„Sonette find ich sowas von beschissen“

Die Juli-Ausgabe von literaturkritik.de widmet sich der Lyrik und dem 200. Geburtstag Gottfried Kellers

Von Stefan JägerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Jäger

Auf kaum eine Literaturgattung wird so kontrovers reagiert wie auf Lyrik. Von den einen geradezu abgöttisch geliebt und vehement verteidigt, wird sie von anderen gehasst und als sentimentale Schwärmerei abgetan. Neutralität gibt es in dieser Sache nicht. Die meisten kommen – von Kinderliedern und -reimen mal abgesehen – spätestens während der Schulzeit mit Lyrik ernsthaft in Kontakt. Dass das stumpfe Auswendiglernen von Gedichten, die Bestimmung von Versform oder Metrum – der Anapäst wird nicht umsonst mit „der Zurückschlagende“ übersetzt – im Deutschunterricht nicht gerade für Erheiterung sorgt(e) und einer tieferen Liebe zur Lyrik kaum zuträglich ist beziehungsweise war, darin werden mir nicht wenige zustimmen. Doch glücklicherweise lassen sich nicht alle davon abschrecken und bleiben der Lyrik treu oder entdecken sie nach der Schulzeit ganz neu für sich. Die ambivalente Haltung zur Lyrik findet dabei nicht nur Ausdruck in der Kommunikation über sie, sondern wird wie beispielsweise bei Robert Gernhardt auch inhaltlich zum Thema. Heißt es einerseits in seinem berühmt-berüchtigten Gedicht Materialien zu einer Kritik der bekanntesten Gedichtform italienischen Ursprungs „Sonette find ich sowas von beschissen, / so eng, rigide, irgendwie nicht gut“, so ist einer seiner lyrischen Texte mit Trost im Gedicht betitelt. In ihm heißt es:

Denk dir ein Trüffelschwein,
denks wieder weg:
Wird es auch noch so klein,
wird nie verschwunden sein,
bleibt doch als Fleck.

In der Lyrik, ja in der Literatur generell wird Nicht-Existentes existent, Unvorstellbares vorstellbar, Unsichtbares sichtbar. Und so ist es sicherlich nicht gering zu achten – das wird in den Literaturwissenschaften häufig übersehen oder milde belächelt –, dass Lyrik tatsächlich Trost spenden kann, wie es bei Gernhardt heißt. Dass sich die Lyrik nicht darauf beschränkt, versteht sich von selbst.

Einer, der sich seit Jahrzehnten intensiv mit Lyrik auseinandersetzt – sowohl privat als auch in Forschung und Lehre –, ist Dieter Lamping, Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Mainz und Gründer sowie fachlicher Leiter der Komparatistik-Redaktion von literaturkritik.de. Ihm, der zum Ende des Sommersemesters emeritiert wird, der Komparatistik-Redaktion aber glücklicherweise weiter erhalten bleibt, ist der Lyrik-Schwerpunkt in dieser Ausgabe gewidmet.

Der zweite Themenschwerpunkt befasst sich mit einem Autor, der Mitte des 19. Jahrhunderts zunächst vor allem als Lyriker Bekanntheit erlangte, heute jedoch fast nur noch als Prosa-Autor wahrgenommen wird: Gottfried Keller. Am 19. Juli jährt sich sein Geburtstag zum 200. Mal. Wir nehmen dies zum Anlass, um in einigen Artikeln – im Laufe des Monats werden weitere Essays folgen – Leben und Werk des Autors näher zu beleuchten und Neuerscheinungen unter die Lupe zu nehmen. Zahlreich waren diese indes nicht, was etwas verwundert, wenn man im Gegenzug beobachtet, welche Vielzahl an Publikationen zum bevorstehenden 200. Geburtstag Theodor Fontanes bereits erschienen ist beziehungsweise noch erscheinen wird.

Vielen Dank allen, die zum Gelingen dieser Ausgabe beigetragen haben!

Anregende Lektüre(n) wünscht

Stefan Jäger