Draußen vor den Mauern, da lauert der böse Hund

Yoko Ogawa erzählt in „Augenblicke in Bernstein“ eine doppelbödige Kindheitsgeschichte

Von Eva UnterhuberRSS-Newsfeed neuer Artikel von Eva Unterhuber

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nach dem Tod ihres jüngsten Kindes reist eine Frau mit ihren drei übrigen Kindern in einen abgelegenen Kurort und bezieht dort ein altes Haus, das einst ihrem Mann gehört hat. Hier will sie mit ihrer kleine Familie noch einmal ganz von vorne beginnen – und das nach ganz eigenen Spielregeln. Kaum angekommen, müssen die Kinder, zwei Jungen und ein Mädchen, ihre alten Namen ablegen und dürfen sich mithilfe eines Wissenschaftslexikons völlig neue zulegen. Fortan heißen sie Achat, Bernstein und Opal und können, gekleidet in Fantasiekostümen, ihre Tage mehr oder minder frei gestalten – vorausgesetzt, sie befolgen das eherne Gesetz, Haus und Garten unter keinen Umständen zu verlassen. Begründet wird dieses Verbot mit der Gestalt eines draußen umherstreifenden gefährlichen Hundes, der schon den Tod ihres kleinen Geschwisterchens verursacht habe.

Gehorsam arrangieren sich die Kinder mit ihrer neuen Situation und leben fortan, abgeschirmt durch hohe Mauern, in ihrer ganz eigenen magisch-faszinierenden Welt, die allein den Gesetzmäßigkeiten ihrer Fantasie unterworfen ist. Dieses selbstreglementierte Leben gerät in Unordnung, als ein Fremder erscheint, der eines Tages unangekündigt im Garten steht: ein Hausierer auf der Suche nach Kundschaft, den die Geschwister nach anfänglichem Misstrauen schnell als neuen Freund und Vertrauten akzeptieren. Tatsächlich werden seine Besuche, ängstlich vor der Mutter verheimlicht, bald ein wichtiger, sehnsüchtig erwarteter Fixpunkt in ihrem Leben, während das kuriose Sammelsurium an Waren, das er mit sich führt, ihnen eine Ahnung verschafft von dem Leben draußen, jenseits der Mauern, die sie nicht verlassen sollen. Bald schon ist nichts mehr so, wie es einmal war.

So zumindest ginge diese Geschichte weiter, würde sie nicht von Yoko Ogawa erzählt, einer Meisterin des Subtilen und der leisen Zwischentöne, wie schon ihr Roman Der Herr der kleinen Vögel eindrucksvoll gezeigt hat. Dieselbe Subtilität, die dort dazu eingesetzt wurde, um einem einfachen, unspektakulären Leben stilistisch gerecht zu werden, dient in Augenblicke in Bernstein jedoch einem ganz anderen Zweck. Hier trägt sie dazu bei, die LeserInnen Seite für Seite, langsam aber stetig zu verunsichern und nachhaltige Zweifel zu wecken, ob die geschilderten Ereignisse denn nun tatsächlich sind wie sie sind und nicht lediglich so scheinen. Und so beginnt man sich schließlich zu fragen, wie glaubhaft die Motivation der Mutter für die völlige Abschottung ihrer Kinder sein kann. Oder wie überzeugend deren Vertrauen in die guten mütterlichen Absichten und in die Existenz ihres Kindheitsparadieses. Übertüncht die kindliche Fantasie nicht schlimme Wahrheiten, die nie ganz offen formuliert werden? Inwiefern spricht der kleine Bernstein, der über weite Strecken die Geschichte erzählt, die Wahrheit und inwiefern die Freundin des erwachsenen, nun in einem Altersheim lebenden Bernstein, die seine Erzählung weitergibt? Könnte nicht alles doch ein bisschen anders gewesen sein?

Ogawa gibt auf all diese Fragen keine direkten Antworten, sodass, obwohl die Geschichte nicht unvollendet bleibt, letztlich doch das Ungeklärte überwiegt. Bei aller Faszination für die skurrilen Charaktere und ihre fantasievolle Lebensführung bleibt ein Rest an Unbehagen zurück – dafür ist Kohaku no matataki, so der Roman im Original, dann doch zu doppelbödig. Denn wer weiß, vielleicht gibt es ihn ja doch, diesen bedrohlichen, namenlosen Hund, da draußen vor den Mauern.

Titelbild

Yoko Ogawa: Augenblicke in Bernstein. Roman.
Übersetzt aus dem Japanischen von Sabine Mangold.
Liebeskind Verlagsbuchhandlung, München 2019.
336 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783954381005

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