte, war Grünbein bereits von Anfang an klar, und dass Pound die falsche Wahl getroffen hatte, ebenfalls. Das fatale politische Bekenntnis hat der Größe seines Werkes immer wieder Abbruch getan; dennoch bleibt eine gewisse Faszination, die zugleich Anlass dazu gibt, mit dem, was man da liest, sehr bewusst umzugehen.
Mit dem Pound-Text lassen sich nicht nur Beziehungen zur aktuellen Berichterstattung herstellen, die sich eigentümlich in der Zeit zu sammeln scheint, etwa im Bericht über einen gemeinsamen Besuch der Zeit und des Ehepaars Grünbein/Sichelschmidt auf dem Walter-Benjamin-Platz oder über die „radikale Idylle“ in Dresden oder in einem Essay, der wie selbstverständlich behauptet, dass in der Stadt beschlossen werde, was das Land ausbaden müsse (beispielsweise wenn es um Wölfe oder Windparks geht).
Der Band scheint zahlreichen Textverweisen durchzogen zu sein: Die beiden Hauptankerpunkte sind dabei sicherlich die Erinnerungen Grünbeins an die Wende und seine Notizen zur Diskussion mit Uwe Tellkamp im März 2018. Erinnerungen also an jene Jahre, in denen er als Teil einer nonkonformen Minderheit der Willkür eines Obrigkeitsstaates unterworfen war, und an seine Rolle in jüngeren Diskussionen, in denen er sich als Verteidiger einer offenen Gesellschaft positioniert, die zwar konservative Positionen aushalten muss, aber dennoch den Anspruch der Rechten, „das“ Volk zu sein, abweist. Dass die Neue Rechte die Parolen der Wende abkupfert, bedeutet nicht, dass sie das zu Recht tut oder auch nur das Recht dazu hätte. Grünbein, der sicher nicht zu den Verlierern der Wende gehört, fehlt allerdings das Verständnis dafür, dass ein Volk, das über Jahrzehnte in einer Diktatur gelebt hat, sich anscheinend wieder obrigkeitsstaatliche Verhältnisse zurückwünscht. Liegt es an der Angst davor, erwachsen zu werden und zu leben, das heißt mit unsicheren Verhältnissen? Mit einer gesellschaftlichen Dynamik, die immer wieder Anforderungen stellt, die kaum zu erfüllen sind, ja, auch überfordern mögen? Und dabei zu akzeptieren, dass nicht alles so geschieht und entschieden wird, wie man es selbst entschieden oder umgesetzt hätte? Und dass man nicht immer versteht, wie das, was passiert, zustande gekommen ist? Kontingenztoleranz hat das vor langen Jahren ein Berliner Soziologe genannt.
Aber dies ist nur in der politischen Auseinandersetzung zu klären, nicht durch den exklusiven Anspruch der Bürgerrechtsbewegung von 1989. Grünbeins Erinnerungen sondieren dieses Feld mithin und versuchen an die Stelle des Bestimmungsanspruches der Neuen Rechten (mit Verweis auf eine dominante Mehrheitskultur, die Ideologeme von rechts abweise, ja mehr noch, unterdrücke), ein offenes Gespräch zu initiieren, in dem nicht Denkverbote, sondern Vernunft und Toleranz das Rahmenwerk abgeben. Grünbeins Diskussion mit Tellkamp zeugt davon ebenso wie seine literarische Arbeit, und daraus erklärt sich auch, dass Grünbein sich gegen die Reklamierung des Walter-Benjamin-Platzes als rechten Raum wendet, Kollhoffs Missgriff hin oder her.
Der Band hat schließlich auch vieles zu bieten, was sich durch dieses thematische Netz nicht fassen lässt. Dass Grünbein Jüngers Auf den Marmorklippen nicht schätzt, lässt sich nachvollziehen. Die Traumnotate gliedern sich ein in die vielleicht randständige Textgruppe, in denen Träume literarisiert werden. Für die Bemerkungen zur Dichtung kann man Grünbein nur dankbar sein, suspendiert er doch nebenbei beinahe alle Versuche, eine gesellschaftliche Relevanz von Dichtung von der Lyrik abzuleiten (Sprachverständnis, soziale Sensibilität, Zugriff auf kulturelle Essenz). Stattdessen bleibt eine radikale Selbstbezüglichkeit und Selbsterforschung, deren Medium nur die eigene Sprache, der eigene Sprachgebrauch ist. Ansonsten finden sich Studien oder Besprechungen zu Pasolini, Imre Kertész, Gottfried Benn, zu T. S. Eliot (dessen Waste Land von Pound radikal zusammengestrichen worden ist), Kleist, ja sogar zu Wolf Biermann. Auffallend ist vielleicht, dass es neben Biermann nur noch Johannes Bobrowski ist, der von den DDR-Lyrikern oder anderen deutschsprachigen Kolleg/innen seine Aufmerksamkeit erregt hat. Grünbein ist offensichtlich an den Großen der internationalen Literatur interessiert und hat sich zum Glück von seiner Herkunft nicht lösen wollen.
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