Vom Schall und Wahn der Ich-Maschine

Ein Versuch über Reflexionen zu Musik und Literatur in der Songlyrik von Tocotronic und Blumfeld

Von Manuel BauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manuel Bauer

Eine unerhörte Begebenheit, oder: Songlyrik als Literatur

Es darf wohl als unerhörte Begebenheit gelten, dass eine längst vielgehörte Kunstform Aufnahme fand in die Schatzkiste deutscher Kanonseligkeit: Die im Jahr 2012 von dem renommierten Germanistik-Professor Wulf Segebrecht im ehrwürdigen Carl Hanser Verlag herausgegebene, voluminöse Anthologie Deutsche Balladen eröffnet mit dem Songtext Das Blut an meinen Händen. Einem Songtext! Von einer Musikgruppe!! Nicht etwa mit einem lyrischen Text, der später vertont wurde, auch nicht mit einem Song von Bert Brecht, den dieser gemeinsam mit Kurt Weill schrieb, oder mit einem Lied des längst literarhistorisch sakrosankten Politbarden Wolf Biermann. Nein, wahrhaftig, der erste Text in Segebrechts Deutsche Balladen ist ein zuvor noch nie in einem Buch gedruckter Songtext der Hamburger Indie-Band Tocotronic. Ein kleiner Paukenschlag fürwahr.

Der Untertitel von Segebrechts Anthologie – Gedichte, die dramatische Geschichten erzählen – umfasst die gesamte klassische Gattungstrias von Epik, Lyrik und Dramatik. Der Herausgeber schließt sich, wie er selbst mehrfach betont, einer prominenten Position an. Johann Wolfgang Goethe hat erklärt (und Generationen von Germanisten sind ihm willfährig darin gefolgt), dass es „nur drei echte Naturformen der Poesie“ gebe, nämlich „Epos, Lyrik und Drama“ (WA I/7, S. 118). In der Ballade (wenn auch, obwohl diese Äußerung oft verkürzt gelesen wird, nicht nur dort) finde sich eine Vereinigung aller drei „Naturformen“. Deswegen kann Goethe die Ballade mit einem „lebendigen Ur-Ei“ der Dichtung vergleichen, nicht nur weil sich der „Sänger“ in der Ballade „aller drei Grundarten der Poesie“ bediene, sondern weil „hier die Elemente noch nicht getrennt“ seien (WA I/41.1, S. 223f.). In der Ballade sieht Goethe mithin einen kondensierten Ausdruck der Erscheinungsformen der Literatur.

Löst man sich von der Gattungspoetik der Ballade im engeren Sinne, erhebt Segebrechts Anthologie den Anspruch, die Literatur in ihrer ganzen Breite zu umfassen. Dieses Unterfangen mit einem Text zu beginnen, der qua Gattungszugehörigkeit und popkultureller Provenienz nicht eben unkontrovers zur Literatur gezählt werden dürfte, ist eine wahrlich kühne Geste. Schon durch die bloße Aufnahme eines solches Textes in die Anthologie wird dieser zu einem Reflexionsstimulans über das Verhältnis von Lyrik und Songtexten, von Literatur und Musik. Das soll zum Anlass für einen Versuch genommen werden, um derlei Reflexionen in einigen Songtexten selbst freizulegen – sei es, indem sie implizit, durch Verweigerung eindeutiger Botschaften und damit im Verweis auf ihre eigene Vieldeutigkeit, Literarizität beanspruchen oder indem sie das Verhältnis zur „Dichtung“ ausdrücklich thematisieren.

„Mehr als bloß ein Klang…“. Blumfelds poetologische Songlyrik

Die Vertreter der sogenannten „Hamburger Schule“, zu der auch Tocotronic rasch gezählt wurde, weisen ein lyrisches Niveau weit jenseits des verbreiteten „Deutschrocks“ auf. Zu den bekanntesten Protagonisten dieser Szene gehört die Band Blumfeld, die schon mit ihrem Bandnamen auf die höchsten Höhen der deutschen Literatur verweist: eine 1915 entstandene Erzählung Franz Kafkas, die postum unter dem Titel Blumfeld, ein älterer Junggeselle veröffentlicht wurde. Bereits auf ihrem ersten Album mit dem programmatischen, konstruierte Subjektivität ausdrückenden Titel Ich-Maschine (1992) reflektiert das sich derart in den Vordergrund schiebende lyrische Ich mit steten Selbstzweifeln, aber exponiertem lyrischem Selbstbewusstsein den Stellenwert der Songtexte. Beginnt der Opener der Platte mit dem Ausruf „Ein Lied mehr“, unternehmen die folgenden Stücke den Versuch, eben nicht einfach nur „ein Lied mehr“ zu sein, sondern besondere Lieder, die dem Ich, das sich in ihnen artikuliert, eine Denk- und Dichtweise erlauben, für die es in der deutschsprachigen Musik kaum ein Vorbild gab. Von der Unmöglichkeit, „Nein“ zu sagen, ohne sich umzubringen etwa beginnt mit den (wieder an Kafka, diesmal an die Eingangssequenz von dessen Erzählung Die Verwandlung erinnernden) Versen „Montagmorgen / erwachte ich als Mißgeburt“. Diese Lage des Ichs wird nicht nur dazu genutzt, gegen den „Apparat“ zu rebellieren und anerkennungstheoretische Überlegungen durchzuspielen („brauch’ ich Dich, um ich zu sein?“), sondern auch, um in der Metamorphose zur „Missgeburt“ literarische Schöpfungskraft zu finden: „meine Tentakel seh’ ich auch / ich hab’ keine Knochen mehr / dafür Tinte für zwanzig Bücher im Bauch“.

Der nächste Song, Viel zu früh und immer wieder; Liebeslieder, geht noch einen Schritt weiter. Er betont nicht allein die potenzielle, sondern die tatsächlich performierte literarische Fähigkeit des lyrischen Ichs, dessen Worte sich nicht darin erschöpfen wollen, kontingentes Lautmaterial im Songgefüge zu sein: „Darauf mein Wort / denn es ist mehr als bloß ein Klang, / den irgendein Depp sonst sang / wie ein Geräusch / das nur sich selbst nennt“. Diese Worte wollen (ohne zu behaupten, die Musik entbehren zu können) mehr sein als ein Geräusch, das in der bloßen Selbstreferenz aufgeht. Songlyrik, so die poetologische Botschaft, ist mehr als Begleitgeräusch zur Musik und reicht weiter als ein Lied klingt. Und zuweilen verselbständigt sie sich sogar: Es ist mehr als nur eine Schrulle, wenn Blumfeld-Sänger und -Texter Jochen Distelmeyer auf manchen Tracks gewissermaßen ganz entblößt, mit nichts als Sprache in Erscheinung tritt. Der Titeltrack des epochalen zweiten Albums L’Etat et moi (1994) ist ein nicht weniger als 15 (!) Strophen umfassendes, gesprochenes Langgedicht ohne jedwede musikalische Begleitung (anders als etwa die auch vom jungen Bob Dylan zelebrierte Kunstform des „Talking Blues“). Zu einem Höhepunkt geführt wird das mit dem dritten Blumfeld-Album Old Nobody (1999), das mit den zwölf gesprochenen Strophen von Eines Tages eröffnet wird – mit einer radikaleren Aufwertung der Lyrics dürften wenige Schallplatten je begonnen haben.

Tocotronic und der Weg in die lyrische Verrätselung

Tocotronic wurden zu den Posterboys der „Hamburger Schule“, wozu neben ihren musikalischen und textlichen Vorzügen ihr Auftreten und ihre Inszenierung beitrugen. Ihre überwiegend von Dirk von Lowtzow verantwortete Songlyrik handelte davon, die Fahrradfahrer, Tanztheater und Backgammon-Spieler einer Stadt zu hassen oder Teil einer Jugendbewegung sein zu wollen. Die ersten Alben scheinen dem Blumfeld-Titel Ich-Maschine zu folgen – allein auf der dritten Platte Wir Kommen Um Uns Zu Beschweren (1996) beginnen acht von 16 Songs mit dem Wort „Ich“, weitere vier tragen ein „mich“ oder ein „wir“ im Titel. Die Musik steht, so wird nahegelegt, im Dienst der Selbstaussprache des lyrischen Ichs. Dass bei der ostentativen Subjektivität und der dadurch ausgedrückten Verkörperung eines Independent-Antiheldentums von jeher ein gerüttelt Maß an Inszenierung, Humor und postmoderner Zitatkultur im Spiel war, wurde nicht immer hinreichend verstanden, so dass nach drei in rascher Folge veröffentlichten Platten die Musiker geradezu als Role-Models für eine jugendbewegte Gegenkultur jenseits der gängigen Rock’n’Roll-Breitbeinigkeit gelten konnten. Mit dem vierten Album Es ist egal, aber (1997) begannen die Versuche, sich solchen Vereinnahmungen zu entziehen.

Zugespitzt und von einer neuen lyrischen Poetik begleitet wurden die Ansätze zu einem Ausbruch aus der Direktheits- und Referenzialisierbarkeits-Falle auf K.O.O.K. (1999). Paradigmatisch steht der Song Das sind keine Rätsel für die Entwicklung von der Identitätsstiftung hin zur Hermetik, die gerade dadurch unverständlich bleibt, weil sie vorgibt, völlig transparent zu sein: „Das sind keine Rätsel / Das ist offensichtlich / So wie es vorliegt / Auf meiner Hand“ lautet die erste Strophe. Doch was da eigentlich keine Rätsel sind, wird nicht ausgesprochen – gerade das „das“ bleibt offen. Nichts an dieser Strophe ist, entgegen der manifesten Aussage, „offensichtlich“. Auf Reime wird (wenn auch nicht zum ersten Mal) verzichtet, um keine Stimmigkeit zu suggerieren. Und auch wenn es doppeldeutig heißt, dass etwas (erneut: was eigentlich?) sprichwörtlich auf der Hand liegt, so ist doch allenfalls die Strategie der Verdunkelung mit Händen zu greifen. Die Subjektivität des Ichs, auf dessen Hand es liegt, verhindert die intersubjektive Möglichkeit einer Enträtselung dessen, das vorgeblich ohnehin nicht rätselhaft sei.

Die zweite Strophe bringt keinerlei Aufschluss darüber, was vermeintlich keine Rätsel seien: „Die Zweige der Bäume / Sind jetzt schon erblüht / Sie verästeln sich ständig / Und kreuzen sich dann“. Das Rätsel-Motiv ist scheinbar ganz aufgegeben, schwingt aber phonetisch und orthographisch im „verästeln“ der Zweige nach. Auch semantisch sind die Verästelungen der Zweige eine Fortführung des Themas der ersten Strophe. Eine derart verästelte Struktur verweist auf die postmodere Denkfigur des Rhizoms, ein organisches Gewebe ohne hierarchisierte Ordnungen, bei dem jeder Punkt mit allen anderen verbunden ist und sich daher eindeutigen Sinnzuschreibungen verweigert – dass Dirk von Lowtzos Buch Aus dem Dachsbau (2019) auf vielerlei Weise ebenfalls dem Rhizom verpflichtet ist, mag das unterstreichen. Darüber hinaus steht die zweite Strophe für eine Verästelung und damit auch Verrätselung des Sinnes. Wenn es ihn überhaupt gibt, dann entzieht er sich der (Be-)Greifbarkeit durch just die Verästelung, von der die zweite Strophe handelt und die sie selbst vollzieht, indem sie plötzlich die Richtung wechselt, nicht mehr von nicht vorhandenen Rätseln, sondern von blühenden Bäumen spricht.

Eine Dechiffrierung muss scheitern, weil es nichts mehr zu dechiffrieren gibt. Lesbarkeit wird behauptet, geht aber in Unverständlichkeit über, wie aus der dritten Strophe hervorgeht: „Und in deinen Augen / Sind Dinge lesbar / Deren tiefere Botschaft / Ist mir nicht bekannt“. Es mag eine „tiefere Botschaft“ geben, doch diese ist demjenigen, der von ihr spricht, selbst unbekannt und muss mithin denen, die nur von diesen „Dingen“ hören, sie aber nicht selbst sehen, gänzlich verschlossen bleiben. Der Text entspricht selbst dieser Art von Hieroglyphe, von der er handelt – er ist ein Signifikant, zu dem das Signifikat mangels der Kenntnis der konventionellen Zuordnung nicht gefunden werden kann. Dieser Song kann geradezu als poetologisches Zentraldokument für Tocotronics Songlyrik gewertet werden, wie jüngst eine Aussage Dirk von Lowtzows in einem Interview nahelegt. Songs, heißt es da, seien Poesie, „und Poesie ist immer verrätselt, in gewisser Weise gleicht ein Gedicht einer Matheaufgabe“, allerdings gebe es in Songs eben keine richtige Lösung (Süddeutsche Zeitung vom 8./9./10 Juni 2019). Dass gerade Das sind keine Rätsel diese konstitutive unauflösbare Rätselhaftigkeit bestätigt, ist Ausdruck der speziellen Ironie der Lowtzow’schen Lyrik.

Der Text allerdings bleibt bei der Eingangsbehauptung, die er in der abschließenden vierten Strophe bekräftigt, die die erste nur geringfügig, aber doch dringlich variiert: „Doch es sind keine Rätsel / Das ist offensichtlich / So wie es vorliegt / Auf meiner Hand“. Dennoch, obwohl er Unlesbarkeit konstatiert und Verästelung vollzieht, will der Text noch immer nicht von Rätseln künden – falls er überhaupt über etwas außerhalb seiner selbst spricht. Die Aussage „Das sind keine Rätsel“ darf auch auf die Verse selbst bezogen werden, die dadurch ihre Rätselhaftigkeit in Abrede stellen und unverständlich bleiben müssen, da eine Verständlichkeit nach einer etwaigen Enträtselung gerade deswegen nicht in Aussicht gestellt werden kann, weil es keine aufzulösenden Rätsel gebe. Auch das folgt dem Prinzip des Rhizoms, das viele Eingänge, aber keinen klaren Ausgang kennt. Es folgt nicht nur einer Verästelung, es ist auch eine Abwehrvorrichtung gegen Versuche, eine flottierende Semantik stillzustellen: „Das Prinzip der vielen Eingänge […] verwirrt allenfalls jene, die ein Werk zu ‚deuten‘ versuchen, das in Wahrheit nur experimentell erprobt sein will“ (Deleuze/Guattari 1976, S. 7). So formulieren es die Großmeister der Theorie des Rhizoms, Gilles Deleuze und Félix Guattari, in ihrem Buch Kafka. Für eine kleine Literatur, das Dirk von Lowtzow kürzlich zu einem seiner Lieblingsbücher erklärte.

Eingedenk der stets dräuenden Gefahr, in die übliche Falle der „akademische[n] Rock-Rezeption“ zu tappen und nicht hinreichend zu beachten, dass das „Gesungene […] Hinweise darauf [enthält], wie das Gesagte gemeint ist“, also eindimensional „den Text beim Wort“ (Büttner 2005, S. 243) zu nehmen, müsste das Verhältnis von Songlyrik und Musik eingehender diskutiert werden. Es wäre etwa zu fragen, ob es eine Semantik transportiert, dass zwischen der zweiten und der dritten Strophe von Das sind keine Rätsel mehr als zweieinhalb Minuten lang gar nicht gesungen wird, sodass der rätselhafte Text zwischenzeitlich in ein unausdeutbares Verstummen übergeht. „Die Reduktion des Songs auf den Text ignoriert aber das Wechselspiel von Gefälligkeit und Renitenz, ausgedrückt in der Vieldeutigkeit von Wortwahl, Phrasierung und Rhythmus. Darum ist so schwer über Songs zu schreiben.“ (Büttner 2005, S. 243)

Dies zugestanden (und darauf hingewiesen, dass die Interpretation von Songlyrik nicht den Anspruch erhebt, die eines Songs zu sein), wird gleichwohl auch bei einer Fokussierung des Textes allein bereits hinreichend deutlich, dass Tocotronics Songlyrik sich eindeutigen Botschaften und einer narzisstisch-identifikatorischen Rezeption verschließt. Ebenso wenig beschränkt sie sich darauf, von einem ‚großen Ereignis‘ zu erzählen, wie der Poptheoretiker Diedrich Diederichsen allgemein für Songtexte postuliert (vgl. Diederichsen 2014, S. 307f.) – nicht ein großes Ereignis, sondern unter anderem die Leerstelle der (paradoxalen) Negation des Rätsels, keine Erzählung, sondern Reflexion bieten Tocotronic an. Bereits der Verzicht auf einen Refrain und damit der Ausbruch aus dem konventionellen Strophe-Refrain-Strophe-Refrain-Aufbau eines Popsongs (weshalb Kurt Cobain auch mit dem Gedanken spielte, einem Nirvana-Album den sarkastischen Titel Verse Chorus Verse zu geben) markiert ein anders Selbstverständnis der Songlyrik, die sich nicht darauf beschränkt, eine wiederkehrende Aussage zu perpetuieren. An die Stelle der Wiederholung einer Botschaft tritt die Verweigerung jedweder klar benennbaren Semantik.

Als Höhepunkt der lyrischen Verweigerung von Referenzialität innerhalb des Tocotronic-Kosmos’ gilt gemeinhin Neues vom Trickser vom selbstbetitelten „Weißen Album“ (2002), das mit einem komplett veränderten Sound aufwartete und den Bruch mit dem eigenen Frühwerk vollzog. Der „Trickser“, als der sich das lyrische Ich ausweist, verweist auf die mythologische Figur des „Tricksters“, der als Schwindler und Betrüger in Erscheinung tritt. Der tococtronische Tricks(t)er gibt zunächst vor, von sich selbst zu erzählen („Neues vom Trickser / Etwas von mir“), doch das Ich verschwindet zwischen Bedeutungs- und Richtungsmöglichkeiten. Der Trickser spricht „Als ein Übersetzer / Zwischen den Türen“ und „Als eine Art Benutzer / Des Dagegenseins“, mithin als eine Instanz, die nichts Eigenständiges sagt, sondern sich der Negation bemächtigt, ohne die Position noch zu erwähnen.

Einem Trickser ist zu misstrauen. Das lyrische Ich ist unzuverlässig, was in den berüchtigt gewordenen Versen kulminiert: „Eines ist doch sicher / Eins zu eins ist jetzt vorbei“. Doch wenn „eins zu eins“, also die Übersetzbarkeit der Texte in faktuale Lebenswirklichkeit oder in „Bedeutung“ im Allgemeinen vorbei ist, kann dann überhaupt noch davon ausgegangen werden, dass „Eines doch sicher“ sei? Kann „Eins zu eins ist jetzt vorbei“ noch eins zu eins verstanden werden? Unterminiert sich die Absage an Referenz nicht genau dadurch selbst? Wenn eines sicher ist, dann wohl, dass nach einer Absage an ein „eins zu eins“ Bedeutung nur durch den Umweg der Verrätselung zu erreichen ist. Der Trickser untermauert seine Absage an die Rolle als „Ich-Maschine“ und als Produzent jugendbewegter, subkultureller Erlebnislyrik mit der Behauptung von Hermetik, die als Behauptung in eine Aporie oder doch zumindest eine Paradoxie mündet.

Der Trickser, der sich als Nachfahre mythologischer Gestaltenwandler ausweist, ist zugleich ein Wiedergänger des lyrischen Ichs aus Blumfelds Superstarfighter (auf L’Etat et moi) – einem Song, in dem selbstironisch bereits die gleiche Denkbewegung vollzogen wird. Das Wort wird einer namenlosen Figur gegeben, die zum lyrischen Ich sagt: „in den Liedern, die Du spielst / ist immer weniger von Dir selber drin“. Der Vorwurf schwindender Authentizität führt zur Replik: „Stimmt genau, sag ich / die sind so wie ich selber bin“. Das Ich ist von sich selbst entfremdet und kann deswegen keine „authentischen“ Lieder mehr schreiben, doch gerade in dieser Ich-Entleerung liege die Parallele von schreibendem und singendem Ich, was geradewegs in die Paradoxie führt. Die thematisierte Entfremdung steigert sich im Verlauf von vier Strophen, bis sich am Ende das jeglicher Sicherheit entkleidete Ich an das gar nicht mehr vorhandene Du wendet: „Und in Gedanken ging ich zu Dir / und ich sagte: ‚Bitte hilf mir! / Vergiß die Lieder, die ich spiel’ / die hatten nie etwas zu tun mit Dir / die sind so hohl wie ich‘ und darauf Du: / ‚Und davon handeln wir.‘“ Dass Tocotronic-Sänger Dirk von Lowtzow als Teil des Chors, der „und davon handeln wir“ singt, einen Gastauftritt hat, unterstreicht die Zusammengehörigkeit der „Hamburger Schule“, dadurch paradoxal aber auch die gemeinsame Absage an Identität und deren lyrische Stiftung. Stattdessen verweisen diese Texte auf sich selbst und darauf, Dichtungen zu sein, keine übersetzbaren Erfahrungsberichte.

Der Dichter und sein Vernichter

Songlyrik, die solche Komplexität zu entfalten imstande ist, ist nicht darauf zu reduzieren, Bestandteil eines Songs zu sein (was sie selbstverständlich trotzdem immer bleibt). Einer solchen Reduktion tritt die Aufnahme eines Songtextes in eine Anthologie vehement entgegen. Aber handelt es sich dabei um einen mehr oder minder beliebigen Text oder ist Das Blut an meinen Händen in besonderer Weise geeignet als Auftakt einer Balladensammlung, die sich paratextuell als Repräsentation der Literatur im Allgemeinen positioniert?

Der Song Das Blut an meinen Händen stammt vom 2010 erschienen Album Schall und Wahn. Der Albumtitel ist ein intertextueller Verweis auf William Faulkners Roman The Sound and the Fury (1929; dt. Schall und Wahn), der seinerseits eine berühmte Stelle in William Shakespeares Tragödie Macbeth (1606) zitiert, in der der Protagonist erklärt, das Leben sei nur ein von einem Narren erzähltes Märchen, voller Schall und Wahn, aber ohne Bedeutung (vgl. V/5). Man darf hier wohl eine poetologische Selbstbeschreibung Tocotronics erblicken. Zudem impliziert eine solche Einschreibung in einen literarischen Bezugskosmos – bei Weitem nicht die einzige in der tocotronischen Textwelt, doch die anderen Bezüge auch nur anzudeuten würde den Rahmen sprengen – auch einen (und sei es postmodern-selbstironischen) Anspruch an die eigene lyrische Produktion. Darüber hinaus lässt sich der Titel Schall und Wahn auch als Beschreibung des Verhältnisses von Musik und Text deuten (ohne das ausgemacht wäre, ob Musik oder gesungener Text der Schall oder der Wahn sind). Und von den Ergebnissen eines veritablen Wahns ist auch in Das Blut an meinen Händen die Rede.

Der Macbeth-Bezug des Albumtitels ist für diesen Song konstitutiv:

Das Blut an meinen Händen ist von dir.
Ich habe es nicht selbst vergossen,
ich war zu feige, zu verdrossen,
ich brauchte dich dafür.

Das Blut in den Gedanken ist von dir.
Ich habe dich mir angeeignet,
einverleibt und ausgebeutet,
alles was ich weiß, weiß ich von dir.

Der Mut in den Gedanken ist von dir.
Du bist hier der Dichter,
und ich bin dein Vernichter.
Ich danke dir dafür.

Du schönster Neid!
Du schönste Gier!
Schönste Feigheit!
Bleibt bei mir!

Das Blut an meinen Händen ist von dir.
Ich habe es nicht selbst vergossen,
Ich war zu feige, zu verdrossen,
ich brauchte dich dafür.
(In: Segebrecht 2012, S. 7)

Ohne dass hier gesagt wird, wer spricht, um wessen Blut es sich handelt und an wen die Rede gerichtet ist, ruft die erste Strophe (die in der letzten Strophe exakt wiederholt wird) eine zentrale Szene von Shakespeares Königsmörder-Tragödie auf. In der ersten Szene des zweiten Aktes kommt Macbeth aus dem Gemach des Königs, den er soeben im Schlaf ermordet hat. Die blutigen Hände des vormals zaudernden Mörders, der also zunächst „zu feige, zu verdrossen“ war und von seiner machtgierigen Ehefrau zur Tat angestiftet wurde („ich brauchte dich dafür“), sind eine Verbildlichung seiner Schuld-Qualen, ein Symbol für die untilgbare Schuld, die der Täter auf sich geladen hat: „Kann wohl des großen Meergotts Ozean / Dies Blut von meiner Hand rein waschen?“ (Shakespeare, S. 628) Lady Macbeth ist nicht im gleichen Maß vom Bewusstsein einer Schuld betroffen: „Meine Hände / sind blutig, wie die deinen; doch ich schäme / Mich, daß mein Herz so weiß ist.“ (628) Die gesamte erste (und letzte) Strophe ist schon dadurch mehrdeutig, dass sie sowohl aus der Perspektive des Mörders als auch der Anstifterin geäußert sein kann – oder natürlich von keiner der beiden Figuren, wenn man der intertextuellen Spur trotz der sehr deutlichen Markierung nicht folgen möchte. Die Tragödie des Königsmordes aber und das große Seelendrama, das Shakespeare in der Folge des Mordes entfaltet, schwingen bei diesem Songtext immer mit.

Gleichsam zu einer Vergeistigung der handfesten Mordszenerie kommt es in der zweiten Strophe. Das Blut ist nicht mehr an den Händen, sondern „in den Gedanken“ – das Ich reflektiert eine Mimesis, die es an das offenkundig verehrte Du ausführt, ohne dass klar würde, ob das Du vom Ich buchstäblich oder metaphorisch „einverleibt und ausgebeutet“ wurde. Dieses Du ist dem sprechenden Ich eine Inspiration und eine geistige Ermutigung, wenn das vergossene „Blut“ nun mit einer lautlichen Verschiebung und einer davon suggerierten Kausalität auf den „Mut“ zurückgeführt wird. Der gedankliche Mut ist nötig, um das Blut, von dem zuvor die Rede war, überhaupt zu vergießen.

Genau in der Mitte des aus 20 Versen bestehenden Gedichts findet sich das für die Deutung des Textes zentrale Verspaar: „Du bist hier der Dichter / Und ich bin dein Vernichter“. Das Blut an den Händen des lyrischen Ichs stammt demnach vom „Dichter“, der durch die Macbeth-Anlehnung zugleich als König zu denken ist. Der Sänger schickt sich an, den Dichter zu vernichten – aber nicht um dessen Rolle abzuschaffen, sondern um sie einzunehmen. Zu diesem Zweck hat das singende Ich vom dichtenden Du gelernt („Alles was ich weiß, weiß ich von dir“), und zu diesem Zweck hat es sich das Du „angeeignet / einverleibt und ausgebeutet“. Das Songgedicht inszeniert eine blutige Initiation zum Dichter, die mit alten Hierarchien bricht.

Doch der Akt der dichterischen Selbstermächtigung ändert nicht die geistige Physiognomie des Ichs. Jegliche Heroisierung wird zurückgewiesen, das Ich will seine schlechten, aber ästhetischen Eigenschaften nicht aufgeben: „Du schönster Neid! / Du schönste Gier! / Schönste Feigheit! / Bleibt bei mir!“ Nicht überkommene Rollenvorstellungen werden adaptiert, vielmehr wird eine Mischung aus Schönheit und Neid, Gier und Feigheit besungen. Dies geschieht mit einem abweichenden Reimschema. Kommt in allen anderen Strophen ein umarmender Reim zur Anwendung, dessen einer Reimpartner sich durch alle Strophen zieht, verwendet diese Strophe einen Kreuzreim mit anderem lautlichen Material. Da diese Strophe als einzige zweimal gesungen wird und zudem mit dem musikalisch-dramatischen Höhepunkt zusammenfällt, ist hier – trotz und wegen der formalen Abweichung – das grundlegende Bekenntnis des lyrischen Ichs zu sehen.

Der Text ist lesbar als Allegorie auf die Übernahme der poetischen Autorität durch die Songlyrik, die dazu vom Dichter lernt, sich dessen Dichtertum aneignet und einverleibt. Literarische Songlyrik ist die Folge eines martialisch-kannibalischen Aktes, es verbleibt aber bei allem emanzipatorischen Furor auch ein Bekenntnis zur Abhängigkeit vom Vorbild des Dichters, dessen Schöpfungen intertextuell weitergeführt werden. Wenn im Schlussvers im Präteritum davon die Rede ist, dass das Ich das Du „brauchte“, wird zumindest nahegelegt, dass es dieser Unterstützung fürderhin nicht mehr bedarf. Triumphales Gebaren aber hat in dieser Situation keinen Ort, obwohl davon auszugehen ist, dass das Ich nun die imaginäre Königskrone des Dichters aufsetzt, dass sich also die Songlyrik selbst als Dichtung inthronisiert. Der poetologische Subtext, der die Rivalität, aber auch das hierarchische Verhältnis von Musik und Literatur, von Dichter und Sänger subtil reflektiert und ins Bild setzt, lässt es als kluge Wahl erscheinen, diesen Text für die Anthologie ausgewählt zu haben. Dass eine abschließende Aussage darüber unterlassen wird, ob der Sänger mit den blutigen Händen nun der neue Dichter ist, ist eine signifikante Leeerstelle – nicht programmatische Aussagen sollen am Ende stehen, sondern die lyrische Performanz, die es den Lesenden und Hörenden überlässt, über die lyrische Dignität des vorgelegten Textes zu befinden.

Epilog

Mit Blut an den Händen lässt sich womöglich nicht gut musizieren, das Blut kann indes als Schreibmaterial genutzt werden. Das Blut an meinen Händen ist ein Gedicht über das Dichten, ein Gesang über das Schreiben – der einmal mehr beweist, dass Worte in Popsongs weit mehr sein können als „bloß ein Klang, / den irgendein Depp sonst sang“ oder als „ein Geräusch / das nur sich selbst nennt“. Und sogar wenn das Geräusch nur sich selbst nennt, muss es noch lange kein bloßes Rauschen sein, sondern verweist auf poetische Mechanismen der Sinnproduktion – selbst noch im Gestus der Verweigerung.

Daher erscheint es – diese Majestätsbeleidigung sei gestattet – etwas zu kurz gedacht, wenn ausgerechnet der höchstdekorierte aller Songlyriker abstreitet, dass Songtexte auch jenseits ihrer musikalischen Darbietung bedeutungsvoll sein können. Als Bob Dylan für sein Œuvre mit der wichtigsten Auszeichnung der literarischen Welt bedacht wurde, war das eine beispiellose Geste der Aufwertung, die in ihrer Rezeption aber eher zu einem Bärendienst an der literarischen Perspektivierung von Songexten verkam. Daran hatte auch der Meister selbst seinen Anteil. In seiner Nobelpreis-Vorlesung, also einem für die Poetik von Songtexten durchaus zentralen Dokument, erklärt Dylan, es komme allein darauf an, dass ein Song den Hörer bewege. „Ich habe in meine Songs alle möglichen Dinge hineingeschrieben. Und ich mache mir keine Gedanken darüber, was das alles bedeuten soll.“ (Dylan 2018, S. 45) His Bobness – ein Tricks(t)er freilich auch er! – mag recht haben. Dass aber ein Dichter oder ein Songwriter nicht bedenkt, was seine Texte bedeuten mögen, sondern vordringlich daran interessiert ist, dass seine Gedichte oder seine Songs „gut klingen“ (Dylan 2018, S. 45), dürfte zum einen, wie die angeführten Blumfeld- und Tocotronic-Beispiele plausibel gemacht haben sollten, nicht für alle gelten, die Verse schreiben.

Zum anderen – und als Argument weit wichtiger – muss den geneigten Interpreten die Weigerung des Autors, über Bedeutung nachzudenken, nicht davon abhalten, seinerseits Bedeutungspotenziale auszuloten und Mechanismen zu beschreiben, die Bedeutungen generieren oder subvertieren. Just darin besteht die Aufgabe des Interpreten, die auch und gerade dann vom Gegenstand legitimiert wird, wenn dieser in der interpretierenden Betrachtung ein Ausmaß von Komplexität aufweist, das eine etwaige „Intention“ des Autors übersteigt. Zudem verschleiern gesungene Lieder aufgrund der Aufführungssituation ihre Bedeutungsschwierigkeiten (und diesen folgende Interpretationsprobleme), wie der Germanist Heinz Schlaffer bemerkt: „Über dunkle Stellen singt und hört man hinweg. Von der Anstrengung absorbiert, eine Verszeile laut und richtig zu singen oder zu sprechen, kümmern sich Sänger und Sprecher wenig um die Bedeutung einzelner Wörter und den Sinn des Textes. Metrum und Klang von Versen verkörpern sich in Silben, nicht in Wörtern. Der stumme Leser jedoch erfasst die räumliche Struktur des Textes, die sich in der Typographie darbietet, besser als die dynamische Bewegung, die sich aus dem Fortgang von Rhythmus und Klang ergibt. Erst bei stillem Lesen beginnt das Nachdenken über die Schwierigkeiten des Wortlauts.“ (Schlaffer 2012, S. 189)

Es bedarf dieses stillen Lesens, um das semantische Spektrum, das ein Songtext haben kann, auszuleuchten. Wenn ein Literaturnobelpreisträger gleichsam ex cathedra erklärt, Songs seien „etwas anderes als Literatur. Sie sollen gesungen, nicht gelesen werden“ (Dylan 2018, S. 47), dann wäre dem bekränzten Poeten, der keiner sein will, zu entgegnen, dass hier ein Gegensatz behauptet wird, der keiner ist. Songlyrik ausschließlich zu lesen, wäre eine verkürzende Rezeption (die freilich jedem freisteht). Das ist gleichwohl kein Argument gegen ihre Literarizität. Songtexte aber nur zu singen und zu hören, verschließt sie einem Zugang, der den Song nicht abschafft, sondern ihn als das literarisch-musikalische Kunstwerk begreifen lässt, das er sein kann, zuweilen sein möchte – und häufig genug auch ist.

Literatur

Büttner, Jean-Martin: Lass es klingen „wie ein wunderschönes Zugunglück“. Wie Songschreiber über ihr Handwerk reden und warum sie immer noch gebraucht werden. In: Songs. Hg. v. Eric Achermann u. Guido Naschert. Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 52 (2005), Heft 2. S. 234-252.

Deleuze, Gilles / Guattari, Félix: Kafka. Für eine kleine Literatur. Aus dem Französischen v. Burkhardt Kroeber. Frankfurt am Main 1976.

Diederichsen, Diedrich: Über Popmusik. Köln 2014.

Dylan, Bob: Die Nobelpreis-Vorlesung. Übersetzt von Heinrich Detering. 2. Auflage. Hamburg 2018.

Goethe, Johann Wolfgang: Ballade. Betrachtung und Auslegung. In: Goethes Werke. Hg. im Auftrag d. Großherzogin Sophie von Sachsen. – Weimarer Ausgabe. Bd. I/41.1. München 1987 (Fotomechanischer Nachdruck d. Ausgabe Weimar 1887–1919). S. 223-227.

Goethe, Johann Wolfgang: Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des West-östlichen Divans. In: Goethes Werke. Hg. im Auftrag d. Großherzogin Sophie von Sachsen. – Weimarer Ausgabe. Bd. I/7. München 1987 (Fotomechanischer Nachdruck d. Ausgabe Weimar 1887–1919). S. 1-254.

Schlaffer, Heinz: Geistersprache. Zweck und Mittel der Lyrik. München 2012.

Segebrecht, Wulf (Hg.): Deutsche Balladen. Gedichte, die dramatische Geschichten erzählen. München 2012.

Shakespeare, William: Macbeth. In: Ders.: Tragödien. Hg. v. Günther Klotz. Aus dem Englischen übersetzt v. August Wilhelm Schlegel, Dorothea Tieck u. Wolf Graf Baudissin. Berlin 2009. S. 605-684.