Vom Kunstmaler zum poetischen Realisten

Zum 200. Geburtstag von Gottfried Keller

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Schweizer Gottfried Keller gilt heute neben Theodor Storm, Theodor Fontane und Wilhelm Raabe als der wichtigste Repräsentant des deutschsprachigen Realismus. Sein literarisches Schaffen – angesiedelt zwischen Klassik und Vormoderne – war eine ständige Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit seines Landes. Mit meist heimatlichen Stoffen reflektierte er immer wieder zeitgeschichtliche Ereignisse. In Deutschland wurde der Schriftsteller des „Schweizer Bürgertums“ allerdings erst verspätet bekannt, rückte dann aber in die erste Reihe der Autoren des 19. Jahrhunderts vor: Die „Durchdringung des Erzählerischen und des Dichterischen – der wesentliche Zuwachs, den dem Deutschen die nachromantische Epoche gebracht hat – ist in Kellers beschreibender Prosa am vollsten verwirklicht“ (Walter Benjamin).

Gottfried Keller wurde am 19. Juli 1819 in Zürich als zweites von sechs Kindern geboren. Der Vater war selbständiger Drechslermeister; er starb jedoch an einer plötzlichen Lungenerkrankung, als der Knabe gerade fünf Jahre alt war. Weil die Mutter den väterlichen Betrieb nicht allein weiterführen konnte, heiratete sie nach zwei Jahren wieder – sie ging eine Zweckehe mit dem ersten Gesellen der Werkstatt ein. Von Anfang an eine unglückliche Verbindung, die 1834 nach siebenjährigem Gerichtsverfahren wieder geschieden wurde. Für den jungen Gottfried waren es konfliktreiche Jahre mit seinem Stiefvater. Später hat Keller darin die Wurzeln seiner planlosen und vertanen Jugend gesehen.

Zwischen 1825 und 1831 besuchte der meist sich selbst überlassene Junge die Armenschule und wurde 1831 in das sogenannte Landesknabeninstitut aufgenommen, 1833 schließlich in die neue kantonale Industrieschule. Ein Jahr später jedoch wurde er wegen eines mutmaßlichen Schülerstreichs von der Schule gewiesen. Diese erlittene Ungerechtigkeit nannte Keller im Grünen Heinrich später „Enthauptung“ eines Kindes. Die Schuldzuweisungen wegen der Schulverfehlung und dem Scheitern der zweiten Ehe hat das Mutter-Sohn-Verhältnis über viele Jahre belastet. Nach dem schulischen Versagen schickte ihn die Mutter zu Verwandten nach Glattfelden, wo er eine Lehre bei einem Lithographen, Kupferstecher und Drucker begann. Hier wurde Keller aber lediglich zum verkaufsfördernden Kopieren und Kolorieren angeleitet, sodass ihm schnell Zweifel an seiner Berufswahl kamen. Im Sommer 1837 lernte er den Zeichner und Aquarellisten Rudolf Meyer kennen, dessen Schüler der unstete Keller für einige Monate wurde.

Im April 1840 ging der inzwischen 21-Jährige nach München, um in der kunstsinnigen Residenzstadt eine erste richtige Ausbildung als Maler in Angriff zu nehmen – ein kleiner Vorbezug aus dem großmütterlichen Erbe ermöglichte das Unterfangen. Aber der Aufenthalt in München stand unter keinem guten Stern. Bald drückten die Schulden und schließlich wurde Keller die Wohnung gekündigt. Ohne Abschluss, völlig mittellos kehrte er 1842 nach Zürich zurück. In seiner Trostlosigkeit versuchte er zunächst weiterhin, durch den Verkauf von Bildern zu Geld zu kommen, doch allmählich vollzog sich eine Wende zur Schriftstellerei. Bisher hatte er lediglich einige Gedichte geschrieben, doch das Scheitern als Kunstmaler machte einen neuen Broterwerb notwendig. So entstanden erste Ideen für einen Roman über einen tragischen Abbruch einer jungen Künstlerlaufbahn (Der grüne Heinrich). Abgesehen von kurzen Notizen, die er machte, verfolgte er diesen Plan aber nicht ernsthaft. Vielmehr betätigte sich Keller politisch, verfasste politische Tageslyrik im Geist des Vormärz. 1844 und 1845 beteiligte er sich an den radikal-liberalen Freischarenzügen gegen die konservative Regierung in Luzern. Schließlich ein erster Publikationserfolg: In den beiden Jahrgängen 1845 und 1846 des Deutschen Taschenbuchs eines Exilverlages erschienen unter dem Titel Lieder eines Autodidakten zahlreiche Gedichte – vor allem Naturlyrik und ausgewählte Sonette. Mit der eigenständigen Publikation Gedichte (1846) in der Akademischen Verlagshandlung C.F. Winter (Heidelberg) war Keller sogar zum beachteten Lyriker aufgestiegen.

Das Jahr 1848 sollte die ausschlaggebende Wende zur Schriftstellerei bringen. Die Zürcher Regierung verlieh Keller ein Stipendium für ein Studium in Heidelberg. In den knapp zwei Jahren konnte er hier zumindest einen Teil der Bildung nachholen, der ihm in der Jugend versagt geblieben war; unter anderem besuchte er Vorlesungen zur Anthropologie, Literaturgeschichte, Ästhetik sowie außerhalb des Universitätsbetriebs Vorträge von Ludwig Feuerbach zu rechtsphilosophischen Themen. Daneben entstanden einige Rezensionen zu Jeremias Gotthelf sowie neue Gedichte, die zusammen mit den früheren 1851 als Neuere Gedichte im Braunschweiger Vieweg Verlag erschienen. Die Arbeit am Grünen Heinrich machte ebenfalls Fortschritte.

Ein weiteres Stipendium des Kantons Zürich ermöglichte Keller 1850 für weitere fünf Jahre nach Berlin zu gehen. Die Berliner Jahre sollten Kellers produktivste Schaffensperiode werden. Neben dem Grünen Heinrich entstanden der erste Band der Leute von Seldwyla und andere literarische Projekte, die er Jahre später weiterführte und vollendete. Obwohl Keller mit seinem zweiten Gedichtband Neuere Gedichte (1851) noch einmal einen lyrischen Erfolg hatte, wurde er in Berlin zum Roman- und Novellenautor. Als Lyriker ist Keller heute nur noch Literaturexperten bekannt, dabei waren seine Gedichte thematisch vielfältig: Keller schrieb nicht nur Natur-, Stimmungs- und Liebeslyrik, sondern äußerte auch Zeitkritik in seinen lyrischen Texten. Eine der wenigen Ausnahmen, die heute noch in Anthologien vertreten sind, ist das Gedicht Winternacht, das bereits um 1846/47 entstand:

Nicht ein Flügelschlag ging durch die Welt,
Still und blendend lag der weiße Schnee.
Nicht ein Wölklein hing am Sternenzelt,
Keine Welle schlug im starren See.

Keller, der in Berlin weiter seine lückenhafte Bildung vervollständigte und ein eifriger Theaterbesucher war, versuchte sich auch mehrfach an dramatischen Arbeiten. Er fühlte sich regelrecht zum Dramatiker berufen. Eine Fehleinschätzung, denn das Drama war die einzige literarische Gattung, an der er komplett scheiterte. Von den sich in seinem Nachlass gefundenen 40 dramatischen Projekten hatte er nicht ein Stück vollendet.

Bereits 1849 hatte Keller die erste zusammenhängende Niederschrift seines Romanprojektes Der grüne Heinrich vorgenommen und Kontakt mit dem Vieweg Verlag in Braunschweig aufgenommen. Der zähflüssige Schreibprozess in Berlin erstreckte sich allerdings über viele Jahre, teilweise arbeitete Keller mit Widerwillen. Dazu gab es immer wieder Ablenkungen durch andere Projekte. Obwohl Keller von Eduard Vieweg (1797–1869) wiederholt Vorschüsse erhalten hatte und mehrfach gemahnt wurde, verpasste er ständig Abgabetermine. Schließlich lieferte er den Text in einzelnen Teilen ab. Im Juli 1851 waren schließlich Band 1, im Dezember 1852 Band 2 und im Oktober 1853 Band 3 fertig. Auf Drängen des Verlegers wurden diese Bände veröffentlicht, obwohl der ganze Roman noch nicht fertig war. Keller sah sich zu einem Vorwort veranlasst, in dem er selbstkritisch von einer „gewissen Unförmlichkeit“ des Romans sprach. Band 4 konnte endlich 1855 in Druck gehen. Damit umfasste das Werk ein Vielfaches des ursprünglich geplanten Umfangs. Keller erzählt in seinem Bildungsroman die stark autobiografisch geprägte Lebensgeschichte des jungen Heinrich Lee, der wegen seiner uniformgrünen Jacken und Röcklein „grüner Heinrich“ genannt wird. Kindheitserinnerungen, Wahrheit und Dichtung flossen ineinander. Ein einsamer junger Mann verlässt seine Schweizer Vaterstadt; er bricht auf, um in der Großstadt Maler zu werden. Ein Aufbruch in eine bisher unbekannte und vielfältige Bürgerwelt:

Unter einer offenen Halle dieses Waldes ging am frühsten Ostermorgen ein junger Mensch; er trug ein grünes Röcklein mit übergeschlagenem schneeweißen Hemde, braunes dichtwallendes Haar und darauf eine schwarze Samtmütze, in deren Falten ein feines weiß und blaues Federchen von einem Nußhäher steckte. Diese Dinge, nebst Ort und Tageszeit, kündigten den zwanzigjährigen Gefühlsmenschen an. Es war Heinrich Lee, der heute von der bisher nie verlassenen Heimat scheiden und in die Fremde nach Deutschland ziehen wollte; hier herausgekommen, um den letzten Blick über sein schönes Heimatland zu werfen, beging er zugleich den Akt eines Naturkultus, wie es häufig bei hoffnungsreichen und enthusiastischen Jünglingen geschieht.

Das Ziel des Protagonisten ist ungewiss. Nachdem sich der erhoffte Erfolg nicht eingestellt hat und er keinen geeigneten Platz in der Gesellschaft gefunden hat, kehrt der grüne Heinrich schließlich als gescheiterte Existenz in sein Dorf zurück. Am Ende stirbt er „in selbstquälerischer Reue über die Vernachlässigung seiner Mutter“ (Fritz Martini). Die von Keller angesprochene „Unförmlichkeit“ bezog sich dabei auf die Ich-Form der Kindheits- und Jugendgeschichte, während der eigentliche Roman in der dritten Person erzählt wird.

Der grüne Heinrich steht in einer Reihe mit den berühmten deutschsprachigen Entwicklungsromanen Anton Reiser (Karl Philipp Moritz), Wilhelm Meister (Johann Wolfgang von Goethe) und Nachsommer (Adalbert Stifter), wobei er die soziale und gesellschaftliche Realität genauer darstellt. Die Leser in der Mitte des 19. Jahrhunderts honorierten das jedoch nicht, und so waren nach über 20 Jahren von Kellers Roman lediglich 900 der 1.000 gedruckten Exemplare der Erstauflage verkauft worden. Kurzentschlossen kaufte Keller 1879 die verbliebenen Restexemplare von Vieweg zurück, um im folgenden strengen Winter damit seine Dichterstube zu heizen.

Keller, der bereits während der Niederschrift in den 1850er Jahren an eine Neufassung des Grünen Heinrich gedacht hatte, distanzierte sich jetzt geradezu heftig von seiner ersten Fassung und unterwarf den Roman einer grundlegenden Umarbeitung. („Die Hand möge verdorren, welche je die alte Fassung wieder zum Abdruck bringt.“) Die Jugendepisode in der dritten Person wurde ebenfalls zur Ich-Erzählung und der „zypressendunkle Schluss“ der ersten Fassung wurde gemildert: Heinrich stirbt nicht, sondern nimmt ein Amt im Staatsdienst an und findet in der verführerischen Witwe Judith eine treue Begleiterin. Heinrichs individuelle Tragik wird durch die Arbeit für das Gemeinwohl ersetzt. Aber nicht nur Anfang und Schluss des Romans erfuhren gravierende Veränderungen; Keller nahm auch Streichungen und Entschärfungen von polemischen Stellen gegen Staat und Kirche vor. Die beiden Fassungen zeigen nicht nur Kellers gereifte Einsichten, sondern auch die Emanzipation des Individuums sowie das gestiegene Bewusstsein des Bürgertums. Mit der neuen Fassung hatte Keller zwar neue Akzente gesetzt, die Handlung und Figurenkonstellation aber im Wesentlichen beibehalten. Zum Glück sind Verlegern bis heute die Hände nicht „verdorrt“, die immer wieder die „Urfassung“ des Grünen Heinrich in ihr Verlagsprogramm aufgenommen haben. Damit hat der interessierte Leser die seltene Gelegenheit, ein literarisches Werk in zwei Fassungen kennenzulernen und außerdem den Wandel in Kellers Schaffen zu verfolgen. Unter www.gottfriedkeller.ch werden sogar beide Fassungen als Paralleltext angeboten.

Doch zurück zu Kellers Jahren in Berlin, wo neben der mühevollen Arbeit am Grünen Heinrich der erste Teil des Novellenzyklus Die Leute von Seldwyla entstand. Diese „kleinen und lustigen Arbeiten“, wie sie Keller selbst charakterisierte, erschienen ebenfalls im Vieweg Verlag. Keller erzählt aus dem Leben der Bürger von Seldwyla, einer fiktiven Kleinstadt mit bäuerlich-bürgerlichen Milieu. In der Vorrede erläutert er den Ortsnamen („wonniger und sonniger Ort“), die Umgebung und die Eigenart dieser Bürger. Seldwyla ist ein Ort des Müßiggangs und der liebenswerten Sonderlinge. Die meisten „Lebensbilder“ spielen in der Gegenwart, andere sind humoristische Märchen, die sich mitunter ins Groteske steigern. Einzige Ausnahme ist die an William Shakespeares Tragödie angelehnte Novelle Romeo und Julia auf dem Dorfe, die auf einer tatsächlichen Begebenheit, dem Freitod eines jungen Liebespaares, beruhte.

Diese Geschichte zu erzählen würde eine müßige Nachahmung sein, wenn sie nicht auf einem wirklichen Vorfall beruhte, zum Beweise, wie tief im Menschenleben jede jener Fabeln wurzelt, auf welche die großen alten Werke gebaut sind. Die Zahl solcher Fabeln ist mäßig; aber stets treten sie in neuem Gewande wieder in die Erscheinung und zwingen alsdann die Hand, sie festzuhalten.

Im Mittelpunkt der Ereignisse stehen die beiden wohlhabenden Bauernfamilien Manz und Marti, die über einen Acker derart in Streit und unversöhnliche Feindschaft geraten, bis sie beide verarmen und ihre Kinder Sali und Vrenchen für ihre junge Liebe keine Zukunft mehr sehen. Romeo und Julia auf dem Dorfe war zu seinen Lebzeiten die bekannteste Dichtung Kellers, obwohl er selbst von der „verhängnisvollen Dorfgeschichte“ nicht überzeugt war und sie beinahe nicht mit in den Novellenzyklus aufgenommen hatte. Mit den heiteren und tragischen Episoden zeichnete Keller in einer Mischung von Wirklichkeit und Symbolik ein facettenreiches Bild des Kleinbürgertums seiner Zeit, wobei er nicht mit Kritik über das Besitzstreben und die politische Uninteressiertheit sparte. Bereits Jeremias Gotthelf (1797–1854), Karl Immermann (1796–1840) und Berthold Auerbach (1812–1882) hatten die bodenständige „Heimatdichtung“ als literarisches Genre gepflegt, ganz im Gegensatz zu der fantasievollen Novellistik der Romantik. In Die Leute von Seldwyla – besonders in den Geschichten Pankraz dem Schmoller, Die drei gerechten Kammacher und Spiegel das Kätzchen –, versuchte Keller, beide Erzählstile zu vereinen.

Die Berliner Jahre stellten für Keller eine Zeit der Selbstfindung dar. Neben Der grüne Heinrich und Die Leute von Seldwyla hatte er hier den weitaus überwiegenden Teil seines Spätwerkes bereits in unterschiedlicher Ausführlichkeit gedanklich vorgefasst. Dennoch rüstete sich Keller Ende 1855 zur Heimkehr nach Zürich. Zuvor waren jedoch in Berlin seine angehäuften Schulden von rund 1.000 Gulden zu begleichen. Mit dem Geld aus dem Verkauf des väterlichen Hauses löste ihn die Mutter schließlich aus seinen Schuldverpflichtungen.

Inzwischen war Keller 36 Jahre alt und ein durchaus respektabler Autor. Die großen Hoffnungen, die er an seine Rückkehr knüpfte, sollten sich jedoch nicht erfüllen, vielmehr gestalteten sich die folgenden Jahre recht erfolglos und wenig glücklich. Er lebte zwar als freier Schriftsteller, obwohl er über einen längeren Zeitraum kaum eine Zeile aufs Papier brachte. Da Honorare ausblieben, war er finanziell jedoch weiterhin von Mutter und Schwester abhängig, bei denen er wohnte. Allerdings ergaben sich für den Heimgekehrten in Zürich neue Kontakte und Bekanntschaften, unter anderem mit dem Literaturhistoriker Theodor Vischer (1807–1887), dem Architekten Gottfried Semper (1803–1879), dem Kulturhistoriker Jacob Burckhardt (1818–1897) sowie dem Komponisten Richard Wagner (1813–1883), der von 1849 bis 1859 im Zürcher Exil lebte.

Die ernsthafte literarische Produktion setzte erst wieder 1860 ein; zunächst mit publizistischen Texten oder dem Essay Am Mythenstein (1861) zum Schiller-Jubiläum, den Keller als Diskussionsbeitrag zur Problematik des Schweizer Nationaltheaters leistete. Eine Fortsetzung der Leute von Seldwyla nahm er ebenfalls in Angriff, doch damit konnte er nicht seinen Lebensunterhalt verdienen. Durch die Vermittlung erhielt Keller im September 1861 die angesehene und gutdotierte Stelle des Ersten Staatsschreibers des Kantons Zürich. Nach dem Amtsantritt konnte er mit Mutter und Schwester die Amtswohnung in der Staatskanzlei beziehen. Das Amt forderte seine volle Arbeitskraft, schließlich hatte er die Oberleitung der Staatskanzlei inne. Gewissenhaft führte er über Jahre hinweg die Dienstgeschäfte. 1864 verstarb die Mutter, aber seine Schwester Regula führte von nun an allein den Haushalt.

Die zahlreichen Ehrungen (u.a. Ehrendoktorwürde der Universität Zürich) zu seinem 50. Geburtstag machten Keller den eigenen dichterischen Stillstand schmerzlich bewusst. In dem knappen Jahrzehnt zuvor war einzig die Literatursatire Die mißbrauchten Liebesbriefe (1865) erschienen, wobei er das Manuskript bereits fünf Jahre zuvor an seinen Verleger Vieweg geschickt hatte. Nun aber nahm Keller die literarische Produktion wieder auf und mit neuer Schaffenslaune widmete er sich vorrangig den Projekten, die bereits in der Schublade oder als Ideen auf Weiterführung, Überarbeitung und Vollendung warteten. Einen ersten Erfolg nach der langen ‚Zwangspause‘ errang er mit dem Novellenzyklus Sieben Legenden (1872), in deren Mittelpunkt die Jungfrau Maria steht. Die Vorlage dazu bildeten die frommen und moralisierenden Legenden des protestantischen Pastors und Dichters Ludwig Theobul Kosegarten (1758–1818). Kellers Neufassung ist dagegen eine Absage an christliche Entsagungslehren und erhebt zugleich Anspruch auf irdische Lebenserfüllung.

Bereits vor seinem Antritt in den Staatsdienst hatte Keller eine Fortsetzung des Novellenzyklus Die Leute von Seldwyla ins Auge gefasst, sodass 1873/74 (Keller war inzwischen zum Göschen Verlag gewechselt) fünf weitere Novellen erschienen: Kleider machen Leute, Der Schmied seines Glücks, Die mißbrauchten Liebesbriefe, Dietegen und Das verlorene Lachen. Die Geschichte um den armen Schneiderlehrling Wenzel Strapinski, der aufgrund seiner vornehmen Kleidung für einen reichen polnischen Grafen gehalten wird, ist die wohl bekannteste Erzählung aus dem Novellenzyklus. Sie wurde mehrfach verfilmt (u.a. 1940 von Helmut Käutner mit Heinz Rühmann in der Titelrolle) und gehört seit Generationen zur klassischen Schullektüre.

An einem unfreundlichen Novembertage wanderte ein armes Schneiderlein auf der Landstraße nach Goldach, einer kleinen reichen Stadt, die nur wenige Stunden von Seldwyla entfernt ist. Der Schneider trug in seiner Tasche nichts als einen Fingerhut, welchen er, in Ermangelung irgendeiner Münze, unablässig zwischen den Fingern drehte, wenn er der Kälte wegen die Hände in die Hosen steckte, und die Finger schmerzten ihm ordentlich von diesem Drehen und Reiben. Denn er hatte wegen des Fallimentes irgendeines Seldwyler Schneidermeisters seinen Arbeitslohn mit der Arbeit zugleich verlieren und auswandern müssen.

In den Züricher Novellen, die seit 1876 in der Deutschen Rundschau erschienen, setzte Keller seiner Heimat noch einmal ein unvergessliches literarisches Denkmal. Es sind allesamt historische Erzählungen – so sind Hadlaub und Der Narr auf Manegg im 13. und 14. Jahrhundert angesiedelt, Ursula im Reformationszeitalter und Der Landvogt vom Greifensee im 18. Jahrhundert, während Das Häuflein der sieben Aufrechten rückblickend die Ereignisse von 1848 mit der Annahme der Bundesverfassung reflektiert. Von den insgesamt fünf Novellen sind drei in eine Rahmenhandlung eingebunden, während die anderen beiden nur angehängt sind, da sie schon älteren Datums waren.

Kellers letzter Novellenzyklus Das Sinngedicht (1881), obwohl von der damaligen Kritik als „krönendes Werk“ angesehen, ist heute weitgehend unbekannt. Die sieben Liebesnovellen, in denen die Historie ebenfalls eine nicht unerhebliche Rolle spielt, sind in eine Rahmenhandlung eingebunden, die selbst eine Liebeserzählung darstellt. Ein junger Naturforscher geht nach der Lektüre eines Sinngedichtes des Barockdichters Friedrich von Logau (1605–1655) ziemlich unbeschwert, ja naiv in die Welt hinaus, bis er feststellen muss, dass das wirkliche Leben mehr als Literatur ist.

Vom Erfolg der beiden Novellenzyklen beflügelt, plante Keller eine weitere Novellen-Sammlung, die jedoch von seinem Roman Martin Salander (1886) in den Hintergrund gedrängt wurden. 30 Jahre nach dem Grünen Heinrich wagte er sich nun erneut an dieses Genre. Im Mittelpunkt des Romans steht weniger ein Einzelschicksal als vielmehr Kellers Sorge um den Fortbestand der Schweizer Demokratie und die Unterhöhlung der bürgerlichen Welt. Hintergrund des „Schweizer Gründerzeit-Romans“ sind die politische Entwicklung nach 1848 und die zunehmende egoistische Ausrichtung des menschlichen Zusammenlebens. Eine Mahnung an die heranwachsende Generation, das Werk der Väter fortzuführen. Mitunter hat man den Eindruck, Keller hat in seinem Roman unsere moderne Lebenswelt vorgezeichnet.

Im letzten Lebensjahrzehnt konnte Keller noch die Ausgaben seiner Gesammelten Gedichte (1883) und der Gesammelten Werke (1889) in zehn Bänden betreuen. Obwohl er sich noch mit weiteren Plänen (u.a. einen weiteren Salander-Roman) beschäftigte, stellte sich langsam eine Lähmung der schöpferischen Kraft ein. Auch eine wachsende Vereinsamung – trotz freundschaftlicher Kontakte mit Arnold Böcklin, Paul Heyse, Conrad Ferdinand Meyer oder Theodor Storm. (Theodor Fontane und Wilhelm Raabe, die beiden anderen bedeutenden deutschen Schriftsteller seiner Zeit, waren allerdings nie in seinen Gesichtskreis getreten.) Zu seinem 70. Geburtstag ehrte man ihn mit einer Gedenkmünze (nach einem Entwurf von Arnold Böcklin). Keller alterte zusehends, kümmerte sich jedoch trotzdem um die Pflege der kranken Schwester, die 1888 starb. Schließlich zog er sich in ein Hotel in unmittelbarer Nähe des Vierwaldstätter Sees zurück. Nachdem seine Krankheit ihn mehrere Monate ans Bett gefesselt hatte, starb Gottfried Keller am 15. Juli 1890, kurz vor seinem 71. Geburtstag.

Im Vorfeld des 200. Geburtstags von Gottfried Keller sind einige Titel erschienen, mit denen sein Werk wieder mehr ins Bewusstsein gerückt werden soll. Dabei richtet sich Gottfried Keller. Das Große Lesebuch besonders an junge Leser, gewissermaßen als eine Erstbegegnung mit dem Schriftsteller. Der Schweizer Schriftsteller Thomas Hürlimann stellt in seiner Auswahl nicht nur Auszüge aus den bekannten Werken vor, sondern bringt auch einige Beispiele aus dem regen Briefverkehr Kellers. In seinem Nachwort Gottfried Keller kommt nicht nach Hause setzt sich der Herausgeber mit dessen mehrfacher Heimkehr nach Zürich auseinander.

Der Diogenes Verlag hat zum Jubiläum eine Neuausgabe der Züricher Novellen beigesteuert, versehen mit einem Nachwort (Das Sehnen bleibt) von Bernhard Schlink. Der Schriftsteller beleuchtet darin die Kellerschen Frauenfiguren, die nicht in der traditionellen Geschlechterrolle gefangen sind. Sie verlassen zwar nicht den ihnen von der Gesellschaft „angestammten“ Platz, aber sie entwickeln durchaus eine emanzipatorische Kraft. Eine dieser starken Frauengestalten begegnet uns in der Novelle Ursula, die ins frühe 16. Jahrhundert zurückführt. Es ist eine tragische Liebesgeschichte, eingebettet in die religiösen Auseinandersetzungen zwischen den reformierten und altkatholischen Schweizer Kantonen. Die Novellen-Einzelpublikation des Galiani Verlages ist mit Illustrationen von Hannes Binder ausgestattet. Ebenfalls illustriert ist der neue Insel-Band Kleider machen Leute. Die farbenfrohen Collagen von Ulrike Möltgen interpretieren dabei bildhaft die Geschichte des unfreiwilligen Hochstaplers Wenzel Strapinski.

Bereits 2016 erschien das Gottfried Keller-Handbuch bei J.B. Metzler; zum diesjährigen Keller-Jubiläum folgte nun eine 2., revidierte und erweiterte Auflage in einer preiswerten Softcover-Version. Das Autorenteam unter Leitung der Herausgeberin Ursula Amrein widmet sich Kellers Werk in seinem vollen Umfang; dabei werden auch entstehungs- und wirkungsgeschichtliche Zusammenhänge offengelegt sowie grundlegende Informationen zu Kellers Biografie vermittelt. Die Neuausgabe enthält auch einen umfangreichen Bildteil, der den Zugang zu Kellers Werk vertieft – darunter eine repräsentative Auswahl von Gemälden, Aquarellen und Zeichnungen. Zu einzelnen Kapiteln gab es ergänzende Ausführungen; neu ist auch eine Zeittafel im Anhang, die einen raschen Überblick ermöglicht.

Für September hat Der Audio Verlag in seiner bewährten Reihe Große Werke. Große Stimmen noch zwei interessante Keller-mp3-Hörbücher angekündigt. Besonders erwähnenswert ist die ungekürzte Lesung des Grünen Heinrich – eine historische Aufnahme mit dem bekannten, 2004 verstorbenen Radiomoderator Baldur Seifert. Nach Auskunft des Verlages soll es sich dabei um eine Lesung der ersten Fassung des Romans handeln, was viele Keller-Interessierte freuen wird. Das zweite DAV-Hörbuch bringt die Novellen des Zyklus Die Leute von Seldwyla (mit Ausnahme von Romeo und Julia auf dem Dorfe), und das mit unterschiedlichen Sprechern, sodass neben der poetischen Vielfalt auch für Hör-Abwechslung gesorgt sein wird.

Insgesamt ein überschaubares, aber interessantes Kontingent an Neuerscheinungen – allerdings verglichen mit dem seit Monaten andauernden „Titel-Dauerregen“ zum bevorstehenden Fontane-Jubiläum im Dezember nur ein kleiner „Keller-Schauer“.

Titelbild

Ursula Amrein (Hg.): Gottfried Keller-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung.
2. Auflage.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2018.
464 Seiten, 24,99 EUR.
ISBN-13: 9783476046918

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Titelbild

Gottfried Keller: Züricher Novellen.
Mit einem Nachwort von Bernhard Schlink.
Diogenes Verlag, Zürich 2019.
480 Seiten, 13,00 EUR.
ISBN-13: 9783257244915

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Titelbild

Gottfried Keller: Kleider machen Leute.
Illustriert von Ulrike Möltgen.
Insel Verlag, Berlin 2019.
79 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783458200345

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Titelbild

Gottfried Keller: Ursula.
Illustriert von Hannes Binder.
Galiani Verlag, Berlin 2019.
127 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783869711997

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Gottfried Keller: Das große Lesebuch.
Herausgegeben von Thomas Hürlimann.
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 2019.
270 Seiten, 13,00 EUR.
ISBN-13: 9783596907113

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Titelbild

Gottfried Keller: Der grüne Heinrich. Ungekürzte Lesung mit Baldur Seifert.
Der Audio Verlag, Berlin 2019.
3 mp3-CDs (30h), 10,00 EUR.
ISBN-13: 9783742412133

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Titelbild

Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla. Lesung mit Christian Brückner u.v.a.
Der Audio Verlag, Berlin 2019.
2 mp3-CDs (20h), 10,00 EUR.
ISBN-13: 9783742412157

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