Ein seltsames Stilpotpourri

Antonio Ortuño versucht sich in „Die Verschwundenen“ an einem Porträt der korrupten mexikanischen Gesellschaft

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man kann nicht gerade behaupten, dass der Plot von Die Verschwundenen besonders originell ist; mehr noch, fasst man ihn kurz zusammen, liest er sich wie die Beschreibung eines klischeestrotzenden B-Movies: Aurelio Blanco, aufrichtiger Buchhalter und Schwiegersohn des korrupten Immobilienunternehmers Carlos Flores, wird zu vielen Jahren Gefängnis verurteilt, weil es ‚Unregelmäßigkeiten‘ in den Bilanzen gab. Tatsächlich hat sich Blanco auf einen Deal eingelassen, um als Bauernopfer für die Familie seiner Frau in den Knast zu gehen, aus dem er eigentlich nach kurzer Zeit und erheblich Schmiergeld wieder entlassen werden sollte. Doch da Flores‘ Geschäfte doch nicht so gut liefen, und dieser auch wenig Interesse an der Freilassung seines Schwiegersohns hatte, verharrte Blanco im mexikanischen Knast. Auch seine Frau trennte sich von ihm, seine Tochter darf keinen Kontakt mehr mit ihm pflegen.

Der Roman beginnt, als Blanco entlassen wird und versucht, ins Leben zurückzukehren. Zunächst begegnet er einer sexsüchtigen Anwältin, die ihm finanziell und emotional weiterhilft, dann schmiedet er Rachepläne, um seine Familie zurückzugewinnen und an die versprochene finanzielle Entschädigung zu kommen, die Flores ihm selbstverständlich vorenthält.

Der mexikanische Schriftsteller Antonio Ortuño bewegt sich wie auch in seinen vorangegangenen Romanen auf einem schmalen Grat zwischen sozialkritischer Literatur, Kriminalroman und Slapstick. Beim Schreiben denkt er offensichtlich filmisch, gerade die tragikomischen Szenen in der zweiten Hälfte von „Die Verschwundenen“ erinnern an Filme von Quentin Tarantino oder Robert Rodriguez: Es fließt plötzlich viel Blut, Laien müssen Leichen zersägen und schnell verschwinden lassen und benehmen sich dabei wiederholt tölpelhaft, ohne jedoch den Leser auch nur zu einem Schmunzeln zu verleiten. Dies ist die eine, eher ermüdende Seite des Romans.

Andererseits gelingt es Ortuño durchaus, ein beklemmendes Porträt der mexikanischen Gesellschaft zu zeichnen, vor allem der Korruption, die bis in die höchsten Kreise der Politik reicht, und vor der es als ‚kleiner Mann‘ einfach kein Entkommen gibt. Genau aus diesem Grund funktioniert zumindest die erste Hälfte des Romans sehr gut, vor allem, wenn langsam aufgeklärt wird, was es mit den titelgebenden Verschwundenen auf sich hat.

Ortuño unternimmt durchaus den Versuch, die Gesellschaft zu sezieren, seinen Finger in die Wunde zu legen, scheitert an diesem Vorhaben jedoch aufgrund der reduzierten Mittel seiner Prosa und seiner Unentschlossenheit, ob er nun ein aufrüttelndes Sozialdrama, einen spannenden Krimi oder ein blutiges Slapstick-Spektakel schreiben will. Da er letztlich alle drei Formen miteinander vermischt, entsteht ein seltsames Stilpotpourri, das den Leser zunächst fasziniert, am Ende aber frustriert ob der verpassten Gelegenheiten zurücklässt.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Antonio Ortuño: Die Verschwundenen.
Übersetzt aus dem Spanischen von Hans-Joachim Hartstein.
Verlag Antje Kunstmann, München 2019.
253 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783956142857

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