„Ich bin. Aber ich habe mich nicht.“
Über Rachel Kushners Roman „Ich bin ein Schicksal“
Von Peter Kock![RSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Kock](/rss/rss.gif)
Ohne Umschweife springt Rachel Kushners Roman Ich bin ein Schicksal mitten in die Handlung hinein – einen Gefangenentransport, in dem 60 weibliche Häftlinge mitten in der Nacht von einer kalifornischen Untersuchungshaftanstalt in Ketten zu einem Frauengefängnis transportiert werden. Die Handlung setzt 2003 ein, kurz vor dem Einmarsch der USA in den Irak. Kaum eine der Gefangenen weiß, wo das überhaupt liegt, beiläufig heißt es später: „Als ob es diese Länder nicht gibt, bis wir sie bombardieren.“
Die Ich-Erzählerin, die den größten Teil des Romans bestreitet, stellt sich gleich zu Beginn vor: Romy Hall, 29 Jahre alt, berichtet lakonisch und nahezu trotzig aus ihrem Leben, wendet sich wiederholt direkt an ihre Leser(innen) – sie hätten vielleicht das Gleiche getan wie ihr Freund, der nach ihrer Verurteilung zu zweimal lebenslänglich plus sechs Jahren die Verbindung zu ihr abgebrochen hat. Diese Strafe wurde ihr auferlegt, weil sie ihren Stalker getötet hat. Sie bereut diese Tat nicht, nur, dass sie in dem Striplokal Mars Room gearbeitet hat, wo sie ihn kennengelernt hat. Aufgewachsen bei einer kaltherzigen Mutter in einem heruntergekommenen Viertel San Franciscos gerät sie trotz guter Ansätze in der Schule – sie liest beispielsweise sehr gerne – mit ihren Freunden rasch in die Punkerszene, in Drogenabhängigkeit und Kleinkriminalität. Mit elf Jahren wird sie das erste Mal missbraucht, als sie nachts herumirrt und einem Mann, der ihr Hilfe verspricht, aufs Hotelzimmer folgt. Schließlich finanziert sie ihre Sucht als Stripperin und Lapdancerin, verdient ganz gut und setzt die Drogen ab, als sie Mutter eines Sohnes wird. Der Umgang mit den Männern im Mars Room ist entwürdigend und macht Romy – obwohl sie ihre Kunden finanziell ausnimmt – latent wütend.
Diese Vorgeschichte nimmt nach und nach Gestalt an, während Romy mit ihren Mithäftlingen, von denen wir einige ausführlicher kennenlernen, in das Frauengefängnis transportiert und dort empfangen wird. Der überwiegende Teil des Buches ist aus ihrer Perspektive geschildert, eingeschobene Kapitel sind mit einer Ausnahme aus der Sicht von Männerfiguren erzählt, aber alle in Er-Form gehalten. Am ausführlichsten erfahren wir vom Werdegang des im Knast tätigen Literaturlehrers Gordon Hauser, mit dem Romy allmählich in engeren Kontakt kommt. Dann gibt es längere Abschnitte aus der Sicht eines ebenfalls inhaftierten korrupten Polizisten namens Doc, der mehrere Morde, auch Auftragsmorde begangen hat. Und gegen Schluss wird die unmittelbare Vorgeschichte des Totschlags, den Romy begangen hat, aus der Sicht ihres Stalkers Kennedy beschrieben. Hinzu kommen, vor allem zu Beginn, kurze, collageartige Einschübe dokumentarischen Materials zur Knastrealität: eine Liste dessen, was alles im Gefängnis verboten ist, kleinlichste Vorschriften für Besucher(innen), Fragebögen zur Berufstätigkeit der inhaftierten Frauen – die Sorte Material, die für sich spricht und keiner fiktiven Bearbeitung bedarf.
Der Lehrer Hauser, in großer innerer Distanz zum übrigen Gefängnispersonal, das auch innerhalb der Polizeihierarchie als unterste Stufe gilt, beschäftigt sich in seinen Überlegungen, was er in diesem System von Schuld und Strafe eigentlich ausrichten kann, nicht nur mit Fjodor M. Dostojewski, sondern auch mit Henry David Thoreau, dem Waldgänger. Hauser wohnt, möglichst weit entfernt vom deprimierenden Knastkosmos, in einer Berghütte im Wald weit über dem Tal, in dem das Gefängnis steht. Von dem früheren Mathematikprofessor und Individualterroristen Ted Kaczynski, dem „Una-Bomber“, der ebenfalls in einer Waldhütte gelebt und etliche Anschläge verübt hat, sind mehrere Tagebuchauszüge im Roman verteilt – auch das ist Teil des geistigen Spannbogens des Werks.
Diese Perspektivenvielfalt tut der guten Lesbarkeit des Romans keinerlei Abbruch. Mit Ich bin ein Schicksal hat man – eine Prise Pathos riskierend – eine Kapitelüberschrift aus Friedrich Nietzsches Ecce Homo für die deutsche Übersetzung gewählt, anstatt beim schlichten Mars Room des Originals zu bleiben. Über das Einzelschicksal Romys hinaus ermöglichen die eingeschobenen Kapitel aus männlicher Perspektive die Ausweitung der Blickwinkel auf die brutale Gefängniswirklichkeit. Hauser bildet dabei den positiven Kontrapunkt zu den die Männergewalt verkörpernden Doc und Kennedy, oder auch Kaczynski. Romy lernt rasch die Spielregeln des gesellschaftlichen Subsystems Knast kennen: nicht weinen, keine privaten Einzelheiten verraten, sich in der Hierarchie behaupten, Bündnisse schließen. Der streckenweise rohe, gewaltförmige Umgang der Häftlinge untereinander erscheint als konsequente Verlängerung des sie umgebenden Systems von Demütigung, Entmündigung und Entmenschlichung. Sexuelle Kontakte fast aller Beamten mit den Frauen gegen Gefälligkeiten, die Stupidität der Gefängnisarbeit, die eine eigene Industrie bildet sowie ein ausgefeiltes System von Schmuggel und Korruption schaffen einen eigenen Kosmos. Vielleicht könnte man, in Analogie zu Eisenhowers „militärisch-industriellem Komplex“, von einem bürokratisch-repressiven Knastkomplex sprechen. Als ein schwangeres Mädchen unter den Häftlingen beim Empfang nach der nächtlichen Busfahrt im Frauengefängis ihre Presswehen bekommt, weigern sich Romy und zwei Mitgefangene, sitzen zu bleiben und auf die Sanitäter zu warten und stehen dem Mädchen bei. Ihr Widerstand wird brutal niedergeschlagen, sie werden mit Tasern elektrogeschockt und kommen in Isolationshaft.
Kushner verwahrt sich in Pressegesprächen dagegen, von einem bloßen Gefängnisroman zu sprechen, obwohl ihr Buch auf gründlicher Recherche über das Gefängniswesen beruht. Moby Dick sei auch kein Roman über den Walfang. Sie wollte, nach ihren beiden ersten Romanen, die in den 1950er und 70er Jahren spielten, einen zeitgenössischen Roman schreiben. Das ist ihr glänzend gelungen, das Knastwesen bringt dabei die gesamtgesellschaftlichen Realitäten besonders grell zum Ausdruck. Kushner engagiert sich auch ehrenamtlich für Inhaftierte und unterstützt die Forderung nach mindestens Reform, wenn nicht Auflösung der Gefängnisse. Man erfährt aus ihrem Roman, was es heißt, von überarbeiteten und schlecht bezahlten Pflichtverteidigern vertreten zu werden, man lernt, dass Häftlinge vor Gerichtsterminen mit Psychopharmaka ruhiggestellt werden und so vor Gericht einen verwirrten und damit ungünstigen Eindruck machen, dass Entlastungszeugen schon deshalb nicht angehört werden, weil gegen sie in einem anderen Bundesstaat wegen Verkehrsdelikten ermittelt wird. Die Gewaltförmigkeit des politischen Systems und die mit ihr einhergehende Männergewalt setzen sich in der Gewalt der Frauen untereinander fort und richten sich ganz speziell gegen Transsexuelle, die die gewohnten Kategorien durcheinanderbringen. Bis in die winzigsten Details prägen Demütigung und Entrechtung den Alltag im Gefängnis. Eine „Mortimer-Portion“ bei der Essensausgabe etwa umfasst genau 1.400 Kalorien am Tag. Eine Insassin dieses Namens hatte eine Beschwerde wegen zu fetter Kost eingereicht, dessen Folge die systematische Minderernährung mit zynischem Verweis auf diese Beschwerde ist. Noch die kleinsten erfochtenen juristischen Siege zugunsten der Häftlinge können in Mittel der Schikane umgewandelt werden.
Das Baby, das das schwangere Mädchen bei der Ankunft im Frauengefängnis gebiert, darf es nicht einmal halten, es wird ihr sofort vom Gefängnispersonal weggenommen und der Fürsorge übergeben. Nach der offenen Rebellion der drei Mithäftlinge bildet sich eine Art Familie, mit dem schwarzen Transmann Conan als „Vater“, der Latina Sammy als Romys älterer sowie der jungen schwarzen Mutter als ihrer jüngeren „Schwester“. Romy kann sich unter dem Schutz dieser Ersatzfamilie im Knastalltag behaupten. Am Leben erhält sie die Sorge um ihren inzwischen siebenjährigen Sohn, bis ihr nach einigen Jahren endgültig das Sorgerecht entzogen wird.
Ein wichtiger Einwand wurde gegen Kushners Roman erhoben: Die Figur Romys, schreibt etwa die Rezensentin der London Review of Books, sei entweder ein Rätsel oder hätte einen nicht kohärenten Charakter, ihre Motive wären nicht immer erkennbar. Vor allem die Tatsache, dass sie gerne Bücher liest, scheint nur noch für Angehörige gebildeter Mittelklassen vorstellbar. Aber wieso sollten Häftlinge nicht in einzelnen Fällen, beispielsweise, Romanleser(innen) oder glänzende Schachspieler(innen) sein, oder fasziniert von Fragen der Astrophysik oder, von mir aus, der Vogelbeobachtung? Kushner selbst beschreibt Romy in Anlehnung an Michel Foucault als „obskure Figur, die nur durch ihre Konfrontation mit der Macht sichtbar wird.“ Lieblosigkeit im Elternhaus, Drogenerfahrung, sexueller Missbrauch und schließlich ein Beruf im prostitutionsnahen Gewerbe sind genügend Bedingungen, die den Totschlag ihres Stalkers im Affekt plausibel erscheinen lassen.
Die Aussage, dass die Vorliebe für Romanlektüre damit nicht kompatibel scheint, wirkt wie der Wunsch, dass Lesen vor der Unbill gesellschaftlicher Realität schütze, oder, schärfer formuliert, dass uns romanlesenden Bildungsbürger(inne)n dieses wunderbare Distinktionsmittel verlorengehen könnte. Ist nicht die Forderung nach kohärenten Charakteren selber letztlich der bürgerlichen Idealvorstellung der moralisch gefestigten Persönlichkeit geschuldet, die der Realität der strukturellen Gewalt, der institutionellen Grausamkeit, der männlichen Dominanz Stand halten möge?
Bei aller Schonungslosigkeit, mit der sich Kushner der (Knast)Realität zuwendet, besteht sie darauf, dass es kein politischer Roman sei – oder präziser: dass er keine politische Botschaft transportiere. Ebensowenig ist es ‚nur‘ ein feministischer Roman, sonst würde sich Kushner nicht die Mühe machen, die Perspektive der Figuren des Bösen, des Polizisten Doc und des Stalkers Kennedy, einzunehmen. Doc etwa respektiert, bei all seiner Verkommenheit, einen transsexuellen Mörder, dem er bei seiner Verlegung in den Frauenknast alles Gute wünscht. Auch Kennedy, der sich von der Lapdancerin Zuwendung erhofft, ist nicht bloß ein Stalker, sondern erscheint auch als armes Würstchen und als blinder Vollstrecker männlicher Macht gegenüber Romy, deren Opfer er wiederum wird, als er ihr zu nahe auf den Leib rückt. Der Lehrer Hauser ist ohnehin zu großer Empathie für die inhaftierten Frauen imstande und engagiert sich für sie. Selbst unter den einfachen Vollzugsbeamten gibt es eine weitere, uneingeschränkt positive Figur.
Der Roman ist in jedem Fall, bei allem nahezu dokumentarischen Realismus, bei all seiner politischen Schärfe – oder vielleicht gerade deshalb – ein hochmoralisches Werk, das sich auch vor großen Worten nicht scheut. Kushner selbst, die sich bei der Arbeit für dieses drastische Buch hunderte Stunden Filmmaterial angesehen hat, in dem Menschen andere Menschen mit Messern töten, scheut sich nicht zu sagen: „Ich habe die Arbeit an ‚Ich bin ein Schicksal‘ mit dem unerschütterlichen Glauben begonnen, dass tatsächlich jeder Einzelne von uns eine Seele besitzt.“ Und dass deren Kern durch nichts, auch bei Mörder(inne)n nicht, zu beschmutzen ist.
Nachdem die drei Frauen versucht haben, der Gebärenden in ihren Wehen beizustehen, gehen Romy in der Isolationshaft die Erinnerungen an die Geburt ihres eigenen Sohnes und seine fragenden Augen durch den Kopf: „Ich weinte auch und antwortete immer wieder: Ich bin da, ich bin ja da.“ Das steht für reine Präsenz oder, wie es gegen Ende heißt „Gegenwart, Gegenwart, Gegenwart. Das Leben bleibt immer Gegenwart.“ Diese Gegenwärtigkeit ist als Präsenz nicht reines An-sich-sein, das, wenn es sich seiner bewusst wird, zum Für-sich-sein wird, hegelianisch gesprochen, sondern zugleich Sein-für-andere. Noch mit den letzten Sätzen des Buches geht ihr durch den Kopf, dass sie ihrem Sohn das Leben geschenkt hat: „Das ist ein ziemlich großes Geschenk. Es ist das Gegenteil von Nichts. Und das Gegenteil von Nichts ist nicht Etwas. Es ist Alles.“
Diese letzten Worte des Buches über ein winziges Etwas, das zugleich alles, das ganze Leben umfasst, markieren die Differenz zu Sinnlosigkeit und Nihilismus, zu der die erschreckende Flüchtigkeit eines menschlichen Lebens mit all seinen brutalen und bitteren Zügen auch verleiten könnten. Mich erinnert dieses schlichte Fazit an das kürzeste und vielleicht schönste Liebesgedicht von Walter Helmut Fritz, einen kleinen Dreizeiler: „Die Ewigkeit mit einem Leben unterbrechen / Die gemeinsame Zeit nicht im Stich lassen. / Damit etwas entsteht, das es gegeben hat.“ Um dieses kleine Etwas geht es.
Dazu gehört auch das solidarische Handeln. Eine der Todeskandidatinnen im Frauengefängnis hatte einst, von Drogen zugedröhnt, ein kleines Mädchen erstochen und betet jetzt täglich in ihrer Zelle an einem selbstgebastelten Altar für das Mädchen. Als sie ihre Hinrichtungspapiere erhält, kann sie zwischen Gas und Spritze wählen, ihre Schicksalsgenossinnen, selbst die Wärter weinen am Tag der Exekution. Ihre Mitgefangenen schalten aus Protest die Lichter aus und verweigern das Essen. Auch stille Gesten können eine Tat sein.
Ernst Bloch setzte seinen in der Überschrift zitierten Aphorismus „Ich bin. Aber ich habe mich nicht“ fort mit der Behauptung oder Aufforderung „Darum werden wir erst.“ Das bedeutet für ihn, dass wir erst im solidarischen Miteinander Menschen werden können. Kushners Roman, der so unerbittlich die politische und soziale Realität in den Blick nimmt, zeigt auch, wie ihr standzuhalten ist – das hat dann mit dem Verweis auf ein Schicksal nichts mehr zu tun.
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