Medialität als realistisches Prinzip

Gottfried Kellers Umwertungen der Wirklichkeit

Von Dennis BorghardtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dennis Borghardt

Mimesis und Medialität

Zu den bekanntesten Prämissen, die den poetischen Realismus als Erzählverfahren kennzeichnen, gehört die – bisweilen programmatisch aufgeworfene, bisweilen auch in einen Vorwurf gewendete – Annahme, dass er sich auf das Prinzip der Mimesis, der Darstellung, Anverwandlung oder, in deren prominentester Übertragung, Nachahmung der Wirklichkeit beziehe. Tatsächlich werden in den zeitgenössischen Konversationslexika um die Mitte des 19. Jahrhunderts Realismus und Nachahmung konzeptionell häufig aufeinander bezogen. Realismus sei demnach eine „Kunsttheorie, welche die bloße Nachahmung der Natur als das höchste Ziel der Kunst betrachtet“, er lasse sich also in einem „Gegensatz zum ästhetischen Idealismus“ (Meyer 1850, 584) fassen. Das klassische Paradigma, das hier unverkennbar anklingt, ist die imitatio naturae; sie reicht historisch bis in die Antike zurück und vertritt charakteristischerweise eine Vorstellung regelgeleiteter Poiesis nach den Vorgehensweisen der Natur. Derartige Vorgehensweisen können gleichwohl unterschiedlich gedeutet werden: Während sie in Aristoteles’ wirkmächtiger Poetik (ca. 335 v. Chr.) nach den modallogischen Kriterien des Möglichen (δυνατόν, possibile), Wahrscheinlichen (εἰκός, probabile) und Notwendigen (ἀναγκαῖον, necessarium) ausgerichtet werden, entsprechen sie in Johann Christoph Gottscheds Critischer Dichtkunst vor die Deutschen (1730) ausdrücklich den Regeln der Vernunft – was auch immer ‚Vernunft‘ im Bedeutungsspektrum frühaufklärerischer Diskurse im Vergleich zu heutigen Auffassungen umfassen mag.

Eine zur Mitte des 19. Jahrhunderts verbreitete Haltung zur poetologischen Auseinandersetzung mit der Natur entspricht wiederum vielfach einer Auseinandersetzung mit der „wirkliche[n] Erscheinungswelt als Stoff und Masse, als das Erste und Ursprüngliche“ (Binder 1848, 662). Was vor dem Hintergrund eines essentialistisch geprägten Mimesis-Begriffs – wie ihn das „Mögliche“, die „Vernunft“ und das „Ursprüngliche“ implizieren können – aus heutiger literaturwissenschaftlicher Sicht genauere Blicke auf die Textphänomene ermöglicht, besteht, neben vielen anderen Fortentwicklungen der postmodernen Literaturtheorien, in einem dezidierten Einbezug der Medialität, der vermittelnden Funktion, die realistischen Zeichen zukommt. Für einen solchen Einbezug – wofür dieser Beitrag plädieren will – spricht bereits historisch, dass man im 19. Jahrhundert eine Vielzahl an Medienumbrüchen und -expansionen vorfinden kann. Sie haben nicht nur Auswirkungen auf die Textproduktion selbst, sondern prägen auch das poetologische Verständnis, den Begriff von ‚realistischer Literatur‘, ebenso entscheidend mit; zu nennen ist etwa die Ausbreitung der Formate ‚Brief‘, ‚Zeitung‘ und ‚Zeitschrift‘. Somit kann sich der Frage nach der Medialität des Erzählens von zwei Seiten, derjenigen des literarischen Formats und derjenigen der literarischen Zeichen im Sinne eines bestimmten erzählerischen Anspruchs, systematisch zugewandt werden. In diesem Beitrag soll, anschließend an unterschiedliche Forschungspositionen, vorwiegend die zweite Variante diskutiert werden. Bisher hat sich dem Nexus von Erzählen und Medialität beispielsweise van Laak ausführlicher gewidmet:

Wie konstituiert sich diese Mittelbarkeit [des epischen Erzählens, D. B.]? Woraus begründet sie sich? Erzählend vermitteln wir uns uns selbst und einem Verständnis unserer Erfahrungen von der Welt, mit der Welt und für sie: Erzählen heißt sich überschreiten, sich Welt und Welt sich vermitteln.
(van Laak 2009, 41)

Mit einiger Zuverlässigkeit wird hier zudem die Mimesis herangezogen, insofern van Laak zufolge für das Problem der Weltvermittlung die Welt und das Subjekt in einer wechselseitigen Abhängigkeit zuständig seien; sie erfährt im sprachlichen Kunstwerk eine diegetische Verwirklichung; demzufolge sei

[b]esonders bedeutsam […] der Übergangspunkt zwischen originärer Mittelbarkeit und Medialität. Hier vollzieht sich die Entäußerung, durch die Sprache, durch die Kommunikation, durch Akte der Mimesis und der Diegesis. Das Epische zu realisieren heißt also […], eine bestimmte Form der Entäußerung zu vollziehen, die als Diegesis bestimmt worden ist […].
(van Laak 2009, 57)

Medialität ist hier als Resultat eines Entäußerungsaktes zu denken, der sich im Spannungsfeld von Mimesis und Diegesis aufspannen lässt. Mag van Laak auch die Frage nach einem regelgeleiteten Naturbegriff an Stellen wie den zitierten nicht gesondert behandeln, so ist es doch ein unverdrossen platonisch und aristotelisch anmutendes Vokabular, namentlich Mimesis (μίμησις) und Diegesis (διήγησις), das zur Erläuterung medialer Fragestellungen herangezogen wird – was, mit Blick auf die poetologischen Einlassungen hierzu seit der Antike, auch berechtigt erscheint.

Auf prozessualer Ebene, auf der Ebene der Textverfahren, haben in den letzten Jahren zunehmend Analysen poetisch-realistischer Verfahrensweisen vor allem in ihren strukturlogischen Ausprägungen Aufmerksamkeit erhalten. Die literarischen Texte werden in diesem Sinn als verschiedentlich angelegte Repräsentationsverfahren von Wort-Welt-Verhältnissen, als Kippfiguren zwischen metonymischer und metaphorischer Weltaneignung oder bisweilen auch als Hypostasierung gnomischer Gemeinplätze beziehungsweise kultureller Codes verstanden. Das von Moritz Baßler vorgeschlagene, auf strukturalistischen und poststrukturalistischen Erwägungen beruhende Verfahrensmodell wird in der Verfahrensgeschichte Deutsche Erzählprosa 1850–1950 auf folgende Darstellung und Erläuterung hin zugespitzt:

Sobald sich ein individuelles Phänomen der Diegese (Ü) zu sehr mit Bedeutung () auflädt (in der Graphik links), ist der realistische Charakter des Textes gefährdet und die semiotische Bewegung des Textes kippt zurück auf die Achse der Metonymisierung (in der Graphik rechts). Sobald sich aber umgekehrt die Diegese nur noch historisch, faktual und alltäglich präsentiert, kippt die Bewegung zurück und es setzen wieder Prozesse der verklärenden Bedeutungsaufladung ein.
(Baßler 2015, 56)

Der strukturalistische Kern des Modells lässt sich dadurch beschreiben, dass die Intensivierung von Bedeutung einer paradigmatischen, die Folge an Erzählereignissen hingegen einer syntagmatischen Ebene entspricht. Der metaphorisch-symbolische Gehalt der Zeichen (‚paradigmatisch‘) steht – in erkennbarer Jakobson-Tradition – der metonymisch vermittelbaren Kontiguitätskette (‚Syntagma‘) gegenüber und spannt so etwas wie eine Diegese überhaupt erst auf. Es geschieht gewissermaßen nichts Realistisches, ohne dass die Realität zur Transzendenz strebt; es geschieht aber auch nichts Realistisches, ohne dass die Transzendenz wieder zum ‚Boden‘ der Tatsachen zurückkehrt. Mit Blick auf das Thema Medialität benötigt die von Baßler beschriebene Kippfigur indes ein zweifach vermittelndes Moment, nämlich einerseits vermittelnd zwischen Paradigma und Syntagma sowie andererseits vermittelnd zwischen den beiden semiotischen Umwertungsprozessen selbst. Wenn also, um ein in der Literaturwissenschaft gerne diskutiertes Beispiel aufzugreifen, in der Begräbnis-Passage der Anna im Grünen Heinrich beim Anfertigen des Sargdeckels plötzlich Engelsfiguren – dezidiert nicht-existente und damit nicht-mimetische Figuren – auf dem Glas auftauchen, so fungiert der Glasdeckel selbst als Medium zwischen den beiden Prozessebenen und wird vom Protagonisten Heinrich Lee auch derart markiert:

Dann hob ich sie [sc. die Glasscheibe des Sargs] empor und ließ das lautere Wasser ablaufen, und indem ich das glänzende Glas hoch gegen die Sonne hielt und durch dasselbe schaute, erblickte ich das lieblichste Wunder, das ich je gesehen. Ich sah nämlich drei reizende, musizierende Engelknaben; der mittlere hielt ein Notenblatt und sang, die beiden anderen spielten auf altertümlichen Geigen, und alle schaueten freudig und andachtsvoll nach oben; aber die Erscheinung war so luftig und zart durchsichtig, daß ich nicht wußte, ob sie auf den Sonnenstrahlen, im Glase oder nur in meiner Phantasie schwebte. Wenn ich die Scheibe bewegte, verschwanden die Engel auf Augenblicke, bis ich sie plötzlich mit einer anderen Wendung wieder entdeckte. Ich habe seither erfahren, daß Kupferstiche oder Zeichnungen, welche lange, lange Jahre hinter einem Glase ungestört liegen, während der dunklen Nächte dieser Jahre sich dem Glase mitteilen und gleichsam ihr dauerndes Spiegelbild in demselben zurücklassen.
(Keller, Der grüne Heinrich, 533)

Zu Beginn steht hier die Verklärung der noch zu beerdigenden Anna anhand der im Sargdeckel aufscheinenden Engelgestalten. Dann folgt jedoch die realistische Rückführung auf eine kausale Erklärung (vgl. konzise Baßler 2015, 54f.). Beides, die Richtung gen Himmel und die Richtung gen Sargwerkstatt, sind indes – neben ihrer Rolle als „semiotische[r] Dauerkippbewegung“ (ebd., 56) – auch als Vermittlungsmodi des realistischen Erzählens anzusehen – wobei hier die Mittel der Metapher („sich […] mitteilen“) und des Vergleichs („gleichsam […] zurücklassen“) gleichermaßen zur Anwendung kommen. Die Glasscheibe markiert nicht weniger als einen Zwischenbereich zwischen der Verklärung und der realistischen Metonymie; sie entzieht sich einer Reduktion auf ihre Funktion als bloß transzendierender Symbolträger ebenso wie auf ihre bloße Einbettung in die Ereigniskette und wird gerade dadurch zum medialen Garanten für die von Baßler benannte Kippfigur.

Literarische Umwertungsprozesse

Das vorgetragene Prinzip lässt sich neben seiner Vermittlungsfunktion in Form von Umwertungsprozessen divergenter Zeichensysteme auf die Ebene einer konvergenten, wenn man so möchte: poetisch-realistischen Wertereihe hin beschreiben. Die Engel betreten nicht nur auf epiphanische Weise die Szenerie, sondern scheinen in einem über diese hinausgehenden poetologischen Bereich auf – in einer Sphäre, wo die ‚Gesetze des Himmels‘ gelten; auf der andere Seite wird mit der physischen Imprägnierung der Glasplatte ein Bereich markiert, in dem die mechanischen Naturgesetze in ihrer schieren Materialität wirken. Beide Sphären sind jedoch in der Logik des Realismus wertbesetzt, ohne sich auf bloße Referenzfunktionen zu beschränken. Denn Kellers Realismus geht es nicht um ein schlichtes Bewerten der Wirklichkeit im Sinne eines Erzeugens von Bezugsmomenten zwischen ursprünglich divergenten Sphären (mit Otto Ludwig gesprochen: im Feld „[z]wischen Himmel und Erde“), sondern um realistische Werte, die überhaupt erst in ‚mittleren‘ Texturen, in oszillierenden Verklärungs- und Kausalitätsangeboten ihre spezifische Gültigkeit erhalten. Hierzu lässt sich auf die in vielerlei Hinsicht hilfreiche Unterscheidung zurückgreifen, die François Vatin mit Rückgriff auf das französische Begriffspaar évaluer und valoriser vertritt. Die „Wertschöpfung“ einer Sache – um eine ökonomische Metapher zu entleihen – sei demzufolge nicht aus der reinen Bewertung derselbigen erschließbar:

However, I argue here that the French language helps us to stress, within valuation, the difference between assessment of value (évaluer) and production of value (valoriser), both confused in English by the most common words: valuation, valuing, or valuating.
(Vatin 2013, 31)

In noch jüngerer Zeit hat sich auch Michael Hutter dieser Unterscheidung angeschlossen; bei Hutter bedeutet valoriser beziehungsweise valuating einen Prozess, durch den „ästhetische Objekte in Wert gesetzt“ werden. (Hutter 2018, 254) Während ein Bewertungsakt zuvorderst auf ein Referenzmoment zu einem Gegenstand angewiesen ist, bedeutet das Valorisieren eine Art kulturpoetischen Akt, durch den sich Werte und Wirklichkeiten erst erzeugen lassen. Mediale Umwertungen meinen nun – so ein Vorschlag, der hier zunächst heuristisch vorgebracht wird – nicht das Fortschreiben bereits vorgefundener Werte, sondern produktive Zeichenprozesse im Spannungsfeld von paradigmatischer Ersetzung und syntagmatischer Vermittlung, sofern man dieses doppelt medial auffasst. Anders gewendet: Medialität bedeutet Vermittlung zwischen divergenten Systemen, die gerade dadurch gelingt, dass ein neuer, ‚realistischer‘ Wert geschaffen wird. Dieser ist durch mehr bestimmt als durch seine Bezugnahme auf stabile präsupponierte Wertemuster, er schafft vielmehr neue Zeichen von eigener Prägnanz. Hierdurch eröffnet sich überhaupt erst der zeichentheoretische Möglichkeitsraum des Poetischen Realismus, der kein Ausschöpfen eines Reservoirs an mythologisch, religiös, gnomisch oder überhaupt symbolisch aufgeladenen Zeichen meint und ebenso wenig an einer bloßen Bereitstellung an kausalen Anschlüssen im Rahmen ‚wirklichkeitsgetreuer‘ Diegesen interessiert ist.

Zur Illustration dieses Umstands sollen drei analytische Zugriffe auf das prosaische Œuvre Kellers dienen, deren Auswahl sich sowohl auf ihrer Prominenz als auch auf ihrer Illustrationskraft gründet: Die mißbrauchten Liebesbriefe (1874), Der grüne Heinrich (1854/1855), namentlich die sogenannte ‚Meierlein-Episode‘, sowie die wohl berühmteste Novelle Kellers, Romeo und Julia auf dem Dorfe (1856), die auch heute noch regelmäßiger Bestandteil der Schullektüre ist. Die in den Texten verhandelten Zeichen, deren medialer Zuschnitt besonders hervorsticht, sind ‚Brief‘ (Die mißbrauchten Liebesbriefe), ‚Geld‘ (Der grüne Heinrich) und ‚Zeitung‘ (Romeo und Julia auf dem Dorfe).

Die mißbrauchten Liebesbriefe (1874)

Wenn die Verschiebung von Zeichen als Voraussetzung der Diegese, mithin als realistisches Prinzip fungiert, so bedeutet etwa der Briefwechsel in den Mißbrauchten Liebesbriefen eine Medialität, die sich permanent selbst ausstellt. Besonders sichtbar wird dies an einer Stelle, die als ephemere Leerstelle der metonymischen Verschiebungskette der Ereignisse aufzufassen ist – der Moment der Enttarnung Gritlis und Wilhelms:

Mit diesem verrückten Gesange weckte er [sc. Viggi Störteler] einen schlanken jungen Mann auf, welcher unter einer Tanne saß und den Kopf auf die Hand gestützt in tiefen Gedanken in das Tal schaute. Es war Wilhelm, welcher sich auf den ersten Ton von Herrn Störtelers Gesang erhob und davon eilte. Dafür setzte sich dieser an seinen Platz, als er eine dicke Brieftasche dort liegen sah, die jener offenbar vergessen hatte.
(Keller, Die mißbrauchten Liebesbriefe, 391)

Zunächst finden wir eine paradigmatische Überhöhung der Figur Wilhelm vor, die einen Gelehrtentypus mittelalterlicher Prägung bis hin zur Lyrik Walthers von der Vogelweide (Ich saz ûf eime steine) anklingen lässt. Die zurückgelassene Brieftasche enthält nun die vermeintlichen Briefe Gritlis, die in Wahrheit von Schulmeister Wilhelm geschrieben wurden. Die Briefe dienen in einem kurzen Moment als Platzhalter für die Diegese. Die fortwährende Verschiebung von semiotischen Platzhaltern und Stellvertretern wiederum ist – sowohl im Bereich der Figuren wie auch dem der Objekte – als das eigentliche Grundsujet der Erzählung anzusehen: ‚Kunst‘ nimmt den Platz von ‚Liebe‘ ein –  Viggi geht als Möchtegern-Schöngeist auf ‚Künstlerreise‘, seine Briefe ersetzen die körperliche Nähe zwischen ihm und Gritli, Wilhelm wiederum ersetzt Gritlis fehlenden Genius usw. Die oben angeführte Szene wurde bisweilen folgendermaßen gedeutet: „Die Szenerie gerät außer Kontrolle, als das Medium durch einen dummen Zufall sichtbar und ‚Autorschaft‘ auf ihre medialen Voraussetzungen zurückgeworfen wird.“ (Günter 2008, 130) Demgegenüber ist festzuhalten, dass hier gar nicht so viel außer Kontrolle gerät; werden doch, im Gegenteil, die divergenten, nichtsdestoweniger wertbesetzten Sphären ‚Kunst‘ und ‚Liebe‘ über die für einen kurzen Moment freigewordene Stelle in der metonymischen Ereignisverkettung gekreuzt und dadurch überhaupt erst ein (wenn auch kurioses) Konzept von Autorschaft hervorgebracht. Nicht wird Autorschaft in dieser Szene auf ihre Medialität zurückgeworfen, vielmehr sehen wir für einen kurzen Moment das Medium die Brieftasche unter der Tanne in seiner schieren Medialität vorliegen. Dies führt jedoch in überhaupt keine Unordnung. Die metonymische Achse der Narration wird vielmehr stabilisiert, insofern der Handlungsumschwung genau hiervon abhängt und in der Folge neue Elemente hervorbringt. Die Szene führt narrationslogisch zum Gerichtsprozess, den Viggi gegenüber Gritli wegen ‚Betrugs‘ anstrengt, der ihm letztlich aber im Dorf nur einen schlechten Leumund einbringt. Am Ende stehen zwei Liebespaare – ein pseudo-intellektuelles (Viggi und Käthchen Ambach, genannt Kätter) – und ein ideell aufgeladenes (Gritli und Wilhelm), von denen freilich nur letzteres die Diegese weiterschreibt, indem es Nachfahren zeugt.

Der Grüne Heinrich (1854/1855)

Im Grünen Heinrich wird im achten Kapitel des ersten Buchs, in der sogenannten Meierlein-Episode, die als Teil der Jugendgeschichte sowohl Bestandteil der ersten als auch der zweiten Fassung (1879/1880) ist, die Verrechnung von Freundschaftserlebnissen und Geld zum zentralen Sujet: Heinrich Lee erhöht sein soziales Prestige durch Teilnahme an feierlichen Umzügen und ersten Gelagen mit Freunden aus der eigenen Stadt sowie aus einem Nachbarort. Hierzu verhilft ihm ein von ihm und seiner Mutter so genanntes „Schatzkästchen“ mit Ersparnissen, die eigentlich für spätere – und natürlich vernünftigere – Zwecke bestimmt waren. Durch seine Freigebigkeit schart er jedoch immerhin eine beeindruckende peer group um sich:

Meine neuen Freunde ließen mir nicht Zeit, aus meiner Verirrung zu kommen; schon der nächste Tag, an dem ich, selbst eine Art von Größe, in der renommiertesten Gesellschaft unserer Stadt zu sehen war, weckte alle neuen Erinnerungen wieder, die Nachklänge des Festes gaben Gelegenheit, den Rest meiner Barschaft anzubringen und dagegen neue Lorbeeren einzutauschen.
(Keller, Der grüne Heinrich, 174)

Gleichsam auf einen Höhepunkt getrieben wird das Spiel zwischen Geld und sozialen Ereignissen, die als Tauscherlebnisse erfahrbar gemacht werden, in Heinrichs Freundschaft mit Meierlein. Dieser nämlich beginnt, eine Buchhaltung über Schulden zu führen, die beim Spielen mit Heinrich entstehen und schließlich ordnungsgemäß abgerechnet werden müssen:

Nur für sich selbst war er mit noch größerem Eifer bedacht, als die übrigen, und sich nicht begnügend mit meiner unmittelbaren Freigebigkeit, errichtete er mit großer Einsicht ein Schuldverhältnis zwischen mir und ihm, indem er sich haushälterisch aus meinem Gelde eine kleine Kasse ansammelte, aus welcher er mir, wenn ich augenblicklich nicht über mein Kästchen konnte, mäßige Vorschüsse machte, die wir gemeinsam verbrauchten und die er in ein zierlich angefertigtes Büchelchen eintrug, dessen Seiten mit Soll und Haben ansehlich überschrieben waren.
(Ebd., 177)

Die Sphären der ungezwungenen freundschaftlichen Erlebnisse und die einer krypto-bürokratischen Finanzbuchhaltung scheinen prima facie nur wenig gemein zu haben. Daher nimmt Heinrich es zunächst auch gar nicht ernst, wenn Meierlein am Ende des gemeinsam verbrachten Sommers zuerst bei Heinrichs Mutter und dann beim Schuldirektor zur Eintreibung der Schulden (5 Gulden und 30 Kreuzer) vorstellig wird. Welche poetologischen Aussagen, abseits der für sich genommen bereits reizvollen Figurenkonstellation, werden aber in diesen Szenen sichtbar gemacht? Mit Blick auf die Forschung der letzten Jahre sind vor allem die Diskurse über die sich im 19. Jahrhundert formierende Nationalökonomie in den literaturwissenschaftlichen Blick gerückt; dies kann für die allgemeine Tendenz stehen, dass in ökonomischer Hinsicht die Fortentwicklung von subsistenten Wirtschaftsweisen hin zum Frühkapitalismus neue Ansprüche an eine Nationalökonomie stellt, die den Vermittlungswert des Geldes theoretisch reflektieren muss. Geld etabliert sich auf der einen Seite als ubiquitärer Wertträger und wird andererseits darüber hinaus zu einem elementaren Zeichenträger in realistischen Texten, der verschiedene Lebenssphären und Wertesysteme miteinander konvergieren lässt; es macht Dinge vermittelbar, die sonst schwer vermittelbar sind.

Dieser Aspekt ist für die gesamte poetisch-realistische Literatur (spätestens ab Gustav Freytags Soll und Haben) derart bedeutsam, dass sich hierzu ein ausführlicherer Blick auf die Forschungsdiskussion lohnt: Bei Titzmann (2002), Rakow (2013) und Agethen (2018) wird das Verhältnis des Poetischen Realismus zu nationalökonomischen Diskursen durchaus kontrovers behandelt. Michael Titzmann spricht diesbezüglich noch von einer regelrechten poetologischen Ausschlussfigur:

Der Realismus ist nun bekanntlich durch seine Ausgrenzung charakterisiert: durch das, was er von der Darstellung ausschließt, so etwa weitestgehend, mit Ausnahmen etwa bei Spielhagen, die seinerzeitigen ökonomischen Innovationsprozesse, Industrialisierung und Kapitalismus[.]
(Titzmann 2002, 183)

Christian Rakow möchte einen solchen Befund in seiner Studie Die Ökonomien des Realismus von 2013 nicht stehen lassen. Er spricht zwar auch an einigen Stellen von einer gewissen ‚Diskursarmut‘, die dem poetischen Realismus innewohne, sieht jedoch strukturelle Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Sphären der Ökonomie und des poetischen Realismus in Kellers Œuvre vereint:

Das Streben nach Übercodierung der bloß metonymisch generierten Darstellung vereint die realistische Textarbeit über die Grenzverläufe zwischen Ökonomie und Literatur hinweg. Die Gemeinsamkeiten entstammen weniger direkten, personalen Austauschprozessen. Vielmehr sind sie Effekt der textuellen Speicherung und Verbreitung in den modernen Massenmedien. […] Innerhalb dieser Strukturgemeinsamkeiten bestehen gleichwohl […] Unterschiede zwischen den Diskursen und ihren je spezifischen Gegenständen.
(Rakow 2013, 209)

Rakow zählt daraufhin solche Unterschiede auf, die sich bei ihm grosso modo entlang der Ebene verschiedener Subjektivitätsbegriffe bewegen, etwa dass der ökonomische Diskurs Kollektivsubjektivität höher hält als der poetische Realismus. Für Matthias Agethen wiederum ist dieser Befund offenbar zu unspezifisch beziehungsweise dieser geht ihm nicht weit genug:

Die Feststellung dieser sehr basalen textuellen Übereinstimmungen soll freilich nicht bestritten werden. Das Verhältnis von ökonomischem und literarischem Diskurs in seiner konkreten historischen Gestalt im 19. Jahrhundert ist allerdings ungleich komplexer als dass es durch die Feststellung gemeinsamer ‚Textverfahren‘ (‚realistischer Text‘) hinreichend beschreiben wäre.
(Agethen 2018, 64)

Hieraus schließt er weiter:

Es sind hier also auch methodische Zugriffe vonnöten, die die Literatur des Realismus in ihrer Funktion als Medium bürgerlicher Willensbildung, als Reflexionsmedium bürgerlicher Werte und Identität sowie als Vermittlungsmedium von Ideologie, Wissen und ‚Kultur‘ beschreibbar machen.
(Ebd., 65)

Divergent sind also auch für Agethen die Diskurse, die im poetischen Realismus gleichsam aufeinanderprallen; nichtsdestoweniger sind sie, wie von ihm an anderer Stelle gesagt wird, „eng [miteinander] korreliert“ (ebd.). Die Kontroverse zwischen Titzmann, Rakow und Agethen lässt sich, wenn schon nicht auf Ebene der poetologischen Verfahren, so doch eventuell auf semiotischer Ebene schlichten –  wenn man etwa ‚Geld‘, wie im Grünen Heinrich, primär als Umrechnungsmedium zwischen den divergenten Wertesphären begreift. Es gewinnt seine Dynamik aus der prinzipiellen Übersetzbarkeit ideeller Topoi in profane Gegenstände und vice versa; ebenso kann es mit diesen Mechanismen souverän brechen. Denn nichts anderes zählt zu den genuinen, ironischen Lebenserfahrungen von Heinrich Lee, als dass Geld symbolische Wirklichkeit, ja Freundschaft ermöglicht, die Wirklichkeit aber gleichsam zurückschlägt, indem sie Buchhaltungen erzeugt.

Romeo und Julia auf dem Dorfe (1856)

Es sei noch ein dritter, kurzer Blick auf Romeo und Julia auf dem Dorfe geworfen. Dort bietet bekanntlich ein Zeitungsartikel aus der Züricher Freitags-Zeitung den produktionsästhetischen Impuls zur Verfassung der Novelle. Keller schreibt an seinen Verleger Ferdinand Weibert diesbezüglich:

Diese Geschichte zu erzählen würde eine müßige Nachahmung sein, wenn sie nicht auf einem wirklichen Vorfall beruhte, zum Beweise, wie tief im Menschenleben jede jener Fabeln wurzelt, auf welche die großen alten Werke gebaut sind. Die Zahl solcher Fabeln ist mäßig; aber stets treten sie in neuem Gewande wieder in die Erscheinung und zwingen alsdann die Hand, sie festzuhalten.
(Keller, An Weibert, 29. August 1875)

Diese poetologisch vielsagende Passage – worin immerhin „Nachahmung“ statt, wie in der Urfassung, „Erfindung“ steht und diese zudem pejorativ bewertet wird – wird zum neuen Prolog der Novelle in ihrer Sonderausgabe von 1875. Das Medium der von Keller heranzitierten „wirklichen Vorf[ä]ll[e]“, das im 19. Jahrhundert eine große Expansion erfährt, ist die Zeitung. In diesem Sinn erzeugt der Schluss der Novelle eine Art novellistische Ringkomposition, indem er zur Zeitung zurückkehrt:

Als man später unterhalb der Stadt die Leichen fand und ihre Herkunft ausgemittelt hatte, war in den Zeitungen zu lesen, zwei junge Leute, die Kinder zweier blutarmen zu Grunde gegangenen Familien, welche in unversöhnlicher Feindschaft lebten, hätten im Wasser den Tod gesucht, nachdem sie einen ganzen Nachmittag herzlich mit einander getanzt und sich belustigt auf einer Kirchweih. Es sei dies Ereignis vermutlich in Verbindung zu bringen mit einem Heuschiff aus jener Gegend, welches ohne Schiffleute in der Stadt gelandet sei, und man nehme an, die jungen Leute haben das Schiff entwendet, um darauf ihre verzweifelte und gottverlassene Hochzeit zu halten, abermals ein Zeichen von der um sich greifenden Entsittlichung und Verwilderung der Leidenschaften.
(Keller, Romeo und Julia auf dem Dorfe, 144)

Die realistische Ausdeutung der Ereignisse findet demnach in einer Zeitung innerhalb der Fiktion statt. Singuläre Ereignisse wie der Tod eines Liebespaares sind zugleich Zeichen für etwas Allgemeines, hier namentlich für das scheinbare zeitgenössische Phänomen der Dekadenz. Die Umwertungsprozesse entsprechen hier gewissermaßen einem Dreischritt: Es ist ein Zeitungsartikel, der zur Fiktion führt, aber nur im allgemeinen Sinn, denn die Fiktion macht hieraus „Romeo und Julia“, erhöht die Figuren also im Sinne einer paradigmatischen Verklärung; die Fiktion lässt wiederum zum Schluss die Zeitung wieder sprechen. Der realistische Wert, der hier erzeugt wird, ist die Rückführung des Mediums auf sich selbst anhand einer zwischen Verklärung („Romeo und Julia“) und realistischer Darstellbarkeit („auf dem Dorfe“) changierenden Poetologie.

Fazit – Mediale Semiosen

Wie exemplarisch anhand der Medien ‚Brief‘, ‚Geld‘ und ‚Zeitung‘ dargestellt, benötigt der poetische Realismus mindestens zwei Formen medialer Verfahren, um ‚realistisch‘ zu sein – einerseits die Vermittlung von Zeichen zwischen ihrer Kontiguität zu anderen Zeichen und ihrer paradigmatischen Symbolkraft, andererseits die Vermittlung zwischen diesen Vermittlungsverfahren selbst. Befunde wie derjenige Reichelts aus den frühen Nullerjahren sind daher mit Recht zu revidieren:

Konzepte, die dem Realitätsprinzip opponieren oder es aufzulösen trachten, werden im theoretischen Diskurs der Literaturwissenschaft heute nicht in erster Linie dem Fiktionsbegriff, dem Imaginären oder der Fantastik zugeschlagen, sondern entstammen meist der medientheoretischen Reflexion.
(Reichelt 2001, 17)

Vielleicht lässt sich am ehesten von medialen Semiosen sprechen, wenn damit vorsichtig eine Verfahrensweise bezeichnet wird, die – wie die exemplarischen Textstellen aus Kellers Œuvre gezeigt haben – ein ebenso produktives wie valorisierendes Moment enthält, welches die divergenten Felder von Paradigma und Syntagma konvergieren lässt. Allgemein gewendet stellt die Valorisierung poetischer Zeichen in divergenten Systemen (Kommunikationsmedien, Informationsmedien, Freundschaft, Geld etc.) die Verfügbarmachung von Wirklichkeitssubstraten überhaupt aus und erzeugt anhand miteinander interagierender und ineinander verwertbarer Zeichensysteme ein poetologisches Moment, das nicht in mimetischen Bild/Abbild-Verhältnissen aufgeht, sondern ‚nur noch‘ über unterschiedliche Stabilitätsgrade verfügt. Stabilität ist dann nicht im Sinne eines ‚Bedeutungskerns‘ aufzufassen, der realistischen Texten in welcher Weise auch immer zukomme, sondern als ein dynamischer Zustand von Vermittlungszeichen und deren textueller Nutzbarmachung. Die Kippverhältnisse zwischen paradigmatischer Verklärung und Metonymisierung werden dadurch stabil oder instabil gehalten, dass ein bestimmtes Medium Stabilität versprechen kann und diese auch einlöst – oder eben nicht. Kellers Realismus kennt beide Möglichkeiten, der Stabilisierung und der Destabilisierung, und führt sie stets nur im Bewusstsein der jeweiligen Kehrseite aus.

Hinweis: Der Essay basiert auf einem Vortrag, der am 24.05.2019 an der Universität Zürich im Rahmen des internationalen Kongresses „Welt Wollen. Gottfried Kellers Moderne (1819–1890)“ gehalten wurde.

Literaturangaben:

Agethen, Matthias: Vergemeinschaftung, Modernisierung, Verausgabung, Nationalökonomie und Erzählliteratur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2018.

Baßler, Moritz: Deutsche Erzählliteratur 1850–1950, Eine Geschichte literarischer Verfahren, Berlin 2015.

Binder, Wilhelm (Hg.): Allgemeine Realenzyklopädie oder Konversationslexika für das katholische Deutschland, Bd. 8, Regensburg 1848.

Günter, Manuela: Im Vorhof der Kunst, Mediengeschichten der Literatur im 19. Jahrhundert, Bielefeld 2008.

Hutter, Michael: „Valorisierung“. In: Bayes, Timon / Metelmann, Jörg (Hg.): Der Kreativitätskomplex, Bielefeld 2018, 252–256.

Keller, Gottfried: Der Grüne Heinrich, Erste Fassung, herausgegeben von Thomas Böning und Gerhard Kaiser, Frankfurt am Main 2007.

Keller, Gottfried: „Die mißbrauchten Liebebriefe“. In: Ders., Die Leute von Seldwyla, herausgegeben von Thomas Böning, Frankfurt am Main 2006, 364–437.

Keller, Gottfried: „Romeo und Julia auf dem Dorfe“. In: Ders., Die Leute von Seldwyla, herausgegeben von Thomas Böning, Frankfurt am Main 2006, 69–144.

Laak, Lothar van: Medien und Medialität des Epischen in Literatur und Film des 20. Jahrhunderts, Bertolt Brecht – Uwe Johnson – Lars von Trier, München 2009.

Meyer, Joseph (Hg.): Das große Konversationslexikon für die gebildeten Stände, Abt. 2: O–Z, Bd. 5, Leipzig/Wien 1850.

Rakow, Christian: Die Ökonomien des Realismus, Kulturpoetische Untersuchungen zur Literatur und Volkswirtschaftslehre 1850–1900, Berlin/Boston 2013.

Reichelt, Gregor: Fantastik im Realismus, Literarische und gesellschaftliche Einbildungskraft bei Keller, Storm und Fontane, Stuttgart/Weimar 2001.

Titzmann, Michael: ‚Grenzziehung‘ vs. ‚Grenztilgung‘. In: Krah, Hans (Hg.): Weltentwürfe in Literatur und Medien, Phantastische Wirklichkeiten, realistische Imaginationen, Kiel 2002, 181–209.

Vatin, François: „Valuation as Evaluating and Valorizing“. In: Valuation Studies 1(1) 2013, 31–50.