Von Abba bis Zappa

Gegenwart und Archiv in Popliteratur und -Musik

Von Sebastian BerlichRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sebastian Berlich

Zugegeben: Die seit nunmehr rund 20 Jahren grassierende Rede vom Ende der Popliteratur mit den seit etwa zehn Jahren wieder heiß gewordenen Debatten um das langsame Ende von Pop in endlosen Retroschleifen zu verbinden, überrascht in etwa so sehr, wie einst die in der Theorie gezogenen Analogien zwischen Pop-Musik und Popliteratur. Besichtigt man jedoch erneut all jene Aufsätze, die besonders gerne das Schreiben von Rainald Goetz, Thomas Meinecke und Benjamin von Stuckrad-Barre mit der Inszenierung von Pop-Musiker_innen, Musik als innerdiegetischem Mittel der Identitätskonstruktion oder auch formalen Kriterien von Pop-Songs in Verbindung brachten, sind diese nach wie vor stichhaltig und erfahren in Projekten wie Innokentij Kreknins Studien zu den Poetiken des Selbst derzeit lohnende Aktualisierungen.

Zumal auch die historische Herleitung der Popliteratur über den New Journalism und seine Fortsetzung im Popjournalismus der 1980er Jahre die Auseinandersetzung mit Gegenwart über Pop-Musik erklären und Pop-Musik sich ohnehin stets in ähnlichen Paradigmen bewegte wie diese spezielle Form der Gegenwartsliteratur. Archivierung, das Interesse an der Gegenwart, Intensitäten und ein Pop-Subjekt, das sich über konkrete Setzungen definiert, all das bringt Pop-Musik mit und lässt sich in literarischen Texten hervorragend über Pop-Musik leisten. Das lässt sich sowohl für Pop I als auch Pop II, also jenen von Diedrich Diederichsen postulierten Pop-Epochen, feststellen, wenn auch mit Verschiebungen: Während die Popliteratur zu Beginn noch Verfahren der Avantgarde anwenden musste, um ihr Projekt zu realisieren, genügten ab den 1990er Jahren hierzu realistische Erzählverfahren. Dadurch kann sich, in vereinfachter Historisierung, in der Tat der Eindruck verstärken, es hier mit einem Ende der Popliteratur zu tun zu haben: Ihr Anliegen ist umgesetzt, sie ist bei sich selbst angekommen und steht nun konsumerabel bereit.

Im Zuge der Ablehnung durch das Feuilleton und die Kanonisierung durch die Germanistik um die Jahrtausendwende mehrte sich dieser Eindruck jedenfalls. In eben jenem Zeitraum schufen einschlägige Autor_innen zwar weiterhin Texte, vor allem Christian Krachts zweiter Roman 1979 gilt vielen jedoch heute als Fanal der Popliteratur – zeitlich passend zu jenen Thesen der folgenden Jahre, die Pop ab diesem Zeitpunkt in seiner Gesamtheit am Ende sehen. Umso erstaunlicher, dass in den Feuilletons im Laufe der 2010er Jahre doch immer wieder von Popliteratur die Rede ist – nicht nur, wenn alte Namen auftauchen (Kracht, Goetz) oder neue Namen alte Knöpfe drücken (Helena Hegemann, Charlotte Roche), sondern vor allem, wenn Pop-Musiker_innen plötzlich ins Fach der Literatur wechseln. Zunächst scheint diese Querverbindung ebenso unbeholfen wie jene zwischen Popliteratur und Pop-Musik in den 1990er Jahren: Wieso sollte denn nun die Literatur von Pop-Musikern automatisch Popliteratur sein?

Der vorliegende Text möchte dieser Spur nachgehen, um unter neuen Vorzeichen über das Verhältnis von Popliteratur und Pop-Musik zu sprechen. Dabei soll die Rede von der ‚Retromania‘ des Pop ebenso Thema sein wie jenes eben angesprochene, feuilletonistische Phänomen: Gefragt werden soll danach, welche Rolle Musik in dieser jüngsten Popliteratur übernimmt, welche medialen Interferenzen sich dabei ergeben, wie Diskurse um Pop in der Literatur verhandelt werden und welche Rolle bei diesem Schreiben die Kategorie der ‚Persona‘ spielt.

Die Texte, die hier besprochen werden, finden – so die mildere Variante der These einer Zäsur – in einer neuen Pop-Epoche statt, für die es verschiedene Theoretisierungskonzepte und Namen gibt: Eine Tagung in Wien schlug 2014 „Pop III“ vor und fuhr die Schlagwörter „Akademisierung, Musealisierung, Retro“ auf, Jörg Scheller variierte Diederichsens Periodisierung in einem 2017 erschienen Essay grundlegender, labelte die aktuelle Phase als „Pop IV“, eine Zeit des Übergang eines als neue Hochkultur etablierten Pop in einen fortgeschrittenen Zustand der Musealisierung und Professionalisierung. Bisweilen ist auch von einem ‚Danach‘ die Rede, von ‚After Pop‘ oder ‚Post Pop‘ – sie alle ziehen jedoch ähnliche Schlüsse, die der britische Poptheoretiker Simon Reynolds mit seinem 2011 erschienen Buch Retromania nicht nur auf einen sprechenden Begriff, sondern auch in einen breiteren, feuilletonistischen Diskurs brachte.

Reynolds Thesen beziehen sich vor allem auf Pop-Musik, er argumentiert vor biografischem Hintergrund und aus einem durchaus soziologischen wie technizistischen Interesse heraus, dass das Archiv des Pop zu groß, durch Neuerungen wie YouTube zudem zu präsent geworden und zugleich kaum geordnet sei. Statt Innovationen habe man es ab den 2000er Jahren im Grunde nur noch mit reinen, unmarkierten Retrophänomenen zu tun: The Hives und The Vines beerben den Garage Punk der 1970er Jahre, Amy Winehouse und Adele den Soul der 1960er. Rave war, verbunden mit der entsprechenden technischen Neuerung, die letzte Pop-Utopie, von nun an herrscht Recycling. In den Analysen durchaus zutreffend, sind Reynolds zugespitzte Thesen und Prognosen für die Zukunft der Popkultur zu Recht im internationalen Diskurs kritisiert worden. Das populäre, kulturkritische Urteil des „Früher war alles besser“ hat, ironischerweise, dennoch durch ihn renommiertes Futter erhalten. Beide Formen der Rezeption, ebenso wie eine noch immer fehlende, umfassende Beschreibung der Auswirkungen des Archivs auf die Gegenwart und die ihr innewohnenden Möglichkeitsräume, haben dafür gesorgt, ‚Retromania‘ als Diagnose zumindest latent in der Schwebe zu halten.

Kaum eine deutschsprachige Publikation hat diese Latenz in den vergangenen Jahren aktiviert und derartige Reaktionen hervorgerufen wie das nach Soloalbum im Grunde erst zweite eigenständige, nicht kompilierte Buch des Pop-Posterboys Benjamin von Stuckrad-Barre. „Panikherz heißt das Buch – und es markiert wohl nicht weniger als das Ende dessen, was wir Popliteratur nennen“, schrieb dazu Florian Illies, mit seinem Roman Generation Golf selbst einst kurz unter Pop-Verdacht geraten, in der Wochenzeitung Die Zeit und fing damit prägnant den diskursiven Horizont dieses Buches ein. Seine Argumentation zielt vor allem darauf, wie der Autor mit den Immunisierungsmitteln des Pop sich selbst sowie seine Biografie seziert und damit letzten Endes unter die ‚coole‘ Oberfläche dringt.

Tatsächlich erzählt Panikherz in weiten Teilen Ausschnitte aus dem Leben des Autors, das Buch ist jedoch zu Recht nicht als Autobiografie gelabelt: Zum einen sind auch diese Ausschnitte durchzogen von klarer Selektion und nicht nur von Pop durchdrungen, weil Udo Lindenberg hier eine ähnliche Leitmotiv-Funktion einnimmt wie Oasis in den 1990ern, zum anderen spielt eine zweite Ebene des Buches im Jahr 2015, als Benjamin von Stuckrad-Barre im popkulturell vorbelasteten Chateau Marmont absteigt, um dort eben jenes Buch zu schreiben. In den dort angesiedelten Passagen widmet er sich dementsprechend vor allem der popkulturellen Gegenwart. Bei Lesungen spielt der Autor mit Kategorien wie „Bildungsroman“, „Sachbuch“ oder „Autobiografie“, gerade wegen dieses Spiels mit Fiktion und Autobiografie scheint die Kategorie der Autofiktion hier jedoch am ehesten zuzutreffen.

Freilich lebten alle Publikationen des Autors von diesem Spannungsverhältnis, seien es Texte wie Soloalbum oder Livealbum, die tendenziell fiktional verfahren, aber auf die Lebensrealität des Autors verweisen, oder Texte aus Sammlungen wie Remix oder Deutsches Theater, die zuvor in der Regel journalistisch publiziert wurden und mit den Insignien des New Journalism spielen. Musik spielt dabei sowohl in der Vermarktung als auch innerhalb der Texte eine wichtige Rolle, nicht nur in der Vermessung der Gegenwart, sondern auch in der Erfassung einer historischen Dimension, wie das Projekt Autodiscographie. Balladen vom äusseren Leben nahelegt: Die 2003 erschienene Mix-CD kompiliert Lieder von The Velvet Underground und Manfred Krug über Die Regierung und Pavement bis zu einer Kindheitsaufnahme von Stuckrad-Barres, im Booklet folgen weitere dokumentarische Fotografien in Zusammenhang mit Kindheit und Pop sowie ein einleitender Text, der auf eine Kindheitserinnerung Bezug nimmt.

Es geht in Panikherz um diese Kindheit, um das Leben als Pop-Star, um die damit verbundenen Exzesse und die wiederum daraus resultierende Sucht, ähnlich wie in Soloalbum geht es jedoch auch um eine essayistische Erfassung der Umgebung und eine Durchmischung von traditionellem Plot und abschweifender Beobachtung. Wie angedeutet steht Lindenbergs Diskografie Pate für die einzelnen Kapitelüberschriften, zudem tritt der Musiker als Figur innerhalb des Textes auf, als eine Art Mentor, während seine Musik vor allem als Folie dient, um das eigene Leben als Pop-Biografie erzählbar zu machen: erfolgreicher Start, gesundheitlicher wie kreativer Karriereknick, späte Rückbesinnung und Rehabilitation. Waren Oasis in Soloalbum entferntes Objekt der Begierde, ihre Musik Mittel zur Distinktion und ihr Konzert am Ende des Romans Sinnbild für das Opfern der Geschichte zugunsten der Intensität des Moments, macht Lindenberg die historische Dimension von Pop ebenso wie die des Pop-Subjekts ‚Benjamin von Stuckrad-Barre‘ spürbar.

Bereits an dieser Stelle könnte die Retromanie-Flagge gehisst und Illies recht gegeben werden, wäre nicht ein Roman etwas dürftig, um diese These festzumachen, und zudem der Modus der Vergegenwärtigung bereits in Eckhard Schumachers Konzeption von Popliteratur und eben jenem Diktum der Gegenwart vorgesehen. Es braucht ein naives Verständnis von Gegenwart im Pop, um auch nur Oasis mitsamt all ihrer Anleihen an die britische Rockmusik der 1960er Jahre eine reine Gegenwart zuzusprechen – Schumacher hatte diesen Umstand in einer 2015 verfassten Replik auf Reynolds verdeutlicht, indem er symbolisch auf die pophistorische Dimension des Diktums „Be Here Now“ verwies. Diesem Ansatz folgend verhält sich die Gegenwart stets zur Pop-Geschichte, vergegenwärtigt sie, und richtet sich in die Zukunft mit ihren Versprechen, also den eröffneten Möglichkeitsräumen.

In der Tat greift auch die Polemik, von Stuckrad-Barre kehre von seiner Oberflächenbetrachtung komplett ab in einen Modus der Historizität und finde dabei zu einer Art neuer Innerlichkeit, zu kurz: Wenn Panikherz die Vergangenheit besichtigt, dann noch immer im Modus der Paradigmenbildung, getrieben von der Frage nach der Richtigkeit eines F. Scott Fitzgerald zugeschriebenen Zitats, demzufolge es in amerikanischen Leben keinen zweiten Akt gäbe. Das Buch dreht sich also um die im Rahmen des eigenen biografischen Projekts kulturdiagnostisch gestellte Frage nach der Geschlossenheit der eigenen Geschichte, nach der Möglichkeit des Alterns im Pop und der Chance auf fundamentalen Wandel. Adressiert wird diese an unterschiedlichste Personen – aus früheren Generationen (Thomas Gottschalk, Brian Wilson), späteren (James Franco, Lana del Rey) oder eben derjenigen des Protagonisten (Markus Zimmer, Kurt Cobain).

Vor diesem Hintergrund lassen sich auch zwei Konzerte lesen, die aktiv auf Soloalbum und die dort aufgestellte Sphäre akzeptabler Pop-Musik nicht nur verweisen, sondern den auch innerhalb des Romans verhandelten „Battle Of Britpop“ zwischen den Bands Blur und Oasis aktualisieren. Nach etwa einem Drittel Panikherz besucht der Protagonist einen Auftritt der Band Noel Gallagher’s High Flying Birds, ein Projekt des Oasis-Songwriters Noel Gallagher. Dessen Inszenierung scheitert, vermutlich, weil ohne seinen Bruder Liam Gallagher zwar die Musik da ist, aber der Pop fehlt, und zwar auf allen Ebenen. Das Publikum ist in einer anderen Lebensphase, das Konzert findet in einem Theater statt, von der Emphase ist weder auf noch vor der Bühne etwas zu spüren. Es handelt sich bei den High Flying Birds um ein restauratives Projekt, eine Revivalband, während sich das Ideal ‚Oasis‘ aufgelöst hat, um sich aus der Zeit zu stehlen, in eine absolute Gegenwart, der der Blick zurück nichts anhaben kann. Um eben den geht es hier, und wenn von Stuckrad-Barre das Publikum als „sprichwörtlich[] gleichsam mit dem Künstler alternd[]“ bezeichnet, ruft er jene Form von Rock-Nostalgie-Floskeln seitens Fans, Band und Presse auf, die er 20 Jahre zuvor in seinem per Remix kanonisierten Text Rolling Stones karikiert hatte. Diese eigene Zeit der jugendlichen Rebellion ist unmittelbar zuvor in Panikherz aufgeflackert, mitsamt Oasis-Bezug: Der Protagonist erzählt von der erfolgreich anlaufenden Promotion seines Romandebüts, seiner durch Harald Schmidt diagnostizierten stereotypen Rolle als Medienperson und dem Umstand, wie er die Werbekampagne zu einer Oasis-B-Seiten-Sammlung kaperte. Der Blick zurück in die Gegenwart verläuft über die „nostalgisierende Leuchtreklame“ über dem Theater – was bleibt, ist ein schulterzuckendes „been there then“ statt eines euphorischen „be here now“.

Es bleibt jedoch nicht bei dieser Option: 14 Seiten vor Ende des Romans besucht der Protagonist ein Konzert der wiedervereinigten Band Blur, die von einer „Neonröhren-Eistüte“ angekündigt werden, dem Cover ihres zu diesem Zeitpunkt aktuellen Album The Magic Whip entliehen. Ab dem Moment, in dem Frontmann Damon Albarn die Bühne betritt, sind es die Gesten, die Kleidung, die den Protagonisten begeistern – hier ist es magisch, hier vermag es die Intensität von Pop, verkörpert durch Albarn, abgedroschene Klischees in die Gegenwart zu holen und emphatisch aufzuladen. Auf den vorherigen Seiten hat sich der Protagonist während einer Elvis Costello-Lesung im digitalen Dispositiv der Gegenwartsaufzeichnung verloren, die Tücken der Nostalgie während eines Screenings von Psycho verdeutlicht und damit die Probleme von Vergegenwärtigung ebenso wie der Wahrnehmung von Gegenwart im Pop beschrieben. Blur führen hingegen die Möglichkeit einer geglückten Vergegenwärtigung vor, nicht nur innerdiegetisch, sondern auch für den Text selbst.

Wie Albarn den Blur-Song Tender in die Gegenwart bringt, so schreitet auch der Text nicht in die Vergangenheit, sondern ruft diese lediglich auf, um sie auf ihre aktuelle Verfasstheit abzuklopfen. Das ist keine ‚Retromania‘, sondern im Gegenteil die Untersuchung potenziell retromanischer Phänomene, die zwar die Vergangenheit des Pop-Subjekts aufrufen, mit den Setzungen, die es im Paradigma Pop vorgenommen hat, diese jedoch nicht nostalgisch besichtigt, sondern im Präsens untersucht, auch auf ihre Versprechen für die Zukunft hin. Von einzelnen Figuren fordert der Text dies sogar explizit ein, etwa von Bret Easton Ellis, der endlich mit den Podcasts aufhören und wieder einen dieser Romane schreiben solle, die die Gegenwart erklären.

Dem Altern stand von Stuckrad-Barre in seinem Frühwerk, gelinde gesagt, kritischer gegenüber. In Panikherz wird auch ein Lindenberg-Interview erinnert, das hämisch mit dem damals strauchelnden Künstler umging und dessen Resultat womöglich – zumindest aber ein in ähnlichem Geist entstandener Text – in Remix erfasst ist. Dabei interessiert den jungen Autor zu dieser Zeit nicht nur die Möglichkeit des Verrisses, sondern generell die Frage nach dem Altern. Unter dem Stichwort „Re-Modeling“ diskutiert so auch das „popkulturelle Quintett“, bestehend aus von Stuckrad-Barre, Alexander von Schönburg, Eckhart Nickel, Christian Kracht und dem herausgebenden Joachim Bessing, im vieldiskutierten Gesprächsprotokoll Tristesse Royale am Ende des Jahrtausends über die Möglichkeit, sich als Band neu zu erfinden. Aufhänger ist ist die Hannoveraner Rockband Scorpions, die sich anlässlich des damals aktuellen Albums an elektronischen Elementen und einem neuen, von Bands wie Metallica bereits erprobten Style versucht. Vor allem aber stellt von Stuckrad-Barre hier eine elementare Pop-Frage: „Ist das Verrat, oder ist das die Aufgabe eines Künstlers, sich anzupassen, zu re-modeln?“

Diese Frage berührt den Bereich serieller Produktionen, der in der Forschung über Pop zu selten diskutiert wird, und das ihm innewohnende Problem der Balance zwischen Ordnung und Innovation, das Umberto Eco 1983 in einem Aufsatz benennt. Pop-Musik selbst hat diesen Bereich, die Stelle aus Tristesse Royale legt es nahe, bereits als solches erkannt und verschiedene Konzepte zur Bewältigung entwickelt: Die endlos wandelbaren David Bowie und Madonna werden im Lauf des Gesprächs etwa gelobt, zur Wahl steht aber auch der Weg eines Udo Lindenberg, das unerschütterliche Weitermachen der Rolling Stones oder AC/DCs sowie das frühe Ende – durch Drogentod (Nirvana, Jimi Hendrix) oder Streitigkeiten (The Smiths).

Im weiteren Verlauf dieses Textes soll es nun um die Antworten gehen, die zentrale Protagonisten der Hamburger Schule auf diese Frage jüngst im Schreiben von Literatur gefunden haben. Die gebräuchliche Bezeichnung für dieses stilistisch, zeitlich und ideell verwandte, aber doch eher lose assoziierte Genre lautet Diskursrock und verrät den Anteil, den die Szene am Diskurs um die Konditionen von Pop in Deutschland hatte. Dabei knüpfen sie an die späten 1970er/frühen 1980er Jahre an, als Magazine wie Sounds oder Spex und die subkulturelle Phase der Neuen Deutschen Welle zu einer neuen Form von Pop finden und dabei auch mit der zeitgenössischen Popliteratur interagieren. Nicht nur aufgrund dieser Genealogie steht die Hamburger Schule der Literatur nahe: Ihre eigenen Lyrics verweisen auf Hochliteratur, zudem werden sie in der Rezeption für ihre Literarizität gelobt und finden letzten Endes sogar Eingang in die germanistische Forschung.

Nun hat 2019 Dirk von Lowtzow, Sänger und Gitarrist der Band Tocotronic, nach Frank Spilker (Die Sterne) und Jochen Distelmeyer (Blumfeld) als letzter Frontmann einer der drei kanonischen Hamburger-Schule-Bands, sein Prosadebüt veröffentlicht. Bereits formal erinnert Aus dem Dachsbau an die Kulturform Album im Gegensatz zu den klassischen Romanen der beiden Kollegen: In alphabetisch sortierten Miniaturen wagt sich von Lowtzow an ein autofiktionales Projekt, das wiederholt von Zeichnungen, Fotografien, Lyrik, Huldigungen und Tagträumereien durchzogen wird, dessen Anekdoten zwischen Schlüsselereignissen und Trivialem schwanken, ohne dazwischen allzu scharfe Grenzen zu ziehen. Motive kehren wieder, essayistische oder simpel gehaltene Huldigungen reihen sich in die Geschichte einer Sozialisation ein, und Tiere wie der Operettenbär, Meisen oder der titelgebende Dachs korrespondieren nicht nur mit den Plüschtieren, die die Bühne seiner Band bei Konzerten zieren, sondern verleihen den Miniaturen zum Teil eine Nähe zum Magischen Realismus.

Dass dieses Buch diskursiv seltener in den Bereich der Popliteratur gerückt wird, im Gegensatz zu Distelmeyer, Spilker, aber auch anderen schreibenden Musikern wie Thees Uhlmann, erstaunt – womöglich geschah es bei zuvor debütierenden Autoren aus einer Unbeholfenheit oder ersten Assoziation heraus. Womöglich ist es auch das hier vorliegende Format, das erst gar nicht an Literatur denken lässt – dabei ist Aus dem Dachsbau nicht nur genau das, sondern bereits an der Oberfläche von Pop-Markern durchzogen. Von Lowtzow verweigert keine Markennamen, formal lassen sich zwischen den kurzen, kompilierten Texten mühelos Analogien zu pop-musikalischen Formaten ziehen, und auch die enzyklopädische Form ist im Diskurs um Popliteratur einschlägig. Womöglich liegt es auch daran, dass sich die Vorgänger mal direkt, mal indirekt gegen den „Vorwurf“ des Pop gewehrt haben.

Sowohl in Spilkers Roman als auch Jochen Distelmeyers Otis finden sich zumindest textintern Hinweise auf das Pop-Dispositiv: Das 2013 erschienene Es interessiert mich nicht, aber das kann ich nicht beweisen ist im Hamburger Kreativmilieu angesiedelt, berichtet von einer Existenz, die beruflich wie amourös den Bach runtergeht und schließlich die Flucht per Deutscher Bahn antritt. Quer durch Deutschland geht es in den Süden, was seit 1995 freilich unmöglich ist, ohne an Faserland zu gemahnen, zugleich jedoch – wie Moritz Baßler in einem jüngst veröffentlichten Aufsatz nahelegt – den Weg verkehrt, den Dirk von Lowtzow aus Offenburg nach Hamburg angetreten ist. Auch Spilker selbst war aus Bad Salzuflen nach Hamburg gezogen, eine Bewegung, die der Protagonist seines Romans nun paradigmatisch umdreht. Nicht nur in der Wahl des Mediums Buch, sondern auch inhaltlich steht damit eine Post-Pop-Lesart im Raum: Spilker ruft zwar die Marker des Pop auf, lässt diese jedoch hinter sich, ermüdet von dem urbanen Rollenspiel, geplagt also eben doch von einer Art der Depression, die Mark Fisher in seinem Buch Ghosts Of My Life, diskursiv in unmittelbarer Nachbarschaft von Reynolds ‚Retromania‘, entwirft.

Hierzu passt auch, dass Spilker zwar ein Kreativmilieu karikiert, dabei aber eben nie den Zugriff auf konkrete Referenzen einer extradiegetischen Gegenwart wagt, auch nicht in den Modus des Schlüsselromans wechselt, sondern lediglich vereinzelt vage Referenzen erfindet, wie den erfolgreichen Hamburger Sänger Cole oder die Band Surrealos aus Schweden, die jedoch eher wie Staffage wirken, um den Plot erzählen zu können. Setzungen sind es nicht, denn die Referenzen bieten kaum Platz für Distinktion und sie sind auch keine gespenstischen Hüllen, als die Leif Randt Elemente des angelsächsischen Pop-Paradigmas in seinem Roman Schimmernder Dunst über Coby County auftreten lässt. Bei Spilker ist formal nichts uncanny, es geht um den Protagonisten, sein Gefühl der Überforderung und Erschöpfung an einer skizzierten, aber wohl bekannten Gegenwart.

Auch Otis ist im urbanen Kreativmilieu angesiedelt und trägt bisweilen Züge einer Karikatur, verlässt seinen Spielort Berlin jedoch nicht und lässt sehr genau erkennen, welche Gegenwart hier gemeint ist, bisweilen auch durch die Mittel des Schlüsselromans. Eine Schlagzeile verortet den Roman über Christian Wulffs Abdanken als Bundespräsident im Frühjahr 2012, und auch darüber hinaus finden zahlreiche politische, historische, gesellschaftliche sowie kulturelle Themen Eingang in den Roman, der seine Intertextualität noch über Bezüge zu Homers Odyssee unterstreicht. Im Gegensatz zu Es interessiert mich nicht, aber das kann ich nicht beweisen ist dieser Roman auktorial erzählt, legt eine Verbindung zwischen Autor-Persona und Protagonist allerdings allein durch die Tatsache nahe, dass auch Tristan Funke an einem Roman namens ‚Otis‘ mit starken, wenn auch anders gelagerten Bezügen zur Odyssee schreibt. Dieser Roman im Roman bietet Grundlage für weitere Exkurse, die Otis auch nutzt, um Geschichten von Nebenfiguren oder zentraler Plätze der Hauptstadt, teils aber auch ihrer Stimmung zu folgen. Mancher Satz erinnert an die realistische Literatur des 19. Jahrhunderts, was den Roman sprachlich nicht nur aus dem Pop-Paradigma zu lösen scheint, sondern einen bildungsbürgerlichen Hintergrund stark betont.

Eben diese Inszenierung, der Flirt mit dem Prätentiösen und der lockere, teils fast banale Ton der Dialoge, der an Distelmeyers öffentlichen, betont relaxten Zungenschlag erinnert, lassen den Roman jedoch vor allem als weitere Pose einer Pop-Persona erscheinen, die für ihre Hingabe zu prekären Formaten wie Schlager (Old Nobody) oder Naturlyrik (Verbotene Früchte), ihren Sound und zugleich die Befähigung zum politischen Kommentar (Testament der Angst) bekannt ist. Ähnliches gilt für Es interessiert mich nicht, aber das kann ich nicht beweisen, dessen Titel sich umstandslos Spilkers Lyrics für Die Sterne anschließt und sich, wie gezeigt, auch inhaltlich im Pop-Paradigma bewegt, wenn auch weniger affirmativ als Distelmeyer.

Dass sich die Autoren damit nicht umstandslos unter dem Label ‚Popliteratur‘ fassen lassen wollen, hat sicher mit der allgemein schwammigen Definition des Genres zu tun, zugleich aber auch mit jenen Distinktionsbestrebungen, die in der Vergangenheit Die Sterne zu Dance-Pop und Blumfeld zum Schlager gebracht hatte und im Grunde ja bereits im Gedanken des Diskursrock als einem anderen, reflektierteren deutschsprachigen Pop angelegt war. Dass beide es nun überhaupt in das Feld der Literatur verschlagen hat, spricht für neue, sophisticatete Posen, wie sie Nadja Geer für den deutschsprachigen Pop-Diskurs ohnehin als konstitutiv erachtet.

Die deutsche Literaturkritik ist in beiden Fällen daran gescheitert, über diesen Umstand hinwegzukommen und sich neben dieser Inszenierung adäquat mit dem Schreiben zwischen Pop und Literatur zu beschäftigen, wie Thomas Böhm treffend in einem Artikel zu Otis festgehalten hat. Vor allem das immer wieder aufgerufene Klischee des Songschreibers, der eben noch lange kein Romancier sei, aktualisiert dabei alte Gräben zwischen high und low, die dem Feuilleton bereits im Umgang mit der Popliteratur der 1990er Probleme bereiteten. Der Eindruck, dass es sich bei Otis und Es interessiert mich nicht, aber das kann ich nicht beweisen um Werke im Rahmen serieller Äußerungen zweier Pop-Personae und seriöse Literatur zugleich handeln könnte, verhindert ernsthafte Auseinandersetzungen mit dem Werk.

Serielle Innovation ist nun gerade bei Tocotronic seit der Jahrtausendwende konstantes Thema, unterschwellig bereits, als sie auf K.O.O.K. ihren schrammeligen, von Grunge beeinflussten Gitarrenrock um elektronische Elemente und komplexere Strukturen bereicherten. Ab den 2010er Jahren rückt dabei auch der Aspekt des Alterns in den Vordergrund. Eine ausführliche Untersuchung dieses Komplexes gilt es noch zu verfassen, hier sei er jedoch in gebotener Kürze geschildert: Mit Schall & Wahn vollendeten Tocotronic 2010 nicht nur ihre sogenannte ‚Berlin-Trilogie‘, sie schlossen auch das Projekt immer kryptischer werdender Texte und, unter der Ägide des Produzenten Moses Schneiders, immer anspruchsvoller produzierter sowie komponierter Musik vorerst ab. Der bildungsbürgerliche Gestus, der diese Hi-Fi-Musik durchdringt, setzt sich in der veralteten Sprache fort, derer sich von Lowtzow hier bedient. Die ehedem eher durch Weinschorle und Michael Ende artikulierte studentische Pose findet ihre Erfüllung hier durch einen bei Faulkner entliehenen Titel und ein Blumenbouquet von de Rijke und de Rooji auf dem Cover, kurz: Sie arriviert in der E-Kultur.

Im Anschluss wird das Altern offen verhandelt: Wie wir leben wollen umfasst 2013 Themen wie Abstinenz, das Leben einer alternden Diva und das Nachgeben des Körpers und eröffnet nicht zuletzt mit den Zeilen: „Hey hey hey/Jetzt bin ich alt/hey hey hey/bald bin ich kalt“. Der ehedem emphatische Pop-Ausruf „Hey“ schallt hier sanft, zusätzlich von Hall aufgeweicht, durch Shoegaze-beeinflusste Sounds. Auf dem folgenden, unbetitelten „roten“ Album von 2015 wechselt die Perspektive. Programmatisch ein Album über die Liebe, verhandelt es jedoch vor allem jugendliches Aufwachsen (Die Erwachsenen), stellt textlich Naivität aus (in Zucker reimt von Lowtzow „hart“ auf „zart“) und bereitet mit den Stücken Ich öffne mich, Jungfernfahrt sowie Date mit Dirk auf verschiedenen Ebenen das autobiografische Projekt vor, das mit Die Unendlichkeit 2018 folgt.

Das Album, bisweilen von der Kritik als Rückkehr zur Eigentlichkeit missverstanden, erzählt mehr oder minder chronologisch, aber sehr episodisch die Geschichte vor allem von von Lowtzows Aufwachsen, von der „Schwarzwaldhölle“ über Hamburg nach Berlin, begleitet von je zu Stimmung oder Zeit passender Musik. Diese stilistische Bandbreite, die zu einer Segmentierung im Narrativ führt, erinnert an die Vielzahl von Verfahren, die auch Aus dem Dachsbau auszeichnet. Und auch auf Die Unendlichkeit bleiben die Autoren nicht vollends der Chronologie verpflichtet – an beiden Enden weicht die Platte auf, am Anfang wird mit der titelgebenden Unendlichkeit Bezug auf die eigene Endlichkeit genommen, die Konditionen des Erzählens reflektiert und ein ‚Du‘ adressiert, zu dem es eine Form intimer Verbindung gibt. Ob es sich dabei um eine persönliche Beziehung oder eine zwischen Fan und Star handelt, bleibt unklar. Ähnliches gilt für das Ende des Albums, als das vorletzte Lied Mein Morgen in den Futur wechselt, Science-Fiction-Sätze anklingen lässt, aber auch erneut das eigene Erzählen befragt, von „gefälschten Biografien“ spricht. Im gigantomanischen Finale Alles was ich immer wollte war alles weitet sich die zweite Person dann zu einem „Ihr“ aus, hier scheint innerhalb des Songs in der Tat der Sänger zu einem Publikum zu sprechen, als Rechtfertigung und Bitte, ihn nicht zu verlassen. Das zwischen diesen Polen entwickelte, autobiografische Projekt wird hier also entschieden erweitert, bisweilen fast sabotiert, rückt jedenfalls in den Bereich des Ambivalenten.

Aufgrund bereits beschriebener formaler Ähnlichkeiten, der grundlegenden thematischen sowie konkreten Überschneidungen liegt der Verdacht nahe, es handele sich im Fall von Aus dem Dachsbau lediglich um eine literarische Zweitverwertung dieses Projekts, eine Tilgung der Unklarheiten. Stattdessen treten beide Arbeiten in Dialog, wobei die Prosasammlung sich nicht darin erschöpft – zusätzlich steckt sie voller (musikalischer) Referenzen und Querverweise auf das eigene Schaffen. In einem anderen Text würde beides verschwimmen, hier entfalten die Tocotronic-Zitate eine andere Dimension. Um diese Beobachtung nachvollziehen zu können, sei ein kurzer Blick auf die Fremdzitate geworfen, welche eine ähnliche Funktion einnehmen wie in der klassischen Popliteratur: Sie werden genutzt, um eine Persona zu konstituieren, und in diesem Fall ähnlich wie bei Panikherz, eine Biografie zu eröffnen, ein Subjekt in der Pop-Geschichte zu verorten und in dieser Setzungen vorzunehmen. Auch diese haben jedoch unterschiedliche Gestalt: Reist der Protagonist als Teenager nach Hamburg, um Die Goldenen Zitronen zu treffen, hat das anekdotischen Charakter, wohingegen die Bands Darkstar oder Hüsker Dü anlassfrei gelobt werden, David Bowie zum stilistischen Vorbild erkoren wird und Abba die Textsammlung in Form einer Assoziation eröffnen darf.

Der erste Text ist nach der schwedischen Pop-Band benannt und verweist damit auf den enzyklopädischen Ausspruch „Von Abba bis Zappa“, der seinen Reiz nicht nur aus der Assonanz bezieht, sondern auch zwei Pole im klassischen 70er-Jahre-Pop benennt und damit den Eindruck umfassender Abbildung erweckt. In der Tat beginnt der Text als Kindheitserinnerung, driftet dann jedoch über eine jeden Morgen Abba hörende Figur ins Assoziieren ab, berichtet von den Versprechen dieser Musik und landet bei der Formel „ABBA. From A to B and back again.“, die nicht nur das eigene Verfahren thematisiert und an die wiederkehrenden Muster eines Liedes erinnert, sondern auch den Titel der Autobiografie Andy Warhols zitiert – das ist in jeder Hinsicht Pop, sowohl im Gegenstand als auch im Verfahren. Zugleich beschränkt sich von Lowtzow nicht auf ein Verharren im Pop – ganz im Sinne Leslie Fiedlers überschreitet er immer wieder die Grenzen zwischen high und low, im Anspruch der eigenen Texte, in ihrem Gehalt, aber auch in der eigenen Biografie, die zwischen Science-Fiction-Filmen und Thomas Bernhard, Barbie und Tagesschau, Cosima von Bonin und Coca-Cola (bevorzugt Zero) schwankt.

In dieses Geflecht aus Verweisen winden sich nun auch Eigenzitate, ebenfalls verschiedener Gestalt, wobei gerade Verweise auf Die Unendlichkeit häufig in Form einer bloßen Analogie des Erzählten zu finden sind – eine Ausnahme bilden hier jene Meisen, die im gleichnamigen Text einige Zeilen aus dem Song Bis uns das Licht vertreibt summen. Peter O’Toole hingegen erweitert die Erinnerung an die konservative Kleinstadt aus Hey Du, Alexander schlüsselt den Todesfall aus Unwiederbringlich auf, zudem schwingt in dem Text die Rocksozialisation aus Electric Guitar mit – zwischen etlichen weiteren Texten ließen sich derartige Bezüge herstellen. In den schlichten Modus des Lektüreschlüssels gerät von Lowtzow dabei jedoch nicht, wofür zusätzlich absurde Segmente wie eine Zeichnung führen, die unter dem Titel Unendlichkeit firmiert und von der Figur Daniel Dachs handelt.

Wie angesprochen kommen solche Bezüge hinzu, die tiefer in die Diskografie reichen: In Edeka schlüsseln zwei Sätze („Ein Junge sieht aus, wie ich mir Parzival vorstelle. Er kauft eine Literflasche Cherry Coke.“) zwei Zeilen aus dem Lied Zucker („Darling, Candy Parzival/Trinkst Cherry Cola aus dem Gral“) auf, in Free Hospital taucht eine variierte Zeile aus dem gleichnamigen Songs auf („In den Adern des Holzes glaubte ich Gesichter zu erkennen“), die zwei Texte weiter in Geburtstag erweitert wird („Das Muster, das mich unbeweglich umgibt“), zu den Liedern Revolution und Das Blut an meinen Händen gibt es als solche auch kenntlich gemachte Entstehungsgeschichten, hinzu treten Anekdoten aus der Geschichte der Band, die immer wieder abdriften, ins Assoziieren geraten; es ließe sich sagen: Die Prosa, die Geschichte offen halten, Anlässe zum Erzählen, zum Loben bieten und immer wieder auf die eigene Person, die eigene Geschichte rekurrieren. Zugleich knüpfen diese Rückbezüge neue Verbindungen in dieser Geschichte, sie reichern auch hier neue Bedeutungsebenen an.

Ein anders gelagertes Spannungsverhältnis zwischen Prosa, Fremdmaterial und eigener Musik repräsentiert die Verbindung zwischen Otis und dem ein Jahr später publizierten, zweiten Solo-Album Distelmeyers, Songs From The Bottom Vol. I. Bereits auf der Lesereise zum Roman spielte er wiederholt Coverversionen, die ihn beim Schreiben des Romans begleitet und inspiriert haben sollen. Die ein Jahr später erschienenen Aufnahmen sind qua dieses Überbaus mehr als eine Kompilation: Im Geist Kurator, in der Geste auteur, eignet er sich Songs an, die dem Mainstream entstammen, bereits durch Retroschleifen gejagt wurden (Let’s Stay Together findet sich auf dem Soundtrack zu Pulp Fiction) oder selbst dem Singer/Songwriter-Genre entstammen, in das Distelmeyer die Lieder mit Akustikgitarre überführt. Till Huber und Philipp Pabst haben die dadurch eröffneten Bezüge sowie die inszenierte Authentizität, vor allem in den zugehörigen Musikvideos, jüngst schlüssig in einem Aufsatz dargelegt und als Aktualisierung von Distelmeyers Wandeln zwischen Mainstream und Indie interpretiert – mit stärkerem Bezug auf Otis ließe sich ergänzen, dass die Veröffentlichung dieses Albums nicht nur zuvor nicht im Text angelegte, intertextuelle Bezüge eröffnet, sondern das hochkulturelle Werk noch tiefer in einem Pop-Paradigma verortet, noch dazu mit einem Album, auf dem Distelmeyer seine stets gelobte Arbeit als Songschreiber niederlegt und das obendrein die Serialisierung im Titel führt. Dieses Gefüge erschließt sich freilich nur, wenn die Rezeption sich auf ein Pop-typisches Spiel mit Zeichen einlässt, in dem das Schreiben ebenso wie das Verweigern des Schreibens immer auch selbst ästhetisch bewertbare Posen sind.

Nach dieser eher formalen Bestimmung soll nun zuletzt noch ein Blick darauf geworfen werden, welche Biografien Panikherz und Aus dem Dachsbau eigentlich erzählen. Beide Geschichten hängen eng mit dem ‚Rockstarleben‘ und dessen Konsequenzen im Altern zusammen. Popkulturell ist dieser Komplex einerseits über Abstinenzbewegungen wie straight edge, bis zum Ende überzeugte Konsumenten wie Lemmy oder eben die Variante des frühen Endes, sinnbildlich festgehalten im Club 27, erfasst. In Panikherz übernimmt letztere Rolle biografisch motiviert der bereits erwähnte The Bates-Sänger Markus Zimmer.

Er ist eine der Figuren, dessen Lebenslauf analog zu dem des Protagonisten verfolgt wird: Einen großen Teil des Romans nehmen dessen Rauschzustände ein, die um die Jahrtausendwende den Boulevardjournalismus und die Literatur von Stuckrad-Barre selbst fütterten. Beispiele finden sich bereits in Soloalbum: Beschrieben wird der Feierabend bei einem Musikmagazin, wenn über den Verkauf von CDs an Second-Hand-Händler wieder Geld in der Kasse ist: „Wir bestellten also Pizza und Koks, durchaus bei verschiedenen Lieferservice-Unternehmen!, und dann mal gucken, was eher da war. […] Immer über Rockmusik schreiben und mit abgehalfterten Musikern plaudern über neue Platten voller alter Ideen, und da ist es einfach so, daß es immer um die Orgie geht, zumindest bei so einem Blatt, und dann macht man das eben auch, gehört sich wohl so.“

In Panikherz erfährt dieser lapidar beschriebene Drogenkonsum eine detaillierte Wiederkehr: Hier ist weniger von einer Routine die Rede, stattdessen wird vom ersten Kokainkonsum mit einer Auszubildenden in der Redaktion des Rolling Stone erzählt, der vorherigen Aufregung und der sorgsamen Inszenierung – geschnieft wird das Koks etwa von einer Definitely Maybe- CD-Hülle. Was dann folgt, sind die Konsequenzen einer Sucht, mitsamt Isolation, mehrfachem Entzug und mehrfachen Rückfällen. Pop spielt dabei eine ambivalente Rolle, begleitet den Abstieg, in Form von Lindenberg jedoch auch den Weg in die Abstinenz – selbst wenn hier die Rolle der Familie als eher konservativem Konzept mindestens ebenso stark betont wird. Panikherz ist jedoch, die Ausführungen zu Beginn haben es nahegelegt, keine Abkehr von Pop, Rausch und Drogen, das unterstreichen auch die in Großbuchstaben abgedruckten Wörter, die weniger eine Wichtigkeit als von Stuckrad-Barres Intonation bei Lesungen verraten. Viel eher ist das Buch eine Erweiterung der klassischen, schnellen Pop-Varianten, ausgedehnt auf 564 Seiten und nach hinten nicht abgeschlossen. Innerhalb des Textes markiert das die Frage nach dem zweiten Akt, am Ende auch der Satz „Man muss aufpassen“, der eben nicht nach vollends gebannter Gefahr, sondern nach „to be continued“ klingt.

Rausch und Abstinenz sind auch in Aus dem Dachsbau wiederkehrende Themen, neben bizarren Tieren und dem verstorbenen Freund Alexander womöglich gar eines der dominantesten. Vorbereitet hatte dieses Thema bereits der 2013 publizierte Song Ich will für dich nüchtern bleiben, Aus dem Dachsbau erzählt nun auf verschiedenen Ebenen von immer weiter außer Kontrolle geratendem Alkoholkonsum. Zwei Akten handeln davon, wie von Lowtzow nach einem Festival betrunken auf einer Waldlichtung aufwacht und den Weg zurück in die Zivilisation finden muss (Festival und das nicht weniger programmatisch betitelte, zudem auf das Album Kapitulation verweisende Rekapitulation), in Exit ergreifen den Protagonisten beim Anblick von Bierdosenrändern gemischte Gefühle („Bei ihrem Anblick verspürte ich Scham und wurde durstig“) und Cosima berichtet unter anderem von zwei alkoholisierten Auftritten des Protagonisten, einen auf Cosima von Bonins Geburtstag, einen beim Musikfestival Rock am Ring.

Diese Situationen haben in der Regel mit einem Leben im Pop zu tun und rufen damit ebenfalls einen literarischen Bezugspunkt auf: 2000 erschien im Ventil Verlag die Textsammlung Wir könnten Freunde werden. Die Tocotronic-Tourtagebücher, verfasst von Tomte-Sänger Thees Uhlmann, der 1999 mit Tocotronic als Roadie auf Tour war. Parallel schrieb er für deren Webseite einen forlaufenden Tourbericht, der mit Blick auf die Nähe der Popliteratur zu Dokumentation und Journalismus ebenso wie der Nähe des Textes zur Liste, der Milieustudie und dem offensichtlichen Pop-Gegenstad bisher in der Forschung bemerkenswert unbemerkt geblieben ist. In der zeitgenössischen, feuilletonistischen Rezeption stand der fehlende Bezug zur Band, die hier ähnlich wie die emotionalen Auswirkungen technischer Probleme auf den Protagonisten teils zur Karikatur neigt, in der Kritik, heute erscheinen gerade diese Abweichungen von der Dokumentation, das Spiel mit dem Behind-The-Scenes-Authentizitätsversprechen und das Ausstellen des Lebens im Loop als Surplus des Buches. Nicht zuletzt berichtet aber auch Uhlmann unbekümmert von Alkoholexzessen, teils bis weit in die Nacht hinein, hier ereignen sich Gespräche über die Zukunft der Menschheit, intensive Momente der Verbrüderung, kurz: Rockmythen. Alles, die ganze Geschichte, spielt sich an diesen Abenden ab, die Tocotronic auch zu Rock am Ring führen. Die Auftritte werden in der Regel euphorisch gelobt, die Besprechungen teils auch kurzgehalten, und so heißt es zu diesem Konzert nach der Schilderung einer Schlagzeugpanne nüchtern: „Tocotronic kommen trotz der ganzen neuen Songs gut an. Es wird ein Mensch gesichtet, der schon Let There Be Rock mitsingen kann. Wir gehen mal davon aus, dass er verkabelt ist. Ansonsten keine weiteren Vorfälle.“

Über den späteren Auftritt bei Rock am Ring heißt es in Cosima: „Meine Hände zittern, und ich vergesse die Abläufe der Lieder. Der Auftritt gerät zum Desaster. Ich bin am Boden zerstört, aber Cosima ist sichtlich zufrieden.“ Der Alkoholkonsum wird in den Texten immer wieder als Belastung beschrieben, die beiden Texte Idiotentest und Ostkreuz verhandeln einen kleinen, aber alkoholisiert verursachten Unfall, der von Lowtzow erst den Führerschein kostet und dann zu besungener Nüchternheit führt. Es ließe sich nun sowohl diesem Läuterungsweg als auch dem in Panikherz geschilderten eine gewisse Nähe zum Bildungsroman unterstellen, würden die Texte nicht sowohl inhaltlich als auch formal davon abweichen. Nicht nur scheint sich der Protagonist in Panikherz stets im Kreis zu drehen, formal springt immer wieder mal mehr, mal weniger assoziativ die Gegenwart in die Erzählung, bricht sie auf und eröffnet alternative Wege.

Noch stärker gibt sich Aus dem Dachsbau dem Loop hin, verliert sich in den titelgebenden, an das Rhizom erinnernden Gängen des Dachsbaus, lässt Stränge fallen und greift sie wieder auf, findet zu Korrespondenzen zwischen Texten, die im Grunde wenig gemein haben. Motive wie der anvisierte Besuch bei der Band Die Goldenen Zitronen oder die Figur Alexander, ebenso jedoch die Supermarktkette Edeka oder Coca-Cola tauchen auf und verschwinden wieder. Erzählperspektiven, Tempus und Adressierung wechseln wiederholt, und allein dadurch wird die nostalgische Besichtigung der Vergangenheit gestört. Auch hier geht es um die Konditionen des Weitermachens, ganz im Sinne der Serie. Keineswegs kehrt lineare Entwicklungsgeschichte hier zurück, wie der Text Gun Club metareferentiell offenlegt: Der Protagonist besucht einen Film, der von einer Amazonasexpedition handelt, in deren Rahmen eine Pflanze, die das Universum heilen kann, gefunden werden soll. Der Text schließt mit dem lakonischen Satz „Alles hängt mit allem zusammen, denke ich, und schlafe im Kino ein.“

Auch hier schimmert freilich die Pose durch, die die Anekdote wiederum davor bewahrt, simpler Lektüreschlüssel zu sein. Pop setzt sich hier zu seinen Bedingungen mit der eigenen Geschichte auseinander, die im Fall der diskutierten Subjekte eben nicht mehr nur aus reiner Gegenwart besteht. Dabei von ‚Retromania‘ zu sprechen, griffe nicht nur zu kurz, es wäre ein Missverständnis, reflektieren die Texte doch eben jene gegenwärtigen Debatten des Pop-Diskurses. Dabei werden Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft teils ganz direkt adressiert und Pop-Musik nach den Möglichkeiten befragt, die historische Dimension eines Pop-Subjekts zu erfassen, wie im Fall von Panikherz oder Aus dem Dachsbau. Darüber erschließen sich dann auch neue Möglichkeiten der Verschaltung zwischen Musik und Literatur, neue Posen für die Pop-Persona und für die Texte selbst ein Umgang mit Geschichte, der nicht zwingend in einen Zustand vor der Popliteratur führt. Keineswegs ist die Popliteratur damit an ihr Ende gelangt – sie setzt sich unter neuen, weiterhin zu untersuchenden Bedingungen fort.

Literatur

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Luckscheiter, Christian: „An der Musik kann alles scheitern“ oder How to be a Dandy listening only to pop music? In: Tacke, Alexandra/Weyand, Björn (Hg.): Depressive Dandys. Spielformen der Dekadenz in der Pop-Moderne. Köln/Weimar/Wien 2009, S. 234–243.

Menke, André: Die Popliteratur nach ihrem Ende. Zur Prosa Meineckes, Schamonis, Krachts in den 2000er Jahren. Bochum 2010.

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Scheller, Jörg: Prop. Pop I-V und die Poptheorie als paradoxer Barbar. In: Pop. Kultur und Kritik (2016). H. 10, S. 110–131.

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